"Im Prinzip übersteht man jede Therapie"

Gerichtspsychiater Hans-Ludwig Kröber über Sicherungsverwahrung, Therapierbarkeit und die Faszination am sogenannten Bösen

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Als Gerichtspsychiater beurteilt Hans-Ludwig Kröber unter anderem, ob Straftäter zurechnungsfähig sind und wie gefährlich sie in Zukunft sein werden. Der Leiter der Institut für Forensische Psychiatrie der Freien Universität Berlin ist in seiner Arbeit mit Abgründen konfrontiert, mit Sexualmord, Missbrauch, Wahnsinn und Perversion. Nun hat er ein Buch veröffentlicht, in dem er einige Fälle noch einmal erzählt: "Mord - Geschichten aus der Wirklichkeit".

Wer sein voyeuristisches Interesse bedienen will, ist mit diesem Buch nicht gut bedient. Diese Geschichten haben mit Krimi und "Mord als schöner Kunst betrachtet" nichts zu tun. Seinen Lesern rät Professor Kröber, sich auf ihre Anständigkeit nicht zu viel einzubilden: "Wir haben viel an Wünschen, Gefühlen und Gedanken mit den Tätern gemein."

Herr Professor Kröber, warum haben Sie dieses Buch geschrieben?

Hans-Ludwig Kröber: Im Lauf der Jahre bin ich immer wieder auf interessante Geschichten gestoßen, von denen leider zu wenig Menschen erfahren. Es geht mir um das Eigentümliche, darum, wie das Leben so spielt.

Das klingt ziemlich distanziert. Kann man etwas lernen aus diesen Geschichten aus der Wirklichkeit?

Hans-Ludwig Kröber: Da bin ich mir nicht sicher. Wir erzählen uns schließlich Geschichten, ohne dass wir immer eine Nutzanwendung zur Hand hätten, so wie wir uns Landschaften anschauen, ohne eine Lehre aus ihnen zu ziehen. Ich wollte gerade nichts Pädagogisches schreiben. Ursprünglich wollte der Verlag, dass ich ein populärwissenschaftliches Sachbuch über Forensik schreibe und darin erkläre, wie diese Fälle zu verstehen seien. Das habe ich abgelehnt. Ich will mit dem Buch vor allem verdeutlichen, wie widerständig die Wirklichkeit gegen schnelle Interpretationen ist, wie sich solche Vorgänge gegen einfache Erklärungen sperren.

In Ihrem Buch blättern Sie ein ziemlich übles Panorama auf. Da ist ein Mann, der im Abstand von 18 Jahren zwei Kinder ermordet. Eine Gruppe Männer prügelt ihre Gegner im Blutrausch tot. Zwei Freundinnen geben halb spielerisch den Mord am Ehemann der einen in Auftrag und kommen sich dabei völlig harmlos vor. Was hat Sie bei der Auswahl der Fälle geleitet?

Hans-Ludwig Kröber: Ich hatte natürlich sehr viel mehr Geschichten als Platz. Meine Auswahl war zum Teil willkürlich, andererseits wollte ich ungewöhnliche Konstellation beschreiben. Ich habe mich also für die Fälle entschieden, die mir selbst im Kopf oder im Bauch geblieben sind, die mich immer noch begleiten. Da ist zum Beispiel dieser Mann, der den perfekten Mord an seiner Ehefrau plant und dafür einen Sexualmord fingiert. Zu diesem Zweck hat er ein Metallgebiss gebaut, um seine Ehefrau an der Brust zu verletzen und so eine falsche Spur zu legen.

Die meisten Menschen würden niemals einen Mord begehen

Die Fälle sind authentisch. In Ihrem Vorwort nennen Sie sie auch "Geschichten aus der Verwandtschaft". Was haben wir mit den Mördern gemein?

Hans-Ludwig Kröber: Die meisten Menschen würden niemals einen Mord begehen. Durch unsere Erziehung, durch unsere Selbstdefinition sind wir gefeit davor. Andererseits sind die Mörder auch nicht die ganz anderen. Da liegt kein tiefer Graben zwischen uns, als ob wir die gesunde, empathische Gesellschaft wären und außerhalb dieser Gesellschaft stünden die Mörder. Sicher, viele spätere Straftäter nehmen früh eine dissoziale Entwicklung, verwahrlosen und werden beziehungsgestört. Weil sie viele Interaktionsformen gar nicht lernen, werden sie Einzelgänger. Solche Menschen sind in besonderem Maß gefährdet. Aber Mord kann auch aus in der "Mitte" der Gesellschaft kommen. Dann erweisen sich die braven Bürger aus der Vorstadt in ihren sauberen und schmucken Häuschen erweisen als Menschen, die sehr finstere Gedanken entwickeln – und teilweise in die Tat umsetzen.

