Erdogan: Von der Lichterscheinung zum Schattenmann

Die arabische Kritik an der türkischen Führung wächst

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Es ist nicht lange her, da erschien die Türkei des Recep Tayyeb Erdogan vielen Arabern als hochinteressantes Rollenmodell: Ein wirtschaftlich starker Staat mit islamisch geprägter Führung, die auf der Basis einer säkularen Verfassung agiert. Auch Ankaras außenpolitische Losung - "null Probleme mit den Nachbarstaaten" - versprach einen Respekt, den der Westen schmerzlich vermissen ließ. Inzwischen aber sind die arabischen Revolten ausgebrochen. Und das Bild hat sich entscheidend verändert.

Als das türkische Fährschiff "Mavi Marmara" 2010 versuchte, Hilfsgüter in den zuvor bombardierten und dann abgeriegelten Gazastreifen zu liefern, kannte der Jubel der Araber für die Türkei kaum Grenzen. Dass israelische Kommandos das Schiff enterten und dabei neun türkische Aktivisten ums Leben kamen, steigerte die Sympathien nur um ein Vielfaches.

Gerade die Vorfälle auf der "Mavi Marmara" aber leiteten im Prinzip bereits das Ende von Erdogans Triumphzug ein: So bellte dieser gen Israel, forderte offizielle Entschuldigungen und drohte mit Abbruch aller Beziehungen - heraus kam jedoch nichts. Respektive folgendes: Israel entschuldigte sich nicht, dafür aber stieg der Handel der Türkei mit Israel jährlich um 35 Prozent an.

Das Märchen von der friedlichen Außenpolitik

Auch die Losung von der friedlichen Außenpolitik entpuppte sich, wie Hussam Itani von der überregionalen Zeitung "Al Hayat" sagt, als "glatte Lüge." De facto tue die Türkei seit Ausbruch der arabischen Revolten nichts anderes, als sich einzumischen. In Tunesien, berichtet Ibrahim Kaboglu von der juristischen Fakultät der Universität Marmara, sei dies sogar geschehen, obgleich die Übergangsregierung im vergangenen Jahr Erdogan ausdrücklich ersucht habe, von seinem Staatsbesuch im September 2011 Abstand zu nehmen - man kämpfe noch zu sehr mit den Umwälzungen im Land.

Doch der Premier aus Ankara ignorierte dies nicht nur - seine Behörden ordneten gar noch an, die Straßen von Tunis mit seinen Porträts zu schmücken. Das sorgte freilich für Ressentiments. Noch mehr aber stieß Ankaras offenkundige Unterstützung der Muslimbrüder auf, die andere Fraktionen der fragilen Opposition von vorneherein abdrängte. Und das nicht allein in Tunesien.

Bereits im Oktober 2011 - und somit lange vor den ägyptischen Präsidentschaftswahlen - unterzeichnete Erdogans "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung" (AKP) demonstrativ ein Partnerschaftsabkommen mit der Partei der ägyptischen Muslimbrüder für "Freiheit und Gerechtigkeit".

Viele Araber irritierte dies. Sie hatten noch das Bild eines säkularen, für unterschiedlichste politische Diskurse offenen Staates im Hinterkopf. Der libanesische Journalist Fidaa Itani aber winkt ab: Das heutige Vorhaben Ankaras sei nicht mehr das Gleiche wie noch vor wenigen Jahren.

Statt die Nummer 10 in Europa will die Türkei nun die Nummer 1 im Mittleren Osten werden.

Missionarischer Neo-Osmanismus

Erdogan selbst schien dies auf dem vierten AKP-Kongress Ende September zu unterschreiben. Statt Europa zu erwähnen, salutierte er demonstrativ vor nahezu allen muslimischen Hauptstädten und vor Syriens Dissidenten. Darüberhinaus verwies er laufend auf die osmanische Vergangenheit und sah die Türkei als künftiges Leitbild für die islamische Welt.

Recep Tayyip Erdoğan Bild: Randam. Lizenz: CC BY-SA 2.0

Mustafa El-Labbad vom Kairoer "Al Sharq Center for Regional and Strategic Studies" hat da jedoch seine Zweifel. Seines Erachtens werden sich für die AKP die Schulterschlüsse mit den Muslimbrüdern kaum auszahlen. Diese würden viel eher nach Qatar blicken, das sie gleichfalls unterstützt, mit dessen salafistischem Islamverständnis sie aber weit mehr anfangen könnten, als mit dem sufistisch geprägten Islam Anatoliens.

El-Labbad glaubt denn auch nicht, dass für die Muslimbrüder eine säkulare Verfassung ernstlich zur Debatte steht. Vielmehr zielten sie auf die allmähliche Einführung der Scharia ab. Nun gibt es freilich unterschiedlichste Zweige der Bruderschaft und je nach Land verlief ihre Entwicklung anders.

Was aber Ägypten angeht, könnte El-Labbad Recht haben: Aktuell tobt dort ein Streit um das neue Grundgesetz, weil dieses Referenzen auf die Scharia enthält - und zwar ausgerechnet in Bezug auf die Rechte der Frau.

Hals über Kopf gen Damaskus

Über das Ausmaß des Einflusses, den die Türkei künftig auf die Muslimbrüder oder die gesamte Region ausüben wird, kann man momentan aber nur spekulieren. Worüber sich indes bereits alle Beobachter einig sind, ist, dass sich Erdogan in punkto Syrien verkalkuliert hat. In der Annahme, Baschar al-Assad würde ebenso schnell stürzen wie Hosni Mubarak oder Muammar Ghaddafi, hatte Erdogan rasch und lauthals erklärt, keine Massaker an Syriens Aufständischen zu dulden. Assad aber hielt sich und drohte seinerseits Ankara mit dem Anzetteln von kurdischen Aufständen auf türkischem Boden.

Erdogan zeigte sich derart beeindruckt, dass eine Reaktion auf den Abschuss eines türkischen Kampfflugzeugs durch die syrische Armee im Juni ausblieb. Dies freilich intensivierte den Eindruck, den er bereits im Zusammenhang mit der "Mavi Marmara" auf viele Araber hinterlassen hatte: den eines säbelrasselnden Hitzkopfs.

Auch angesichts des gegenwärtigen Nadelstichaustauschs zwischen Syrien und der Türkei erweist sich Erdogan als wenig souverän. Zwar ist offenkundig, dass er keinen Krieg ohne Rückendeckung des UN-Sicherheitsrates - die er vorerst nicht bekommen wird - lostreten will. Dennoch ließ er sich kürzlich vom türkischen Parlament durch die Verabschiedung eines Gesetzes, das eine Militärinvasion in Syrien ermöglicht, grünes Licht für alle Eventualitäten geben. Welche dies sein könnten, bleibt unklar - Erdogan selbst hat sie jedenfalls nie umrissen.

Und da es fast den Anschein erweckt, als kenne er sie selbst nicht, riskiert die Türkei in einen Krieg zu schlittern, den sie selbst nicht will und mit dem sie vor allem die internationale Aufmerksamkeit vom syrischen Freiheitskampf ablenken würde. Ein größeres Geschenk könnte sie dem Diktator in Damaskus nicht bereiten. Und den Syrern - wie auch den Bewohnern der Nachbarstaaten - keine herbere Enttäuschung. Denn die Wahrscheinlichkeit einer Konfliktausweitung in andere Regionen ist hoch.