"Die hebräische Sprache ist meine wahre Heimat"

Der israelische Historiker Shlomo Sand über die Gründung Israels durch einen Akt der Vergewaltigung, über Hebräisch und Arabisch als die Sprachen Israels und den Rassismus in Israel

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Der israelische Historiker Shlomo Sand gilt als einer der kontroversten Publizisten im eigenen Land. In seinem neuen Buch "Die Erfindung des Landes Israel - Mythos und Wahrheit" setzt er sich kritisch mit dem Gründungsmythos seiner Heimat auseinander.

Herr Sand, Sie haben die Gründung Israels einmal als einen Akt der Vergewaltigung bezeichnet. Wie meinen Sie das?

Shlomo Sand: Betrachtet man die Motive für eine Vergewaltigung, falls diese vorliegen, kann man eine Vergewaltigung trotzdem niemals rechtfertigen. Warum halte ich die Gründung Israels für einen Akt der Vergewaltigung? Nun, mit der Verkündung der Balfour-Deklaration, als Großbritannien sich 1917 theoretisch mit den zionistischen Vorstellungen nach einer jüdischen Heimstätte in Palästina einverstanden erklärte, lebten dort etwa 700.000 Araber. 1948, mit der Gründung Israels, lebten in dem Gebiet zwischen dem Meer und dem Fluss Jordan etwa 1,3 Millionen Araber und etwa 200.000 Juden. Die Umsetzung der Idee, in Palästina einen jüdischen Staat zu gründen, wo die Bevölkerungsmehrheit aus Arabern besteht, ist für mich nichts anderes als ein Akt der Vergewaltigung. Aber auch wenn man diese historischen Fakten zu Grunde legt, auch wenn es sich um einen Akt der Vergewaltigung handelte, haben die Kinder, die aus dieser Vergewaltigung hervorgegangen sind, ein Recht auf Leben. Bei diesen Kindern handelt es sich um die Nation Israel, sowie um die Nation Palästina. Ich gehe nicht davon aus, dass es eine palästinensische Nation vor der zionistischen Gründung Israels gab.

Das Existenzrecht Israels steht für Sie also nicht zur Debatte?

Shlomo Sand: Natürlich nicht. Das Existenzrecht Israels steht für mich fest. Aber auch wenn ich dieses Existenzrecht Israels verteidige, bedeutet das nicht, dass ich historische Fakten ignoriere, verdrehe oder verdränge. Die einzige Rechtfertigung für die heutige Existenz Israels liegt nicht in der Geschichte begründet, hat nichts mit der Shoa zu tun, sondern liegt darin begründet, dass heute eine israelische Gesellschaft existiert. Wenn ich meine palästinensischen Freunde darum bitte, das Existenzrecht Israels anzuerkennen, kann ich doch aber trotzdem einen Araber verstehen, der 1948, oder auch 1967, Probleme damit hatte und hat, den Staat Israel anzuerkennen.

Würden Sie der These zustimmen, dass fast jede Gründung eines Nationalstaates in der Geschichte der Menschheit gemäß Ihrer Definition eine Art von Vergewaltigung darstellt?

Shlomo Sand: Die meisten ja. Das gilt besonders für die aus Kolonisation hervorgegangenen Nationalstaaten, wie beispielsweise die USA, Australien etc. Teilweise handelte es sich hierbei um weit schlimmere Akte der Vergewaltigungen. In diesem Zusammenhang darf man auch nicht unerwähnt lassen, dass das zionistische Projekt nicht auf der ideologischen Grundlage basierte, eine Ethnie auszulöschen. Gewalt spielte aber bei allen Gründungen eines Nationalstaates eine Rolle, von der andere Volksgruppen betroffen waren und sind.

Theodor Herzl und der Nationalismus

Nationalismus bildet überwiegend das Fundament für die Gründung eines Nationalstaates, welcher auf den Prinzipien des Protonationalismus basiert, wie sie der Soziologe Ernest Gellner einst formulierte. Bezüglich der Gründung Israels, beziehungsweise der ideologischen Grundlagen des Zionismus, stellte Theodor Herzl so etwas wie den Vertreter des Protonationalismus dar?

