Neuer Selbstmord in Spanien bei Zwangsräumung

Die Betroffenen kritisieren das beschlossene Dekret der Regierung, das nur ein Moratorium für neue Zwangsräumungen besonders Bedrüftiger beinhaltet

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Nachdem es in Spanien in den letzten Wochen zu mehreren Selbstmorden kam, wollten die beiden großen Parteien einen Weg finden, um das Zwangsräumungsdrama wenigstens einzudämmen. Schon 400.000 Familien mussten ihre Wohnungen verlassen, weitere 400.000 sind von Räumung bedroht, weil sie ihre Hypotheken angesichts einer Arbeitslosenquote von 26% nicht mehr bezahlen können. Doch auch das sorgte nicht dafür, dass die konservative Volkspartei (PP) und die oppositionellen Sozialisten (PSOE) zu einem gemeinsamen Vorgehen finden. Die Verhandlungen scheiterten am späten Mittwoch und die konservative Regierung kündigte am Donnerstag im Alleingang ein Dekret als "ersten Schritt" an.

Lorena Benitez und Igone Aldarreria, die von Zwangsräumung betroffen sind, auf der Streik-Demo. Bild: R. Streck

Erst als sich die ehemalige sozialistische Stadträtin Amaia Egaña vor einer Woche im baskischen Barakaldo aus dem Fenster stürzte, weil ihre Wohnung geräumt werden sollte, rauften sich PP und PSOE angesichts einer massiven Empörung zusammen, obwohl es nicht der erste tragische Vorfall dieser Art war. Plötzlich warf sich die PSOE für Gesetzesänderung ins Zeug, die sie in mehr als sieben Jahren bis 2011 an der Regierung hätte umsetzen können. Zwar hat sich die Partei dafür entschuldigt, doch die Betroffenen und ihre Unterstützer nehmen es ihr nicht ab. "Es ist leicht das zu tun, wenn man in der Opposition ist", erklärt Mikel Sanchez Telepolis.

Er ist ein Sprecher der Organisation Stopp Räumungen im baskischen Donostia-San Sebastian. Auch hier wurde eine Ortsgruppe von der Empörten-Bewegung gegründet. Die Organisation protestiert seither gegen das unsoziale Vorgehen der Regierungen und verhindert auch immer wieder Räumungen. Die Empörten nahmen mit der freiwilligen Räumung der Protestlager im Sommer 2011 Abschied von spektakulären Aktionen. Sie verbreiterten aber ihre Basis in die Gesellschaft hinein, indem sie ihre Proteste konkret an Problemen der Bevölkerung anknüpfen.

Betroffene, wie Lorena Benitez, die auf die Räumung warten, verweisen darauf, dass zwar viele Menschen geräumt wurden, nachdem die Konservativen vor einem Jahr die Macht übernahmen, doch die Mehrzahl fand unter den Sozialisten statt. "Nichts, gar nichts" erwartet die junge Frau mehr von den beiden großen Parteien. Wie Benitez kritisiert auch Igone Aldarreria, dass ohnehin alle Parteien ausgeschlossen wurden, welche die Betroffenen unterstützt haben und nicht einmal ihre Vertreter teilnehmen durften. Dass dies unter den Betroffenen eine weit verbreitete Meinung ist und die Räumungen auch bisher nicht gestoppt wurden, beweist ein trauriger Vorfall heute. Ein 50-jähriger Mann stürzte sich bei der Räumung im südspanischen Cordoba aus dem Fenster.

Doch auch ohne die Betroffenen und die übrigen Parteien konnten sich PP und PSOE nicht einmal einigen. Nach der Kabinettsitzung am Donnerstag hat die Regierung von Mariano Rajoy die Grundlinien für ein Dekret im Alleingang vorgelegt. So sollen endlich Sozialwohnungen zur Miete für geräumte Familien bereitgestellt werden. Daran mangelt es ohnehin nicht, etwa eine Million neu gebauter Wohnungen stehen leer.

Lorena Benitez und Igone Aldarreria, 3. und 4. von links. Bild: R. Streck

Der Staat besitzt zahllosse unverkäufliche Wohnungen

Da Spanien schon vier Banken, darunter auch die Großbank Bankia verstaatlicht hat, besitzt der Staat zahllose unverkäufliche Wohnungen. Da für die Bankenrettung bis zu 100 Milliarden aus dem europäischen Rettungsfonds fließen, hat Brüssel aber schon am Donnerstag den Zeigefinger erhoben. Dort hat man das letzte Wort darüber, was Spanien in den Fragen beschließt, die sich auf das Bankensystem auswirken. Schließlich muss befürchtet werden, dass der hingemogelte Stresstest schnell auffliegt und wegen neuen Löchern in den Bilanzen die Rettungssumme noch deutlich höher ausfällt, was ohnehin viele Experten erwarten.

Geplant ist das Räumungs-Moratorium ohnehin nur eingeschränkt, bis Gesetzesänderungen vollzogen sind. Nur bei besonderer Bedürftigkeit sollen Räumung für zwei Jahre ausgesetzt werden. Damit folgt Rajoy der Linie, welche der Bankenverband vorgegeben hatte, der von "Extremfällen" sprach. Diese schwammige Angabe wird nun konkretisiert. Gemeint seien Haushalte, deren Einkommen unter 1600 Euro monatlich liegt. Das Moratorium soll für Großfamilien mit mehr als zwei Kindern, Alleinerziehende, Behinderte und Arbeitslose ohne Ansprüche auf Unterstützung gelten.

