Autoland ist abgebrannt

In der sich entfaltenden Krise der europäischen Autoindustrie spiegeln sich die inneren Schranken, an die das kapitalistische Weltsystem stößt

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Europas Autobauer können angesichts der sich zuspitzenden Krise - mal wieder - auf großzügigste Hilfsmaßnahmen hoffen. Die Europäische Kommission sei dabei, einen "Aktionsplan" für die angeschlagene Autobranche auszuarbeiten, hieß es in Medienberichten. Im Gespräch seien unter anderem Zuschüsse für die Entwicklungsabteilungen der europäischen Autogiganten, die aus dem rund 80 Milliarden Euro umfassenden Forschungsbudget der EU bis 2020 fließen sollen. Im Rahmen des Krisenkonzepts, das von EU-Industriekommissar Antonio Tajani ausgearbeitet wird, sollen auch Sozialprogramme bei eventuellen Werkschließungen in Europa vereinbart werden. Überdies ist - kein Witz! - eine "Einbindung" der Autoindustrie bei der künftigen Klimaschutzgesetzgebung geplant.

Eine Neuauflage kostspieliger Subventionen für die darbende Branche, die immer noch in vielen EU-Staaten auch gesamtwirtschaftlich eine Schlüsselstellung einnimmt, scheint angesichts des enormen Absatzeinbruchs in Europa so gut wie sicher. Auch im vergangenen September befanden sich die PKW-Neuzulassungen in den 27 Mitgliedsländern der EU mit einem Minus von 10,8 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat im Rückwärtsgang. Somit sanken die Neuzulassungen in Europa bereits den zwölften Monat in Folge. Nahezu alle wichtigen Absatzländer sind betroffen, wobei der Absatzrückgang in den südeuropäischen "Schuldenländern" besonders gravierend ausfällt.

In Italien etwa sind die Autoabsätze mit einem Rückgang von 12,4 Prozent gegenüber dem Vorjahr auf den niedrigsten Stand seit dem Oktober 1990 gefallen. In Spanien brachen die Neuzulassungen im Oktober sogar um 21 Prozent ein, sodass nur noch 44.873 neue Personenkraftwagen auf die Straßen der Iberischen Halbinsel rollten - dies war der niedrigste Wert seit 1984! In den Niederlanden ging es im Oktober mit den Autoabsätzen sogar um 38,4 Prozent in den Keller, Frankreich verzeichnete im September ein Minus von 18,3 Prozent und auch Deutschlands Neuzulassungen gingen im September um 10,9 Prozent zurück.

Angesichts dieser massiven Absatzeinbußen in den vorhergehenden Monaten können die leichten Nachfragesteigerungen beim deutschen Autoabsatz um einen Prozentpunkt im Oktober keine positiven Konjunkturimpulse zeitigen. Selbst im angeblichen "Wirtschaftswunderland" Deutschland, das sich aufgrund exzessiver Exportausrichtung vom europäischen Konjunkturumfeld "abgekoppelt" glaubte, sanken in den ersten zehn Monaten dieses Jahres die Pkw-Neuzulassungen gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 1,6 Prozent.

Autokonjunktur in China und den USA

Im September erlebte überdies die stürmische Automobilmachung Chinas einen ersten Dämpfer, als die PKW-Verkäufe in der Volksrepublik um 0,3 Prozent im Jahresvergleich absanken. Dennoch bildet das Reich der Mitte eine wichtige Stütze der globalen Autoindustrie, stiegen doch die Absatzzahlen in China allein im August um 7,9 Prozent auf 1,3 Millionen PKW. Von diesem langsam abkühlenden Boom profitierten insbesondere die deutschen Hersteller, die allein 2011 rund 560.000 PKW in der Volksrepublik absetzen konnten. Daneben bilden die USA aufgrund der aktiven Konjunkturpolitik das zweite Standbein der globalen Autokonjunktur. Die Autoverkäufe in den Vereinigten Staaten legten im Oktober um 6,9 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat zu; nach 12,8 Prozent im September und sogar 19,9 Prozent im August. Doch offensichtlich ist diese beeindruckende Aufwärtsdynamik, die größtenteils auf die expansive Geldpolitik Fed und Konjunkturmaßnahmen Washingtons zurückzuführen ist, nun ebenfalls am erlahmen, da die Steigerungsraten langsam abflauen.

