Scholastische Buchhaltung

Von Thomas von Aquin und seiner Wirtschaftstheorie - Teil I

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Normalerweise tauchen die Bereiche Wirtschaft und Philosophie selten auf denselben Zeitungsseiten auf. Die Wirtschaftsethik kann dabei auch nicht als missing link zwischen den beiden Sphären fungieren, solange die dazugehörigen Wirtschaftsethiker nicht durch Veröffentlichung ihrer Steuererklärungen ihre Kompetenzen in beiden Bereichen exemplifizieren - was irgendwie bislang noch kein Wirtschaftsethiker gemacht hat. Wozu auch: Der Legende nach haben auch Lehrer immer die frechsten Kinder, und Schuster die schlechtesten Schuhe. Auf Wirtschaftsethiker kann man in dem Fall nur rückschließen, ihnen aber meistens nichts nachweisen. Dass Wirtschaft und Philosophie aber auch ansatzweise gemeinheits- und korruptionsfreie Überschneidungsbereiche haben, zeigt das Beispiel der Wirtschaftstheorie des Thomas von Aquin (1225 - 1274).

Thomas von Aquin. Gemälde eines unbekannten Künstlers. Bild: Brooklyn Museum/gemeinfrei

Der Alltagskenner unter den mittelalterlichen Denkern hat neben Völlerei und Sex auch das Thema Wirtschaftsideale aufgenommen und die soziale Schere seiner Zeit kommentiert, wie auch die Themen Sozialfürsorge, Wohlfahrtsstaat und Besteuerung nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit - wobei er mit letzterem bis heute viele europäische Steuersysteme prägt. Ihm lag daran, finanzielle Ungleichheiten zwischen Reich und Arm abzumildern, da ihm diese nicht zu der Gleichheit des Menschen vor Gott zu passen schienen. Dafür entwarf er eine Frühform der Wohlfahrtsökonomie mit folgenden Forderungen:

  1. Jeder Christ in Armut (extrema necessitas) hat Anspruch auf sein Existenzminimum.
  2. Zugleich hat aber auch jeder Anspruch auf ein standesgemäßes Einkommen (necessarium).
  3. Folglich hat jeder, dessen Einkommen über das standesgemäß Notwendige hinausgeht, denn daraus hervorgehenden Differenzbetrag (superfluum) abzugeben, und zwar an die Menschen, die nicht in der Lage sind das Existenzminimum zu erwirtschaften.

Armut wird dabei definiert als ein Zustand, in dem kein Einkommen aus einer Beschäftigung gezogen werden kann (so wie zum Beispiel heutzutage Privatdozenten bis zu einer eventuellen Berufung auf einen Lehrstuhl ohne Entgelt arbeiten müssen und damit das deutsche Universitätssystem erhalten, das ohne solche zwangsfreiwilligen Sklaven zusammenbrechen würde; und was den finanziellen Ertrag von Kindererziehungszeiten angeht, erfüllt auch die nicht selten diesen formalen Anspruch an Armut). Thomas meint, dass der Konsum der Armen folglich zwangsweise gegen Null tendieren müsste, wenn die reichen Christen nicht durch Almosen einen ständigen Sozialtransfer ermöglichen (so wie Projekt-Zeitverträge für Privatdozenten). Und obwohl Thomas als Angehöriger eines Bettelordens dabei durchaus selbst auf christliche Transferleistungen angewiesen war, wusste er Konsum durchaus zu schätzen, zumal was Lebensmittel betraf. In den Tisch, an dem er saß, musste angeblich eine halbrunde Einbuchtung gesägt werden, damit der große und kräftige Denker überhaupt Platz fand, und angeblich legten die Bauern, wenn er vorbeikam, ihre Arbeit nieder, um seine stattliche Erscheinung zu begutachten.

Zwar würde die Differenz zwischen Arm und Reich durch diesen Caritas-Transfer nicht aufgehoben, aber so zumindest die Existenz der Armen durch eine Art minimales Grundeinkommen durch besagten Sozialtransfer gesichert. Besitzlose galten in diesem System (noch) nicht als unnütze Sozialschmarotzer, und sie fungierten auch noch nicht als Instanz zur Überprüfung der christlichen Nächstenliebe der Besitzenden. Zwar ist der Bedarf der Armen dabei ein Interpretationswert, der von der Disposition des Reichen und seiner individuellen Berechnung des superfluum abhängt - und bis heute ist es so, dass man die Reichen am ehesten an ihren subjektiven Äußerungen über ihre subjektiv empfundene Armut und Not erkennt.

Aber im Gegensatz zu heutigen versteuerbaren Spenden gehen im Falle des mittelalterlichen Thomas die Zahlungsmittelabflüsse der Vermögenden, trotz fehlender steuerliche Berücksichtigung von Spenden, bei diesem Vorgang nicht verloren. Vielmehr bilden sie einen Vermögenswert für den jeweiligen Spender. Denn sie sind Investitionen in einer transzendentalen Bilanz. Die Armen tun etwas für ihr dieses Geld und beten, nicht um Geld, sondern für den Geldgeber. Sie arbeiten aus scholastischer Sicht dienstleisterisch in die Bilanz Gottes und in dessen metaphysisches Seelen-Buchhaltungssystem ein. Während für die Buchhalter der Gegenwart auch nur Sparkassenbücher der Gegenwart zählen, investierte der mittelalterliche Mensch gerne in diese Art der Gebets-Fonds, die sich zwar auf Erden nicht auszahlen, dafür aber später durch ein gutes Rating im Himmel oder durch die Erlassung des Fegefeuers.

Der Zukunftsnutzen des Paradieses im Vergleich zum Gegenwartnutzen eines reichen Lebens war zumindest ein Thema. Weil aber auch dieser Aspekt nichts daran ändert, dass caritative Abgaben unter dem Strich die Gewinne mindern, argumentierte Thomas ganz irdisch weiter, dass diese Art der transzendentalen Vernetzung bei den Reichen auch das Risiko des jederzeit möglichen Gnadenentzugs Gottes mindert, die dann von ihren Transferbeiträgen zehren könnten, sobald sie selber arm würden. Diese Caritas-Ökonomie galt für die mittelalterlichen Kaufleute genauso wie für das moderne Griechenland heute, letzteres jedoch ohne theologische Implikationen.

Natürlich kam diese Frühform der Welfare Economy, ethisches Fürsorgepflichtgefühl vor pragmatischem Hintergrund, dann in den Geruch, doch auch zum Teil vom Eigennutz gelenkt und, um in Kantischen Kategorien zu sprechen, pflichtgemäßes Handeln aus Eigennutz, aber keine moralisch wertvolle Handlung aus Pflicht zu sein. Auch Thomas' Gedanken zum Thema Mindestlohn tragen dem Irdischen Rechnung, wenn er für durchaus standesgemäße Gehälter plädiert. Das entsprechende Ungleichgewicht in der Lohnverteilung und auch verschieden hohe Lebenshaltungskosten rechtfertigt er mit der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stand innerhalb einer Lohnpyramide, die bei Bauern, Tagelöhnern und Händlern beginnt und bei Richtern, Juristen und obersten Staatsbeamten endet. Auch in diesem Punkt hat sich bis heute nicht viel geändert. Mehr zu solchen Übereinstimmungen im zweiten Teil.