Vertagte Entscheidungen

Ist dieses Photon gerade eine Welle oder ein Teilchen? Zwei neue Studien zeigen, dass sich die Entscheidung darüber sogar auf die Zeit nach dem Experiment vertagen lässt

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Angenommen, auf irgendeinem Planeten, Milliarden Lichtjahre von unserer Galaxis entfernt, richtet eine junge, vernunftbegabte Echse ihre Taschenlampe gen Himmel. Sie hat Glück. Zwar werden die meisten Photonen, die die Lampe ausstrahlt, in der Atmosphäre gestreut. Aber eines kommt durch. Mit Lichtgeschwindigkeit bewegt es sich von dem Planeten weg, entfernt sich aus dem kompletten Sonnensystem, aus der Galaxis, die die junge Echse bewohnt, und schließlich auch aus der lokalen Gruppe . Doch dann, es sind vielleicht erst ein paar Millionen Jahre vergangen, trifft das Lichtteilchen auf ein riesiges Schwarzes Loch.

Wie der Zufall spielt, trifft es genau so auf das Gravitationsfeld des Schwarzen Lochs, dass ihm mit gleicher Wahrscheinlichkeit zwei Wege um das Hindernis herum offen stehen. Nun ist das Photon ein bisschen schizophren. Als Welle darf es sich nicht für einen Weg entscheiden, sondern muss beide gleichzeitig durchlaufen. Als Teilchen steht es jedoch vor der Entscheidung. Egal wie, es hat keine andere Wahl. Ein paar Milliarden Jahre später trifft es auf der Erde ein. Ja, der Zufall. In dem Gedankenexperiment, das sich der Physiker John Archibald Wheeler ausgedacht hat, kann jetzt folgendes passieren.

Die Zukunft beeinflusst die Vergangenheit

Auf der Erde hat ein neugieriger Physiker ein Interferometer aufgestellt. Das ist so präpariert, dass sich in seinen beiden Armen je ein Photodetektor befindet. Die Detektoren sind dabei so montiert, dass man sie entfernen kann. Die beiden Arme richtet man auf die Punkte rechts und links des Schwarzen Lochs aus, von denen das Photon kommen muss. Je nachdem, in welchem Arm nun der Detektor anschlägt, weiß man, welchen Weg das Photon genommen haben muss. Das Photon hat demnach Teilchencharakter.

Baut man allerdings die Detektoren aus, ist keine Entscheidung über den Weg des Photons möglich. Das Photon befindet sich in einem Überlagerungszustand, das Interferometer registriert ein Interferenzbild. Das Spannende daran besteht nun darin, dass das Photon schon vor Jahrmilliarden gewusst haben muss, in welcher Art das Messgerät konfiguriert ist, das in der Zukunft wartet - oder andersherum: Die Zukunft beeinflusst die Vergangenheit.

Entscheidung erst nach der Messung

Solche "delayed choice"-Experimente sind für Physiker allerdings ein alter Hut. Wheelers Gedankenexperiment von 1984 wurde schon zigfach bestätigt. Im Wissenschaftsmagazin Science gelingt nun allerdings zwei Forscherteams, noch eins draufzulegen: Den Forschern gelang es, die Zeit bis zur Entscheidung über die Natur des Photons sogar bis hinter seine Messung zu verlegen. Ein französisches Team schickt dazu unterschiedlich polarisierte Photonen in sein Interferometer. Das ist so konstruiert, dass vertikal polarisierte Photonen interferieren, horizontal polarisierte jedoch nicht.

Der Trick besteht nun darin, dass die Forscher ein Photon in die Apparatur schicken, dessen Polarisation mit der eines anderen Photons verschränkt ist. Nun warten die Forscher, bis das erste Photon die Apparatur wieder verlassen hat und der Ort, an dem es austrat, registriert wurde. Erst jetzt messen sie die Polarisation des zweiten Photons. Und je nachdem, wie diese Messung ausfällt, verändert sich die Natur des zweiten Photons. Es lässt sich zeigen, dass wirklich erst die Messung des zweiten Photons zu dieser Entscheidung führt.

Österreichische Physiker aus dem Labor von Anton Zeilinger haben eine etwas andere Herangehensweise gewählt. Erneut wird ein Photon in das Interferometer geschickt. Doch bei diesem Experiment wird die Existenz des zweiten Strahlteilers, ohne den keine Interferenz möglich ist, mit einem zweiten Photon verschränkt.

Es genügt dann, das zweite Photon zu messen, um die Eigenschaften des ersten Photons (das mit dem zweiten gar nichts zu tun hat) im Nachhinein festzulegen. Gelänge es, die Verschränkung beliebig lange aufrechtzuerhalten, könnte man die Entscheidung über das Ergebnis des Experiments ebenso lange hinauszögern - obwohl der physikalische Vorgang selbst längst passiert ist.

Leider, bedauert der Quantenphysiker Seth Lloyd in einem begleitenden Kommentar, lässt sich das Experiment nicht auf das Leben im Makrokosmos übertragen. Sie als Leser könnten mit der Entscheidung, diesen Artikel zu lesen, sonst auch bis zur Beendigung der Lektüre gewartet haben. Um dann nach dem Vorgang an sich zu entscheiden, diesen gar nicht erst stattfinden zu lassen.