Damit spiegelt die Absatzlage in dieser industriellen Schlüsselbranche zuverlässig die Konjunkturentwicklung und Wirtschaftspolitik in den besagten Märkten. In Europa wurde ja auf Betreiben der Bundesregierung ein eisernes Spardiktat aufgelegt, das die Nachfrageeinbrüche zeitigte, unter denen die europäischen Hersteller leiden. In China http://www.heise.de/tp/artikel/36/36948/1.html sind wiederum die ersten konjunkturellen Bremsspuren wahrnehmbar, die die Eurokrise hinterlässt, da die Volksrepublik im hohen Maße von den Exporten in die EU abhängig ist. Die Vereinigten Staaten betreiben hingegen während des Wahlkampfs eine klassisch keynesianische, nachfrageorientierte Politik. Der große Einbruch, der sogenannte Fiscal Cliff, droht in den USA erst im nächsten Jahr, wenn viele der Vergünstigungen sowie Konjunkturstützen auslaufen und die politischen Lager sich nicht auf eine Fortsetzung der derzeitigen Defizitfinanzierung der US-Wirtschaft einigen sollten.

Von diesem schuldenfinanzierten Boom in den Vereinigten Staaten konnten übrigens ebenfalls die deutschen Autohersteller besonders profitieren. Volkswagen etwa erreichte mit einem Absatzplus von 22 Prozent und 34.000 verkauften Einheiten im vergangenen Oktober http://www.welt.de/newsticker/news3/article110518024/Volkswagen-erlebt-in-Amerika-den-besten-Oktober-seit-40-Jahren.html das beste Ergebnis seit 40 Jahren. Insgesamt konnte die deutsche Autobranche ihren Absatz in den USA in der ersten zehn Monaten dieses Jahres um 20 Prozent steigern, sodass deren Absätze schneller wuchsen als der gesamte Markt, der um 17 Prozent expandierte. Das in der deutschen Öffentlichkeit und Politik populäre Lästern über die rasante Verschuldungsdynamik in den USA wirkt angesichts dieser Zahlen reichlich weltfremd, da die deutschen Absatzrekorde bei einem ähnlich harten Sparregime in den USA, wie es Deutschland der Eurozone oktroyierte, schlicht nicht möglich wären.

Doch letztendlich belegt auch diese Wechselwirkung von Konjunkturpolitik und Konjunkturverlauf, dass offensichtlich eine Absatzkrise der Autoindustrie nur dann verzögert werden kann, wenn weiterhin eine schuldenfinanzierte Defizitkonjunktur aufrechterhalten wird, da ansonsten die einbrechende Nachfrage zu einem Kahlschlag in der Autoindustrie führt. Hierin spiegelt sich eine generelle Kreditabhängigkeit des an seiner eigenen Hyperproduktivität erstickenden Spätkapitalismus, der nur unter dem Vorgriff auf zukünftige Gewinne seine Warenberge im Hier und Jetzt losschlagen kann. Auch die Autoindustrie ist inzwischen schlicht zu produktiv für den Kapitalismus und kann ihre Produkte nur kreditfinanziert an die Kunden loswerden. Die Krise der Autoindustrie spiegelt somit geradezu paradigmatisch die "innere Schranke" (Robert Kurz) der kapitalistischen Produktionsweise, bei der die vom Kapitalismus hervorgebrachten Produktivkräfte "die Fesseln der Produktionsverhältnisse" (Marx) aufsprengen.

Die europäische Absatzkrise beginnt auch auf die Autoindustrie in der Bundesrepublik durchzuschlagen

Bei einsetzender Sparpolitik drohen Absatzeinbrüche und der anschließende große Kahlschlag - der nun tatsächlich dem unter einem knallharten Spardiktat leidenden Europa bevorsteht. So will etwa US-Hersteller Ford, der 2012 in Europa einen Verlust von 1,5 Milliarden Dollar erwartet, drei Standorte in Belgien und Großbritannien schließen und hierbei 6200 Stellen streichen. General Motors verhandel bereits intensiv über die Abwicklung seines Werkes in Bochum; zudem sollen bei Verlusten von bis zu 1,8 Milliarden Dollar in diesem Jahr rund 2600 Arbeitsplätze abgebaut werden. Auch bei Fiat gestaltet sich die Situation inzwischen angesichts der Rezession in Italien dramatisch. Ohne die US-Tochter Chrysler, die auf dem boomenden US-Markt satte Gewinne einfährt, müsste Fiat einen Verlust von rund 800 Millionen Euro verkraften. Mittlerweile laufen Gespräche zwischen Gewerkschaften und der Firmenleitung, um mittels Lohnverzicht Standortschließungen in Italien zu vermeiden.

