Policy Mainstreaming

Haben wir noch eine Wahl?

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Nein, wir haben keine Wahl. Zumindest nicht, solange die derzeitigen Voraussagen der Demoskopen recht behalten sollten. Sicher, wir haben Wahlen im nächsten Jahr, freie Wahlen auch. Wir werden zwischen Personen wählen können. Zwischen unterschiedlichen Politikansätzen, die sich in mehr als in Nuancen unterscheiden, nicht mehr.

Das gilt vor allem für die beiden Mega-Fragen, die das Leben der Bundesbürger in den nächsten Jahrzehnten mehr als alles andere bestimmen werden: die "Energiewende" und die sogenannte "Euro-Rettung". Das mag erstaunen. Denn der Kurs, den die Merkel-Regierung mit Unterstützung von SPD und "Grünen" seit Jahr und Tag steuert, ist riskant, gefährlich riskant und vermutlich auch wenig erfolgversprechend. Die Energiewende wird für alle teuer, sehr teuer, für Geringverdiener viel zu teuer, dabei ist ihr Gelingen alles andere als sicher, ein Scheitern nicht auszuschließen.

Während wir beim Scheitern der "Energiewende" noch auf billigen Kohle- und Atomstrom von unseren west- und osteuropäischen Nachbarn hoffen können, bleiben die Kosten eines Scheiterns der "Euro-Rettung" vornehmlich bei den Deutschen hängen. Und die können so exorbitant ausfallen, dass die monetäre Ordnung selbst ins Schleudern gerät.

Und nicht nur das. Der Kernbestand unserer demokratischen Ordnung ist in Gefahr, wenn das einzig frei gewählte und damit das besonders legitimierte Verfassungsorgan, der Deutsche Bundestag, weiterhin einen solchen Bedeutungsverlust erleidet wie in den vergangenen sieben Jahren, den Merkel-Jahren.

Es geht also ums Eingemachte, nicht um irgendwelche Kinkerlitzchen. Und dennoch bleiben die Abgeordneten - bis auf wenige Ausnahmen abgesehen - merkwürdig apathisch und desinteressiert.

Die großen, die Bürgerinnen und Bürger bewegenden und zurecht beunruhigenden Fragen werden heute außerhalb des Parlaments geführt - in zivilgesellschaftlichen Foren, denen jedoch der Zugang zu den von den Parteien beeinflussten und teilweise kontrollierten - vor allem den elektronischen - Massenmedien in der Regel versagt bleibt.

Währenddessen handelt die Merkel-Regierung nach dem Motto "Die Hunde bellen, die Karawane zieht weiter" und trifft ein übers andere Mal Entscheidungen, über die zuvor nirgendwo - weder öffentlich noch in den dafür vorgesehenen demokratischen Gremien - gesprochen wurde. Diese werden dann, sofern es sich als unumgänglich erweisen sollte, dem Parlament zum gefälligen Abnicken vorgelegt.

Beschlussvorlagen mit gravierenden, weitreichenden Wirkungen auf die weitere Entwicklung des Landes werden den gewählten Volksvertretern in einer Form zur Entscheidung vorgebracht, die allen parlamentarischen Spielregeln und Gepflogenheiten Hohn spricht. Von einer dem Gewicht der Vorlage angemessenen Beratung in den Arbeitsgruppen und Ausschüssen kann keine Rede sein.

Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik ist die Ohnmacht und Bedeutungslosigkeit des Deutschen Bundestags so schmerzlich, so offensichtlich, gleichsam für den Beobachter hautnah erfahrbar, zu Tage getreten wie in der Regierungszeit Angela Merkels. So verwundert denn auch nicht, dass das, was den Bürgerinnen und Bürgern am meisten unter den Nägel brennt, in den Debatten des Deutschen Bundestages nicht oder nur noch am Rande - in Form von "persönlicher Erklärungen" der wenigen "Querdenker" - vorkommt.