Die Spielfilme und Zeitungen sind voll von Mord, Gewalt, Vergewaltigung. Jeder dritte Tatort handelt von Sexualmord. Das Böse fasziniert uns offenbar. Woher kommt diese Faszination?

Hans-Ludwig Kröber: Wir betreiben einen hohen Aufwand, um in Frieden zu leben, in sicheren, geordneten Verhältnissen, andererseits wissen wir um die Möglichkeit der Katastrophe. Die Polizeiszene im Tatort ist ja klassisch: Das Böse bricht in unser Leben ein. Das Reden über das sogenannte Böse ruft diese grundlegende Angst auf und beruhigt sie gleich wieder. Die Katastrophe, man könne zum Opfer eines Verbrechens werden, wird vorgeführt, ausgemalt und wieder aufgelöst.

Sie beschreiben in Ihrem Buch auch den Fall eines Sicherungsverwahrten, den Sie Siegfried nennen. Der ist in gewisser Weise ein tumber Tor, in seiner Gewaltausübung hemmungslos und gefährlich, besonders wenn er alkoholisiert ist, ansonsten kein übler Kerl. Sie haben ihm ein tendenziell positives Gutachten gegeben, unter anderem deshalb kam er in Freiheit – und wurde rückfällig.

Dass es schief ging, war nicht alleine Siegfrieds Schuld. Er musste sich eine Unterkunft auf dem freien Wohnungsmarkt besorgen und kam dadurch schnell in Geldnöte. Er war vielleicht leichtsinnig, aber er hat keine eigentlich kriminellen Entscheidungen getroffen. Wer aus dem Knast kommt, braucht Stützen. Es muss Strukturen geben, mit denen man hinreichend Druck und Kontrolle ausüben kann, dass sie sich an ihre Bewährungsauflagen halten. Andererseits dürfen sie nicht gleich mit der Situation in Freiheit überfordert werden.

Was soll man mit den Siegfrieds dieser Welt anfangen?

Hans-Ludwig Kröber: Wenn die Entlassenen in engmaschig kontrolliert werden und alle Beteiligten zusammenarbeiten, geht das. Seit der Entscheidung des Straßburger Gerichtshofs für Menschenrechte mussten viele aus der Sicherungsverwahrung entlassen werden. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass das geht, wenn die Entlassenen eingebunden werden in ein Netzwerk aus nachsorgender Ambulanz, Bewährungshilfe, teilweise auch der Kriminalpolizei.

Die Idee ist völlig abwegig, fünfzigjährige Männer mit über zwanzig Jahren Knasterfahrung in einer therapeutischen Zauberwerkstatt umzukrempeln

Dieser Siegfried fällt unter das neue "Therapieunterbringungsgesetz". Dass er in seinem Alter noch mal in psychologische Behandlung soll, empört ihn eigentlich am meisten. Aber auch viele Psychiater sind von diesem Gesetz überhaupt nicht begeistert. Warum?

Hans-Ludwig Kröber: Dieses Gesetz ist ein Etikettenschwindel. Weil der Europäische Gerichtshof die nachträgliche Sicherungsverwahrung, wie sie in Deutschland praktiziert wurde, kassiert hat, ist man auf den Ausweg verfallen, Straffälligkeit und Verbrechen unter das Etikett "psychisch gestört" zu fassen. Alle, von denen man eine Rückfallgefahr annimmt, werden für psychisch gestört erklärt: "Wir sperren die nicht ein, wir therapieren die!" Der Hintergrund ist, dass das Gericht die zwangsweise Unterbringung nur erlaubt, wenn die Betroffenen psychisch krank sind und therapiert werden. Für Straftaten ab dem 1. Januar 2011 ist die nachträgliche Verwahrung nicht mehr möglich, stattdessen die "Therapieunterbringung", die aber plus minus genau dasselbe ist.

Dass es dabei ums Therapieren ginge, ist ein Teil dieses Etikettenschwindels. Dazu muss man wissen, dass viele derjenigen, für die dieses Gesetz gemacht wurde, schon drei, vier, fünf Therapien hinter sich haben! Man übersteht im Prinzip jede Therapie, bleibt nur die Frage, ob sie das Verhalten ändert. Die Idee ist völlig abwegig, fünfzigjährige Männer mit über zwanzig Jahren Knasterfahrung in einer therapeutischen Zauberwerkstatt umzukrempeln. Und alle wissen das, auch die politisch Verantwortlichen.