Am schwersten ist aber französische Hersteller PSA von der Eurokrise betroffen betroffen, da er traditionell stark auf den nun kollabierenden südeuropäischen Markt präsent ist. Nach einem Absatzrückgang von rund acht Prozent binnen eines Jahres stehen nun Massenentlassungen und Werksschließungen an, während der französische Staat mittels einer Finanzspritze von sieben Milliarden Euro den kriselnden Autobauer stützen muss.

Die deutschen Hersteller schienen noch bis vor Kurzem aufgrund der besagten starken Präsenz auf außereuropäischen Märkten von der Krise der europäischen Autoindustrie kaum tangiert zu werden. Noch im September meldeten etliche Autobauer - wie Volkswagen, BMW und Mercedes-Benz - neue Absatzrekorde, die in Fernost und vor allem in den sich immer weiter verschuldenden USA erzielt werden konnten. Die Einbußen auf den europäischen Märkten, die auch deutsche Fahrzeughersteller verzeichneten, wurden durch ihre extreme Exportfixierung und gute Präsenz auf außereuropäischen Märkten überkompensiert. Der schwache Eurokurs befeuerte diese Exportoffensiven noch zusätzlich.

Doch inzwischen schlägt die europäische Absatzkrise immer stärker auch auf die Autoindustrie in der Bundesrepublik durch. Aufgrund der schwachen Nachfrage in Westeuropa schrumpfte der deutsche Autoexport im Oktober um sieben Prozent, die Inlandsproduktion ging um sechs Prozent zurück. Betroffen ist insbesondere der Daimler-Konzern, der seine Ertragsprognose um knapp eine Milliarde Euro absenken musste. Doch selbst der als Branchenprimus geltende VW-Konzern musste erste leichte Kratzer am seinen bislang tadellosen Image hinnehmen, da der deutsche Branchenführer sich trotz steigendem Umsatz mit einem sinkenden Gewinn abfinden muss.

Spätestens mit dem Auslaufen der Defizitkonjunktur in den USA wird die Krise der Autobranche auch in Deutschland voll durchschlagen. Erst wenn deutsche Autohersteller genauso um Subventionen betteln werden wie ihre französischen Konkurrenten, dürfte auch die Bundesregierung von ihrem rigorosen europäischen Sparkurs abrücken und sich für schuldenfinanzierte Konjunkturpolitik erwärmen. Die Wünsche der deutschen Autolobby sind ja deutschen Politiker schon immer Befehl gewesen, wie es ja zuletzt die Affäre um den deutschen EU-Kommissar Günther Oettinger offenlegte, der in einem Schreiben an Volkswagen-Chef Martin Winterkorn versicherte, dass die künftigen Klimaauflagen den deutschen Autoherstellern keine Kopfschmerzen bereiten werden. In der Krise dürfte gar ein innereuropäischer Subventionswettlauf einsetzen, bei dem ein jeder Staat mittels milliardenschwerer Geldspritzen "seine" Autohersteller in dem kommenden krisenbedingten Verdrängungswettbewerb stützen dürfte.

Trotz der akuten Absatzkrise und dem sich bereits entfaltenden Klimawandel (der nun New York und die Ostküste der USA verheerte) erschlägt das übliche Arbeitsplatzargument jeden Einwand gegen weitere Milliardenhilfen: die Produktion der CO2-Schleudern muss weiter gesteigert werden, sollen nicht Zehntausende von Menschen ihrer Arbeitsplätze und somit ihrer Lebensgrundlage verlustig gehen. Eine vernünftige und offensichtliche Selbstverständlichkeit, wie die Reduzierung der Autoproduktion und die Absenkung der Arbeitszeit für alle Gesellschaftsmitglieder, scheint angesichts des Wachstumszwangs, der dem Kapitalismus innewohnt, undenkbar. Und dennoch ist ein Ende des Wachstumswahns auch aus ökologischen Gründen letztendlich unabdingbar - wenn auch im gegebenen Wirtschaftssystem, das die persönliche Reproduktion eines jeden lohnabhängigen Menschen an den Besitz eines "Arbeitsplatzes" kettet, kaum realisierbar.