Shlomo Sand: Herzl und sein Buch betrachte ich schon als Nationalismus, als reinen Nationalismus. Protonationalismus wurde in der jüdischen Gemeinschaft im Osten Europas des 19. Jahrhunderts durch andere Personen vertreten, durch Leo Pinsker beispielsweise, aber nicht durch Herzl. Gellner definierte Nationalismus ja als ein Phänomen der modernen Welt. Als historisches Beispiel in meinem Buch habe ich die Puritaner erwähnt, bei der Besiedlung Nordamerikas. Bei den Puritanern damals handelte es sich noch nicht um den Protonationalismus, wie er im 19.Jahrhundert auftritt, als geschlossenes ideologisches Phänomen, aber um eine Art davon.

Theodor Herzl wurde tangiert von dem anwachsenden Nationalismus in Europa. Tauschte er seine jüdische Identität gegen einen Nationalismus als Antwort auf den Nationalismus und den Antisemitismus seiner Zeit?

Shlomo Sand: Meiner Meinung nach war Herzl kein Jude Er wuchs in einer Familie auf, die ihre jüdischen Glauben verloren hatte. Er selbst war nicht religiös. Er selbst ließ seinen Sohn nicht beschneiden, was für einen gläubigen Juden einen Akt der Separation darstellt. Zum jüdischen Chanukka-Fest stellte er einen Weihnachtsbaum auf, Herzl war durch und durch deutsch, auch wenn er in Budapest aufgewachsen ist. Er wollte ein Deutscher sein, sogar ein deutscher Nationalist, bis er feststellen musste, dass der deutsche Nationalismus gegen Ende des 19. Jahrhunderts ihn nicht ausreichend akzeptieren würde.

War sein politisches Denken von Romantik geprägt, wie bei vielen politischen Denkern im deutschsprachigen Raum jener Zeit?

Shlomo Sand: Sicherlich, Herzl übernahm bei seiner Theorie des Zionismus eine ganze Menge Ballast vom deutschen Nationalismus, wie beispielsweise die Romantik. Allerdings spielte für ihn das Konzept Ethnizität eine wesentlich geringere Rolle. Er war sehr rational diesbezüglich, ein rationaler Romantiker.

War Herzl ein Visionär? Immerhin formulierte er die zukünftigen Gefahren für Juden in Europa deutlicher als andere politische Denker ?

Shlomo Sand: Ja, sein politischer Instinkt war weitaus ausgeprägter als der von anderen Publizisten seiner Zeit. Gerade weil Herzl selbst in nationalistischen Kategorien dachte, entwickelte er einen Instinkt für die drohenden Gefahren. Er hatte sicherlich seine Gründe, warum er postulierte, die Juden müssten Europa verlassen, andernfalls werde man sie vertreiben. Das erkannte er wesentlich deutlicher, als jüdische Publizisten wie Karl Kautsky oder Eduard Bernstein, die wesentlich intelligenter waren als er.

Amos Oz hat in einem Interview einmal gesagt: "Mein Vater sprach bis zu elf, meine Mutter vier bis fünf Fremdsprachen; mir haben sie einzig und alleine Hebräisch beigebracht. Sie wussten von der Ausstrahlungskraft und Verführungskunst der europäischen Kultur und wollten mich vor den Enttäuschungen ihres Lebens und vor den von diesem Kontinent ausgehenden Gefahren für Juden der 30er und 40 er Jahre des letzten Jahrhunderts bewahren." War das in Ihrer Familie ähnlich?