Mittlerweile ist es kaum noch möglich, einen Wohnort für die aus der Sicherungsverwahrung Entlassenen zu finden, ohne dass es öffentliche Proteste der Anwohner gibt. Wie sehen Sie diese Entwicklung. Können Sie das verstehen?

Hans-Ludwig Kröber: Ich sehe das mit einem gewissen Zorn. Tatsächlich gibt es Möglichkeiten, mit den Entlassenen umzugehen; die Gefahr ist überschaubar. Der Staat muss Wohnmöglichkeiten für die Entlassenen finden, auch für entlassene Pädophile. Und das geht auch trotz Bürgerprotest, wenn man nur will. Aber weil sich niemand damit Wählerstimmen holt, wird das zu wenig versucht. Wenn die im Obdachlosenheim landen oder auf der Straße, ist das Risiko deutlich größer.

Was die Bürgerproteste angeht, ich kann das in gewisser Weise, in gewissem Umfang verstehen. Aber wenn man sich dann anschaut, wer an diesen Protestaktionen teilnimmt … Den Protestierern geht es darum, die eigene moralische Überlegenheit zur Schau zur stellen, die ich übrigens sehr fragwürdig finde. Die Gefahr, die von den Entlassenen ausgeht, ist in Wirklichkeit sehr überschaubar. Gerade wenn in einem Dorf wie in Insel ein einzelner Straftäter untergebracht wird, ist der völlig unter Kontrolle. Jeder, der keine abenteuerlichen Vorstellungen von irgendwelchen Monstern hat, die mordend und sengend durch die Gegend ziehen, weiß, dass da nichts passieren wird. In Berlin gibt es jetzt Protest gegen ein geplantes Heim für psychisch Kranke. Für so etwas habe ich kein Verständnis!

In den Haftanstalten herrscht überwiegend eine Käfighaltung und Isolation

Viele Therapeuten, die mit Sexualstraftätern arbeiten, resignieren nach einer Weile. Andererseits gelten viele dieser Täter als "therapieresistent". Wie sehen Sie das?

Hans-Ludwig Kröber: Das sind Klischees. In gewisser Weise steckt unser Wissen über Sexualstraftäter und deren optimale Behandlung immer noch in den Kinderschuhen. Natürlich sind viele Sexualstraftäter schlecht motiviert. Aber wenn Therapeuten dauerhaft auf Beton bohren, kann das schließlich auch daran liegen, dass da keine Tür ist! Die Therapien müssen besser werden. Es gibt interessante Ansätze, die letztlich alle darauf hinauslaufen, die Täter nicht ständig mit der Nase auf ihre Fehler zu stoßen, sondern stärker bei ihren Ressourcen und Fähigkeiten anzusetzen. Wir müssen sie fragen: "Wie stellst du dir ein gutes Leben vor – nicht ein Leben in Saus und Braus, sondern realistisch, im Rahmen deiner Möglichkeiten?" Und dann: "Was würdest du tun, um ein solches Leben zu erreichen?" Es muss in der Therapie um konstruktive Ziele gehen, nicht nur um Delikte und Risiken und Versuchungssituationen.

Wenn man sich in den Knästen umschaut, haben viele Insassen Gemeinsamkeiten. Sie kommen aus subproletarischen Verhältnissen, sind in Heimen aufgewachsen und früh in den Knast gekommen. Oft haben ihre Eltern ähnliche Erfahrungen gemacht. Sind diese Lebenswege nicht ein Beleg dafür, dass Gefängnis eben nicht "funktioniert"?

Hans-Ludwig Kröber: Das ist richtig. Aber es ist eben außerordentlich schwer, in diese Lebenswelten hinein kommen und präventiv etwas zu tun. Früher wurden Kinder konsequenter und härter mit der sogenannten freiwilligen Erziehungshilfe aus den Familien genommen. Das war auch nicht besser, die Kinder kamen in Heime. Um sich durchzusetzen, mussten sie sich dissozial profilieren. Es bräuchte eben bessere Kinderheime, das heißt vor allem kleinere Gruppen mit engeren und stabileren Beziehungen. Dafür fehlt Geld und gutes Personal.

Heute sagen wir: Wir müssen die Menschen in Haft sozusagen nach-sozialisieren. Und das klappt ja in begrenztem Umfang auch. Die Leute lernen in sozialtherapeutischen Wohngruppen, friedlich miteinander zu leben und sich an bestimmte Regeln zu halten. Diese Form von Haftvollzug als soziales Training gibt es viel zu selten. In den Haftanstalten herrscht überwiegend eine Käfighaltung und Isolation, weil das eben billiger ist und weniger Sicherheitsrisiken schafft.

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