Freizeitfundamentalisten wollen Wohnungsbau verhindern

Ein vollständiger Leerstand des Berliner Tempelhofgeländes würde einem neuen Gutachten zufolge erhebliche Energie- und Umweltkosten nach sich ziehen

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2008 nahm das Bundesland Berlin in Erwartung des neuen Willy-Brandt-Flughafens den Flughafen Tempelhof außer Betrieb. Trotz der Schuldenlast eines mittleren EU-Staates versteigerte die Senatsverwaltung das Flughafengelände nicht an Meistbietende, sondern verfolgte stattdessen Stadtentwicklungspläne aus den 1990er Jahren, als keine Landesbank-Rettung und keine Finanzkrise die Großmannsucht bremsten: Danach soll der größte Teil des Geländes als "Park der Luftbrücke" unbebaut bleiben. Die Flughafengebäude will man diesen Entwürfen zufolge nicht abreißen, sondern als Denkmal stehen lassen.

Weil manchen Berliner Wählern die Mieten zu hoch werden, sollen aber auf 95 Hektar am Rand der insgesamt 303 Hektar großen innerstädtischen Riesenwiese 4.600 Wohnungen und zusätzliche Gewerbebauten für 8.620 Arbeitsplätze entstehen. Doch Hundebesitzern, Sportfans, radikalen Naturschützern und grundsätzlichen Veränderungsgegnern ist selbst das zu viel. Sie haben die Bürgerinitiative 100 % Tempelhofer Feld ins Leben gerufen, die demnächst mit dem Sammeln von Unterschriften für ein Volksbegehren gegen den Wohnungsbau anfangen wollen.

Flughafen Tempelhof. Foto: Public Domain.

Ein nun bekannt gewordenes Gutachten mit dem Titel "Volkswirtschaftliche Auswirkungen eines Verzichts auf die Teilbebauung des Tempelhofer Flugfeldes" zeigt, dass ein vollständiges Belassen des Geländes als Wiese (wie es die Bürgerinitiative fordert) massive negative Folgen für Umwelt und Energieverbrauch haben würde. In der von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung in Auftrag gegebenen Studie beziffern der Leipziger Professor Harald Simons und zwei seiner Mitarbeiter den voraussichtlichen Schaden des Verzichts auf die Wohnungen und Büros in den nächsten 50 Jahren auf gut 362 Millionen Euro.

Simons kommt auf diese Summe, indem er durchrechnet, was passiert, wenn der absehbare Wohnungs- und Büroflächenbedarf statt im zentral gelegenen Tempelhof außerhalb des S-Bahn-Rings gedeckt wird. In diesem Fall würden jedes Jahr zusätzlich 40 Millionen Auto- und 46 Millionen Kilometer ÖPNV-Kilometer anfallen. Durch zusätzliche Verkehrsunfälle entstünde außerdem ein Schaden in Höhe von 1,3 Millionen Euro jährlich. Den für Gesundheit und Gebäude schädlichen Abgasausstoß bewertet Simons mit 4,8 Millionen Euro und das Mehr an Verkehrslärm schlägt bei ihm mit 3,2 Millionen Euro zu Buche. Demgegenüber sind die Kosten, wenn Berliner zur Freizeitgestaltung auf andere Freiflächen ausweichen müssen, mit etwa 64 Millionen Euro relativ gering.

Bei 100 % Tempelhofer Feld vermutet man, dass die von Simons ermittelten zusätzlichen Freizeitgestaltungskosten zu niedrig angesetzt sind, kann dies aber nicht mit konkreten Zahlen untermauern. Möglicherweise unterliegen die "Hundertprozenter" hier dem Irrtum, das Freizeitverhalten der eigenen sportbegeisterten Mitglieder mit dem einer Gesamtbevölkerung gleichzusetzen, die für einen Spaziergang nicht nach Brandenburg fahren muss (wie Initiativsprecher Hermann Barges dies suggeriert), sondern mit einem der zahllosen kleineren Parks vorlieb nehmen wird.

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