Die Baskin Egaña, die sogar noch einen sicheren Job hatte, wäre damit herausgefallen. Auch der heutige neue Selbstmordfall wäre durchgefallen, sonst hätte der 50-Jährige kaum Anlass gesehen, sich gerade jetzt aus dem Fenster zu stürzen, da ja scheinbar nun eine Lösung gefunden worden sein soll. Die Konservativen, die sich einen positiven propagandistischen Effekt für die wichtigen Wahlen im nach Unabhängigkeit strebenden Katalonien am 25. November erhofft hatten, sehen sich mit ihrem Alleingang nun erneut auf der Anklagebank. Deshalb ist Außenminister José Manuel García-Margallo am Freitag vorgeprescht und behauptet, man müsse "in den Verhandlungen weiter gehen". Es ist klar, dass nun die Sozialisten wieder ins Boot geholt werden sollen. Erst nach einem weiteren Toten scheint wieder Bereitschaft da zu sein, über das Dekretierte hinauszugehen.

Gruppen wie "Stopp Räumungen" warten ohnehin auf das Kleingedruckte im Gesetzesblatt. Nicht selten werden Regelungen wie in Knebelverträgen im Kleingedruckten versteckt. Als Beispiel dient der Versuch, der Bevölkerung eine Internetsperre in einem Gesetz zum "nachhaltigen Wirtschaften" unter zu mogeln (Wie kommt die Internetsperre in ein Gesetz zum "nachhaltigen Wirtschaften"?). Die Vizeministerpräsidentin Soraya Sáenz de Santamaría hat auf der Pressekonferenz in Madrid auch nur davon gesprochen hat, dass die Einleitung neuer Räumungsverfahren gestoppt werde. Von billigen Mietwohnungen für schon geräumte Familien, die längst auf der Straße stehen, ist nicht die Rede.

Gefordert wird ein neues Gesetz

Die junge Lorena Benitez befürchtet ohnehin nichts Gutes. Sie hatte sich im Frühjahr Hoffnungen gemacht, als Rajoy die Banken zu einer freiwilligen Selbstverpflichtung für Extremfälle drängte. Sogar ein Richter bestätigte ihr per Urteil, sie gehöre zu den wenigen Personen, die sich darauf berufen konnten. Ihr Räumungsverfahren konnte der Richter aber nicht stoppen, weil dazu keine rechtliche Handhabe geschaffen worden war.

So kritisiert die Opposition, dass die Regierung bisher keine Änderungen an den Gesetzen vorsieht, die auf den Anfang des 20. Jahrhunderts zurückgehen. Der PSOE-Chef Alfredo Pérez Rubalcaba sagte, dass sich die PP in den Verhandlungen geweigert habe, das Moratorium für die gelten zu lassen, die unter das bisherige freiwillige Abkommen fallen. Er habe auch Rechtsverbindlichkeit gefordert, dass Banken Räumungen tatsächlich auszusetzen müssen. Die Opposition erinnert daran, dass gerade am der Europäischen Union (EuGH) festgestellt wurde, dass in Spanien mit missbräuchlichen Vertragsklauseln Verbraucherrechte ausgehebelt werden. Betroffene hätten praktisch keine juristische Möglichkeit, ein Räumungsverfahren zu stoppen und seien "schutzlos" (Das Zwangsräumungsdrama in Spanien).

Gruppen wie Stopp Räumungen oder die Plattform der Hypothekenbetroffenen (PAH) sammeln erneut Unterschriften für eine Volksinitiative (ILP) um darüber ein entsprechendes Gesetz ins Parlament einzubringen. Benötigt werden dafür bis Ende Januar 500.000 Unterschriften, doch diese Zahl ist mit über 600.000 schon weit überschritten. Mikel Sanchez erklärt, dass darin nur zusammengefasst sei, was in anderen Ländern normal sei. Vorgesehen ist, dass die Hypothekenschuld mit der Rückgabe der Immobilie an die Bank beglichen wird, wie zum Beispiel in den USA. In Spanien verlieren die Familien derzeit ihre Wohnungen, sitzen danach aber oft auf einem Schuldenberg.

Denn nach spanischer Rechtslage übernehmen die Banken die Immobilien nur für die Hälfte des Werts, wenn sie sie nicht zwangsversteigert werden können. "Eingerichtet werden soll auch eine Sozialmiete, mit der die Betroffenen in ihren Wohnungen bleiben können", sagt Sanchez. Die soll 30% des Familieneinkommens nicht übersteigen. Es mache keinen Sinn, wenn Banken, die noch dazu mit Steuermilliarden gestützt werden, die Menschen räumen und dann die meist unverkäuflichen Wohnungen leer stehen und verfallen. Für die PAH ist das Dekret nicht mehr als ein Flicken auf der miserablen Selbstverpflichtung. Befürchtet wird ein Wettlauf darum, wessen Lage am miesesten ist.