Es darf nichts kosten

Merkel will Griechenland im Euro halten, doch einen teuren Schuldenschnitt will sie unbedingt verhindern. Damit stürzt sie die Eurozone in eine neue Krise

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Eigentlich war die Griechenland-Krise schon abgehakt. Seit dem Staatsbesuch von Kanzlerin Angela Merkel in Athen Anfang Oktober hatten sich die Spekulationen um einen "Grexit" - den griechischen Exit aus dem Euro - gelegt. Schließlich hatte sich Merkel überraschend deutlich für einen Verbleib des Landes in der Währungsunion ausgesprochen. Plötzlich erklärte sogar Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble, der den Grexit immer wieder heraufbeschworen hatte, eine Pleite sei ausgeschlossen ("there will not be a Staatsbankrott")?

Doch nun ist die Krise wieder da, schlimmer und komplexer denn je. Erst wurde bekannt, dass die Sparziele verfehlt wurden: Statt wie von der internationalen Troika gefordert lag das Budgetdefizit im letzten Jahr in Griechenland nicht bei 7,6, sondern bei 8,5 Prozent der Wirtschaftsleistung. Dann sickerte durch, dass auch die Projektion für das Jahr 2020 falsch ist: Statt wie geplant bei 120 Prozent der Wirtschaftsleistung dürfte die Schuldenquote in acht Jahren bei rund 140 Prozent liegen.

Ohne einen Schuldenschnitt, so schlossen die Experten des IWF, werde Griechenland niemals wieder auf die Beine kommen. IWF-Chefin Christine Lagarde verkündete dies bereits bei der Jahrestagung in Tokio Mitte Oktober. Nun, zwei Wochen später, reift diese Erkenntnis endlich auch in der internationalen Troika, die neben dem IWF Vertreter von EU und EZB umfasst. In ihrem immer wieder herausgeschobenen Schlussbericht wollen die Experten, darunter zwei Deutsche, einen Verzicht der öffentlichen Gläubiger - sprich: der Steuerzahler - fordern.

Wahltaktische Motive?

Nach dem Schuldenschnitt der privaten Gläubiger (Banken, Versicherungen, Hedgefonds) im letzten Jahr wäre dies nur konsequent. Sogar Ex-Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann sprach sich am Montag für einen neuerlichen "Cut" aus. Doch ausgerechnet Deutschland stellt sich quer. Regierungssprecher Steffen Seibert verwies genau wie zuvor Finanzminister Schäuble darauf, dass Deutschland Athen nach einem Schuldenerlass keine weiteren Kredite gewähren dürfte. Dies sei nach Haushaltsrecht nur möglich, wenn der Schadenseintritt unwahrscheinlich sei.

Einem Schuldner, der seine Schulden nicht zurückzahlt, könne man nicht unmittelbar danach neue Kredite oder Garantien geben, erläuterte Seibert die Position der Kanzlerin. Die ist allerdings ziemlich verwunderlich. Schließlich hatte Merkel vor einem Jahr den Verzicht der privaten Gläubiger gegen den erklärten Willen von EZB und IWF durchgedrückt. Und damals hatte sie keine haushaltsrechtlichen Bedenken - im Gegenteil: hemdsärmelig setzte sie sich über alle Einwände hinweg.

In Brüssel vermutet man hinter der harten Haltung der Kanzlerin denn auch wahltaktische Motive. Merkel wolle Griechenland zwar im Euro halten, aber kosten dürfe es nichts, munkeln EU-Diplomaten. Ein Schuldenschnitt um 50 Prozent würde Deutschland rund 17,5 Mrd. Euro kosten. Diese Summe ist den Kritikern der Euro-"Rettung" in CDU, CSU und FDP jedoch nur schwer zu vermitteln. Zwar deutete CDU-Fraktionschef Volker Kauder Kompromissbereitschaft an. Im Gegenzug müsse Athen jedoch die Strukturreformen und die Privatisierung des Staatsbesitzes angehen.