Merkels Stärke ist die Schwäche ihrer Gegner - in ihrer eigenen Partei, aber auch die der Oppositionsparteien. Das ist neu, das hat es in der Bundesrepublik bisher so nicht gegeben. Seit 2005, dem Beginn der Kanzlerschaft Angela Merkels, hat sich das politische Meinungsspektrum beängstigend eingeengt. Grundlegende Differenzen sind zwischen den im Bundestag vertretenen Parteien nicht mehr auszumachen. Unterschiede sind nur noch in Nuancen, gleichsam im Kleingedruckten, zu erkennen. Ein Geschäft für Journalisten und Politologen.

Angela Merkel steht faktisch einer inoffiziellen Allparteienkoalition vor, die - bis auf die rückwärtsgewandte "Linke" - in den wesentlichen Fragen deutscher Politik an einem Strang zieht. Ob es sich um Finanz- oder Haushaltspolitik, Europa-, Außen- oder Sicherheitspolitik, Energie- und Umweltpolitik handelt, ob es um Gesundheits- oder Familienpolitik, Renten- oder Arbeitsmarktpolitik, um Mindestlohn oder selbst um Scheinfragen wie die Frauenquote geht, immer ist die Kanzlerin zur Stelle und - wie beim Wettlauf des Hasen mit dem Igel - begrüßt sie ihre Konkurrenten und Gegner mit einem sauertöpfischen "Ick bün al dor!"

Klaus Funken

Wundert es dann eigentlich, dass sich die Bürger von der "Berliner Politik" längst abgewandt haben. Die Wahlbeteiligung sinkt kontinuierlich, die Parteien kapseln sich weiter ab, die ohnehin geringen Mitwirkungsrechte ihrer Mitglieder werden den vermeintlichen Zwängen einer attraktiven Außendarstellung ihrer Spitzenkräfte geopfert.

Das mag, wie viele Strategen in den Parteiführungen im Stillen hoffen werden, dem Harmoniebedürfnis vieler Deutscher entgegenkommen. Politik, wie sie von den Parteien zelebriert und vermittelt wird, ist zwischenzeitlich zu einem vornehmlich kulinarisch ästhetischen Phänomen mutiert, ein Fall fürs Feuilleton und die Kulturredaktion, im besten Fall fürs Kabarett.

Der Bürger fühlt sich dagegen mit seinen Sorgen und Ängsten alleingelassen, er ist hilflos und wütend. Keine der ihn umtreibenden Fragen wird angemessen, offen und redlich beantwortet. Allen voran die beunruhigenden geldpolitischen und finanzwirtschaftlichen Fragen:

  • Wie geht es weiter mit der Haftung und wohlmöglich auch Übernahme von Schulden süd- und westeuropäischer Staaten?
  • Welche Belastungen kommen auf die Bürgerinnen und Bürger tatsächlich zu?
  • Welchen Entscheidungsspielraum haben die deutschen Volksvertreter bei der sogenannten "Euro-Rettung" überhaupt noch?
  • Ist der "materielle (unantastbare) Identitätskern unserer Verfassung" noch gegeben, wenn das Budgetrecht des Parlaments immer weiter eingeschränkt wird und wenn beispielsweise, wie Finanzminister Schäuble es vorschlägt, ein Kommissar aus Brüssel dem Deutschen Bundestag die Haushaltspolitik vorschreibt?
  • Was tun die Regierung und ihre Vertreter in den europäischen Gremien, um den Zugriff südeuropäischer Regierungen auf die deutschen Steuermilliarden abzuwehren?

Es drängt sich doch mit Macht der Eindruck auf, dass zwischenzeitlich Hollande, Monti und Rojoy ungeniert den Takt bei der Euro-Rettung vorgeben, die Schuldner den Gläubigern also die Bedingungen diktieren. Wie lange kann das gutgehen? Für die "Allparteien-Koalition" unter Merkel im Deutschen Bundestag kein Thema.

Das zutiefst demokratiefeindliche Schlagwort "alternativlos"

Ein "policy mainstreaming" hat sich bei uns breitgemacht, das omnipotent erscheint und das die Debatten beherrscht: in den Parteien, in den meisten Medien, in den Verbänden, den Gewerkschaften, ja selbst in den Kirchen. "Alternativlos" heißt das skandalöse, ja zutiefst demokratiefeindliche Schlagwort, dessen sich die Regierenden bedienen, um eine aufkeimende Diskussion "draußen im Lande" abzuwürgen.

