Ungehorsam gegen Lehrer? - ab ins Gefängnis!

USA: Staatsanwaltschaft erhebt Anklage gegen eine Jugendschutzbehörde, ein Jugendstrafgericht und die Polizei in Mississippi, weil sie eine "School-to-prison Pipeline" unterhalten haben

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Allein die Prügelstrafe mit den sogenannten Paddels ist barbarisch, im 21. Jahrhundert aus europäischer Sicht nur als überwundene finstere Phase zu begreifen. So ist man versucht, den Erfahrungsbericht einer 15-jährigen Austauschschülerin, gefunden in einem entsprechenden Forum, die in Texas infolge einer Auseinandersetzung mit Mitschülern von ihrem Schuldirektor - und später vom Vater der Gasteltern - mit einem Holzpaddel geschlagen wurde, für eine eher erfundene Geschichte zu halten, die möglicherweise bestimmte Phantasien ("nackter Hintern") bedient. Doch belehrt eine Nachricht vom 25. April dieses Jahres den Leser eines Besseren. Eltern eines Schülers im Bundesstaat Mississippi verklagten eine Schule, weil man ihrem Sohn dort eine Prügelstrafe mit einem Paddel angedeihen ließ, die ihm eine Ohmacht und einen gebrochenen Kiefer einbrachte.

Wie diese Paddel aussehen, dass die Löcher in ihrem Blatt dazu da sind, den Luftwiderstand beim Schlagen zu vermindern, um den Schmerz, der für diese Pädagogik wichtig ist, zu einer "gewollten Erfahrung" zu machen, und dass diese Pädagogik an amerikanischen Schulen in vielen (21) Staaten nicht nur erlaubt ist, sondern die Lehrer, die solches anwenden, gar geschützt werden, erfährt man zusammen mit vielen anschaulichen Beispielen in einem weit über 100 Seiten dicken Bericht von Human Rights Watch (A Violent Education) aus dem Jahr 2008.

In den Schuljahren 2006 und 2007 wurden 223.190 amerikanische Schüler mit Prügeln, Schlägen oder ähnlichen körperlichen Züchtigungen bestraft. In Texas und Mississippi werden Schüler regelmäßig für kleinere Vergehen, wie "Kaugummikauen oder Verstöße gegen die Schulkleiderordnung" mit dem Paddel gezüchtigt, heißt es in einem Bericht von USA Today aus dem Sommer 2008. Angefügt wurde die Information, dass es überwiegend schwarze und behinderte Kinder waren, die derart bestraft wurden. Die Gemeinschaft und viele Eltern würden diese Praxis unterstützen, wird der Vertreter einer Schulverwaltung in Georgia zitiert.

Die Strafpädogik, offensichtlich besonders in den Südstaaten verbreitet, kennt noch eine weitere Dimension, genannt "school-to-prison pipeline". Gemeint ist damit eine enge Verbindung zwischen Schulen und Gefängnissen, eine menschenrechtsverachtende "Versorgungspipeline", die ungehindert von Gerichtsverhandlungen, unparteiischen Richtern und anwaltlicher Vertretung, zwischen Klassenzimmern und Jugendbesserungsanstalten funktioniert.

Vorgeworfen wird ein solches System dem Jugendgericht des Lauderdale County im Bundesstaat Mississippi, der Polizei von Meridian, einer Stadt des genannten Bundesstaats und der Jugendhilfe dieser Stadt (Mississippi Division of Youth Services in Meridian) - so lauten die Adressaten eines Schreibens des US-Justizministeriums, das von ersten Ergebnissen einer staatsanwaltschaftlichen Ermittlung berichtet.

Diese brachten zutage, dass die genannten Behörden, bzw. Institutionen dabei "mitgeholfen" haben, eine school-to-prison pipeline zu betreiben, wodurch Kinder, die in örtlichen Schulen festgenommen wurden, in "einen Kreis aufeinanderfolgender Inhaftierungen gerieten, ohne dass ihnen substantielle und prozedurale Schutzrechte zugute kamen, die von der Verfassung der Vereinigten Staaten gefordert werden."

Konkret sieht die Vorgehensweise, die von den genannten Institutionen nicht ihrem Auftrag gemäß unterbunden, sondern mindestens mitgetragen, wenn nicht tatkräftig unterstützt wurde, nach Ausführungen eines ermittelnden Staatsanwalt so aus: die Schüler wurden mit Handschellen in der Schule festgenommen und tagelang eingesperrt, ohne Verhandlung; manche mussten mehr als 48 Stunden auf eine Anhörung warten; die Kinder machten Angaben zur Anklage, ohne dass sie auf ihre Miranda-Rechte hingewiesen oder dahingehend beraten wurden; dem Recht der Kinder auf einen Anwalt bei einem Jugendstrafprozess würde "nicht regelmäßig" Genüge getan.

Wie die Staatsanwaltschaft ermittelte, wurden die Schulkinder "regelmäßig und wiederholt" wegen kleinerer Vergehen hinter Gittern gesetzt, weil ihnen Verstöße gegen die Disziplin vorgeworfen wurden, unter anderem auch gegen die Kleiderordnung der Schule, "Ungehorsam" und dergleichen Vorwürfe, die sehr viel Interpretationspielraum haben und dadurch die Anhörung jeder Partei notwendig machen. Aus den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft:

The system established by the City of Meridian, Lauderdale County, and DYS to incarcerate children for school suspensions ‘shocks the conscience,’ resulting in the incarceration of children for alleged ‘offenses’ such as dress code violations, flatulence, profanity, and disrespect.

Das Schreiben der Staatsanwaltschaft stammt vom August dieses Jahres. Getan hat sich seither in Meridian zu wenig, nur dass die "verurteilten" Schüler nun in ein anderes Gefängnis gesteckt wurden. Als Reaktion darauf hat das Justizministerium, wie gestern bekannt wurde, die angedrohte Klage eingereicht.

im Visier der Strafmaßnahmen: Schwarze und Behinderte

Die Behandlung im Jugendgefängnis des Lauderdale Countys, wohin Schüler zuvor gesteckt wurden, werden als "schockierend unmenschlich" geschildert, schmutzig, eng und dazu die Aussicht auf weitere Schläge.

Die Gefängnisse und auch Jugendbesserungsanstalten in Mississippi sind immer wieder wegen Horror-Haftbedingungen ("chaotisch, gefährlich, hochgradig gewalttätig und sexualisiert"; "Prison staff had sex with incarcerated youth, which investigators called "among the worst that we've seen in any facility anywhere in the nation." ) in Schlagzeilen geraten, darunter vor allem solche, die von privaten Unternehmen geführt werden. Die Wahrscheinlichkeit in ein privat geführtes Gefängnis zu kommen, ist in Meridian groß.

Bestraft wurden in den allermeisten Fällen Schwarze und Behinderte ("The department’s investigation showed that students most affected by this system are African-American children and children with disabilities.").

Ein Einzelfall ist Meridian übrigens nicht. Wie aus der Arbeit eines Juristen hervorgeht, ist die "School-to-prison Pipeline" keine Erfindung dieses Ortes, sondern ein politisches Erziehungs- und Sanktions-Prinzip, das im Bundesstaat Mississippi weit verbreitet ist, aber auch in Texas, und das häufig von privat geführten Haftanstalten unterstützt wird. In die Zange genommen werden von dieser Nulltoleranz-Maschinierie vor allem die Ärmeren aus Familien mit wenig Bildungshintergrund, die schwarzen Minderheiten sowieso.