Finanzminister Schäuble ist dies offenbar noch nicht genug. Er fordert nicht nur die Umsetzung der Spar- und Reformdiktate, die die Wirtschaft in Griechenland abwürgen. Er fordert zudem, dem Land enge Fesseln anzulegen. So soll ein Sperrkonto für die Zahlung des Schuldendienstes eingerichtet werden. Diese Forderung ist zwar nicht Neues - Schäuble erhob sie bereits Ende 2011. Neu ist aber, dass Athen einen festen Teil seiner Einnahmen etwa aus der Mehrwertsteuer auf dieses Konto zahlen soll. Damit würden die Steuereinnahmen de facto dem Fiskus entzogen - Griechenland würde enteignet.

Besonders pikant ist dabei, dass Athen selbst dann noch entmündigt werden soll, wenn es schon einen primären Budgetüberschuss erzielt. Damit wäre zwar ein wichtiges Ziel der "Retter", das Ende der Haushaltslöcher, erreicht. Gleichzeitig könnte Athen aber diese Gelegenheit ergreifen, um aus dem Euro auszusteigen, den Schuldendienst einzustellen und es mit einer neuen, eigenen Währung zu versuchen. Genau das will Schäuble offenbar verhindern.

Neben dem Treuhandkonto und dem Schuldenschnitt gibt es noch ein drittes Streitthema: die von der Troika verlangten Arbeitsmarktreformen. Die sehen nämlich nicht nur eine weitere Lockerung des Kündigungsschutzes und neue Lohnkürzungen, sondern auch die Rückkehr zur Sechs-Tage-Woche vor. Dies lehnt der kleine Koalitionspartner von der Demokratischen Linken jedoch ab. Auch in der EU-Kommission ist die Forderung der Troika umstritten - schließlich ist sie kaum mit dem EU-Recht vereinbar.

Ohne grünes Licht aus Berlin geht nichts

Doch den Schwarzen Peter schiebt die Troika - auch die EU - allein den Griechen zu. "Wir haben bisher noch kein Übereinkommen erzielt, und ich habe keine genauen Anzeichen dafür, wie lange das noch dauern wird", sagte der Sprecher von Währungskommissar Olli Rehn. Ehrlicher wäre es gewesen, auf die Spannungen innerhalb der Troika hinzuweisen. Letztlich wiegt der Streit zwischen Deutschland und dem Rest der Welt nämlich schwerer als die Bedenken der Linken in Athen. Ohne grünes Licht aus Berlin geht gar nichts - das weiß man auch in Brüssel.

Doch die Bundesregierung spielt auf Zeit. Finanzminister Schäuble hat zwar eine Alternative zum Schuldenschnitt zur Diskussion gestellt. Der CDU-Politiker erwägt, Athen Geld aus dem neuen Euro-Rettungsfonds ESM zur Verfügung zu stellen, mit dem es seine eigenen Schulden zu günstigen Konditionen zurückkaufen könnte. So ließe sich auch die Schuldenquote drücken, ohne dass Berlin mitten im Wahlkampf in die Tasche greifen müsse. Doch bisher steht er mit seinem Vorschlag allein. Merkel hat es nicht für nötig gehalten, ihre widersprüchliche Haltung - Grexit nein, Schuldenschnitt nein - zu erklären oder gar eigene Vorschläge zur "Rettung" Griechenlands zu machen.

Die Lage ist derart verfahren, dass die Euro-Finanzminister am Mittwoch eine Krisenkonferenz per Telefon einberufen haben. Dass sie eine schnelle Lösung finden, gilt angesichts der doppelten Blockade in Berlin und Athen allerdings als unwahrscheinlich: Fest steht nur eins: Bis Mitte November muss eine Entscheidung fallen. Ohne neue Hilfskredite wäre Athen dann nämlich zahlungsunfähig. Und das wollen Merkel und Schäuble doch um jeden Fall verhindern, oder?