Das Schlimme und gleichzeitig Unheimliche dabei ist: Niemand regt sich mehr darüber auf. Noch nicht. Es liegt auf der Hand, dass das nicht lange gut gehen kann. Spätestens wenn der Euro-Rettungsspuk verflogen ist, der deutsche Steuerzahler für die Schulden der west- und südeuropäischen Nachbarn aufkommen muss und die "Verantwortlichen" keinen anderen Weg mehr sehen, als durch eine Geldentwertung das Verschuldungsproblem der Staaten und der privaten Schuldner zu lösen.

Dass Merkels Eingemeindungspolitik ihrer Partei schwer zu schaffen macht, liegt nicht weniger auf der Hand. Die Union hat unter Merkel jedes Profil verloren: Sie ist liberal wertkonservativ, demokratisch autoritär, unternehmerfreundlich gewerkschaftsnah, christlich laizistisch: Eine "Wer will noch mal, wer hat noch nicht" - Partei.

Dem grünen Wählerpotenzial mimt die Kanzlerin die besorgte Ökologin, dem sozialdemokratischen den Kumpel von neben an, den Frauen die Feministin, den Familien die "Mutter der Nation". Jedem das Seine und jeder das Ihre, wie es gerade gefällt.

Der ebenso eindrucksstarke wie hilflose Aufschrei einer Gertrud Höhler gegen Merkels Machtversessenheit kann durchaus als Menetekel gelesen werden. Der Union droht italienisches Unheil. "Die Patin", wie Höhler Merkel in Anspielung an den ebenso undurchsichtigen wie machtversessenen italienischen Ministerpräsidenten Guido Andreotti nennt, wird darauf vertrauen, dass ihre Partei sie gewähren lässt, solange sie ihr den Zugriff auf Mandate, Macht und Moneten sichert.

Doch eine Strategie der Beliebigkeit und des reinen Machterhalts geht selten gut aus. Das könnte die CDU aus dem unrühmlichen Abgang der Democracia Cristiana lernen. Auch wenn zurzeit noch alles für die "mächtigste Frau Europas" spricht.

Vorerst droht uns also der wohl langweiligste und zugleich der uninteressanteste Wahlkampf seit Bestehen der Bundesrepublik. Die "Keine Experimente" und "Weiter so" Wahlkämpfe Adenauers und Kohls werden uns gegenüber dem, was uns im nächsten Jahr blüht, als munterer Schlagabtausch mit ungewissem Ausgang vorkommen. Eine echte Wahl, eine Wahl zwischen unterschiedlichen Antworten auf die brennenden Fragen unserer Zeit haben wir nicht.

Wenn denn die derzeitigen Prognosen der Meinungsforscher zutreffen sollten, spricht alles dafür, dass das Weiterwursteln wie bisher auch nach der Bundestagswahl im Herbst 2013 angesagt ist. Aller Voraussicht nach werden die Deutschen auch in Zukunft von einer inoffiziellen schwarz-rot- grün- gelben Allparteienkoalition regiert.

So wird sich der Wettbewerb der Parteien um die Gunst der Wählerinnen und Wähler auf ästhetische Fragen beschränken, wenn man so will auf kulinarische Vorlieben. Wer hat Charme und Esprit? Ich gebe zu, bei dem zur Auswahl anstehenden Personal eine unverschämt unfaire Frage. Wer erscheint am sympathischsten, wer am kompetentesten, am schlagfertigsten, am unterhaltsamsten, wer ist am telegensten, am besten angezogen? Die deftige Frohnatur Claudia Roth oder die smarte Ursula von der Leyen? Wollen wir uns noch einmal vier Jahre den drögen Charme der Mecklenburgerin Angela Merkel antun oder wechseln wir zum nassforschen Draufgängertum des Hamburgers Peer Steinbrück? Darf Guido Westerwelle weiter durch die Welt jetten oder ist jetzt Jürgen Trittin endlich mal an der Reihe? Fragen über Fragen …

Klaus Funken, der diesen Gastbeitrag in Telepolis verfasste, war früher wirtschaftspolitischer Referent der SPD-Bundestagsfraktion.