Wieder einmal vor den Wahlen greift Israel den Gaza-Streifen an

Medial und militärisch wird offenbar ein längerer Krieg vorbereitet, obgleich ein Waffenstillstand einigermaßen aussichtsreich gewesen war

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Nach tagelangem Raketenbeschuss aus dem Gaza-Streifen, einem zunächst ausgehandelten und leidlich eingehaltenen Waffenstillstand mit der Hamas und Androhungen von gezielten Tötungen und eines Einmarsches in den Gaza-Streifen hat die israelische Regierung nun wieder einmal "chirurgisch" Ziele mit Kampfflugzeugen angegriffen und dabei Ahmed Jabari, den militärischen Führer der Hamas, und seinen Sohn getötet. Hamas kündigte einmal wieder an, damit habe Israel selbst "die Türen der Hölle geöffnet", und schoss als Reaktion wieder einen Schwall an Raketen nach Israel, die teils vom Raketenabwehrsystem Iron Dome abgeschossen werden konnten. Einige Raketen sollen auch von der Sinai-Halbinsel nach Israel abgefeuert worden sein, vermutlich von den islamistischen Popular Resistance Committees, die auch für viele Raketenabschüsse aus dem Gaza-Streifen verantwortlich sein sollen.

Gezielte Tötung des Hamasführers. Aus einem IDF-Video

Vor den Wahlen im Januar stand die israelische Regierung unter Druck. Aus dem Süden des Landes, wo die Menschen von den Raketen aus dem Gaza-Streifen betroffen sind, gab es Kritik, weil die Regierung zu zögerlich sei. Nun also scheint Netanjahu wieder vor Wahlen wie schon Ende 2008 eine militärische Aktion zu beginnen, die erneut in einen Krieg ausarten könnte - der aber nun nach der veränderten Konstellation im Nahen Osten durch den Arabischen Frühling unter anderen Bedingungen steht. Die US-Regierung stellt sich demonstrativ hinter die israelische Regierung. Das Außenministerium erklärte gestern, das "Recht auf Verteidigung" Israels werde unterstützt.

Ägypten hat als Antwort auf die Tötung des Hamas-Führers bereits seinen Botschafter aus Israel abgezogen. Außenminister Mohamed Kamel Amr kritisierte den Angriff auf den Gaza-Streifen und forderte Israel auf, diesen sofort zu beenden. Der ägyptische Präsident Mohamed Morsi hat die Arabische Liga zu einer Notsitzung einberufen.

Die regierende Friedens- und Gerechtigkeitspartei hat die Wiederaufnahme gezielter Tötungen ebenso scharf verurteilt. Die sowieso schon schwierigen Beziehungen zur ägyptischen Regierung werden durch einen Krieg gegen den Gaza-Streifen ganz in Frage gestellt. Nur in Kooperation mit Ägypten kann die Grenze zu Sinai gesichert werden und der Gaza-Streifen weiterhin ein großes, aber trotzdem gefährliches Gefängnis bleiben, wenn Israel nicht irgendwie mit Hamas in Gespräche eintritt. Die neue Koalition der syrischen Opposition will ihr Hauptquartier in Ägypten ansiedeln.

Riskant ist das Vorgehen auch deswegen, weil im Norden ebenfalls ein Konflikt mit Syrien oder mit der von Iran unterstützten Hisbollah im Libanon drohen könnte. Die syrische Opposition ist alles andere als glücklich über diese "Ablenkung" aus ihrer Sicht. Jeder Angriff auf den Gaza-Streifen nutze dem syrischen Regime und lenke die Aufmerksamkeit von dessen Verbrechen ab, so äußerte sich etwa ein Mitglied des Syrischen Nationalrats. Allerdings sieht sich auch das Assad-Regime genötigt, Israel zu verurteilen und sich hinter die Palästinenser zu stellen.

Das israelische Militär meldete, dass mit dem ersten Angriff die Operation Pillar of Defense (Verteidigungspfeiler) begonnen hat. Die Situation im Süden sei "unerträglich" geworden, sagte ein Militärsprecher, der Gaza-Streifen zu einem "Vorposten Irans". Die Armee werde weiterhin terroristische Ziele angreifen und die Kommandokette der Hamas zerstören.

Die gezielte Tötung des militärischen Hamas-Führers, der für viele Angriffe auf Israel verantwortlich sein soll, aus dem Hinterhalt, als Jabari mit seinem Sohn und einem Leibwächter in einem Auto unterwegs war, wird zur Demonstration der eigenen Kapazitäten und zur Abschreckung auch als Video auf der IDF-Website und auf YouTube präsentiert und auf Facebook und Twitter begleitet. Das israelische Militär macht damit klar, dass militärische Auseinandersetzungen mindestens ebenso sehr auf dem medialen Schlachtfeld entschieden werden - oder zumindest auch auf diesem ausgefochten werden müssen. Auch medial muss aus allen Rohren gefeuert werden.

Der Militärsprecher Moredechai kündigte an, dass alle Optionen möglich seien, auch eine Bodenoffensive. Infantrieeinheiten seien bereits mobilisiert worden. Die Operation sei breit angelegt und würde sich steigern. Den Hamas-Führern legte er nahe, dass nun die Zeit gekommen sei, sich zu verstecken.

Angegriffen wurden in der ersten Welle vor allem Stellungen und Waffenlager, an denen sich aus Iran stammende Fajr-Raketen befinden, die eine Reichweite bis zu 70 km haben sollen. Nach Verteidigungsminister Barak seien die meisten dieser Raketen bereits in der ersten Stunde der Angriffe vernichtet worden.

Barak versicherte, Israel wolle keinen Krieg, aber Hamas habe durch den Beschuss mit Raketen, das Abfeuern einer Rakete auf eine Patrouille und den Bau von Tunnels diesen provoziert. Auch Regierungschef Netanjahu lässt keinen Zweifel, dass dies erst der Anfang war. Man habe eine "Botschaft" übermittelt, aber sei bereit, härter vorzugehen.

Uri Avnery von der israelischen Friedensorganisation Gush Shalom kritisiert den Angriff. Zum zweiten Mal hätten sich Netanjahu und Barak entschieden, "dass im israelischen Staat Wahlen unter dem Schatten eines Kriegs im Gaza-Streifen stattfinden". Der Waffenstillstand sei "absichtlich" gebrochen worden, nun müssten sich die Menschen im Süden Israels wieder in ihre Bunker flüchten.

Avnery sieht hinter dem Angriff innenpolitische Ziele. Die "sozialen Themen", die die Regierung bedroht haben, seien mit dem Krieg aus dem Wahlkampf verschwunden:

In den kommenden Wochen werden die Schlagzeilen voll mit Krieg und Tod, Zerstörung und Blutvergießen sein. Wenn das schließlich aufhört, wird sich zeigen, dass kein Ziel erreicht wurde und die Probleme dieselben geblieben oder schlimmer geworden sind.