Shlomo Sand: Nein, die Eltern von Amos Oz waren ideologische Einwanderer, zionistische Pioniere. Meine Eltern kamen nach Israel als Flüchtlinge, die kein anderes Land aufnehmen wollte. Sie starben, ohne jemals fließend Hebräisch gelernt zu haben. Miteinander sprachen meine Eltern Jiddisch, was damals in Israel verpönt war. Während meiner Kindheit war Israel eine Art Babylon, wo die Einwanderer sich in den Sprachen ihrer Herkunftsländer ausdrückten, während das zionistische Establishment Hebräisch sprach. Ich wuchs in Jaffa auf, in einer damals von bulgarischen Juden dominierten Gegend. Mit meinen Spielkameraden unterhielt ich mich auf Bulgarisch, was ich damals auf der Straße lernte, während ich mit meinen Eltern auf Jiddisch kommunizierte. Mit dem einsetzenden Schulbesuch wuchs ich dann mit der hebräischen Sprache auf, in die ich mich schließlich verliebte.

Wie meinen Sie das?

Shlomo Sand: Nun, ich begann Hebräisch zu schreiben, zu denken, zu fühlen. Wenn ich mit Mädchen flirtete, oder Liebe machte, geschah das auf Hebräisch, was zu dem Idiom meiner Emotionen wurde.

Hebräisch wurde also so etwas wie Ihr Schlüssel zu der israelischen Gesellschaft?

Shlomo Sand: Richtig, Hebräisch erschloss mir den Zugang zu Israel. Die hebräische Sprache ist meine wahre Heimat. Manchmal, wenn ich von Israel die Nase voll ab, wenn ich mich dort nicht mehr Zuhause aufgrund politischer Entwicklungen fühle, bin ich froh, dass mir niemand meine Sprache nehmen kann. Demnächst werde ich damit anfangen Arabisch zu lernen.

Weshalb?

Shlomo Sand: Weil ich der Meinung bin, dass es sich bei Hebräisch und Arabisch um die beiden Sprachen Israels handelt, das jeder jüdische Bürger Israels Arabisch lernen sollte, so wie jeder arabische Israeli Hebräisch, dann hätten beide Volksgruppen eine gemeinsame Sprache.

In den letzten 20 Jahren strömten Hunderttausende von Neueinwanderern nach Israel, besonders nach dem Untergang der Sowjetunion. Neben Hebräisch und Arabisch ist Russisch heute so etwas wie die dritte inoffizielle Amtssprache Israels. Glauben Sie, für diese jüdischen Einwanderer, die ja oftmals an ihren Muttersprachen festhalten, ist Hebräisch immer noch so etwas, wie der Schlüssel zu der Israelischen Gesellschaft?

Shlomo Sand: Es stört mich überhaupt nicht, wenn diese Einwanderer neben Hebräisch noch in anderen Sprachen parlieren, Russisch, Ukrainisch, Georgisch, etc. Es hat auch positive Aspekte, wenn sie ihre linguistische Kultur schützen und pflegen, es handelt sich ja um eine faszinierende Kultur, allerdings benötigen wir eine gemeinsame Sprache in Israel, wie auch in anderen Einwanderungsgesellschaften.

Es gibt und gab nie ein jüdisches Volk

Welche politische Entwicklung innerhalb der Israelischen Gesellschaft besorgt Sie momentan am stärksten?

Shlomo Sand: Neulich hat eine Umfrage ergeben, dass die Mehrheit der Israelis nichts dagegen hätte, in einem Apartheid-Staat zu leben. Meiner Meinung nach ist die Israel der rassistischste Staat innerhalb der westlichen Welt. Diese Entwicklung betrachte ich mit großer Sorge.

Haben Sie für das von Ihnen beschriebene Anwachsen des Rassismus innerhalb Israels eine Erklärung?

Shlomo Sand: Ein Grund liegt natürlich in der jahrzehntelangen Besetzung des Westjordanlands. Israel ist natürlich kein Apartheid-Staat innerhalb der Grenzen von 1967. Aber das israelische Besatzungsregime im Westjordanland enthält Züge eines Apartheid-Regimes. Ein weiter Grund liegt darin, dass Israel sich immer mehr als jüdischer Staat definiert. Es gibt und gab nie ein jüdisches Volk. Seit der Existenz Israels gibt es ein israelisches Volk, welches sich zusammensetzt aus Juden unterschiedlichster Herkunft, von Marokko bis Moldawien, sowie aus einem Viertel Nichtjuden.

Glauben Sie denn nicht, dass die jüdische Religionszugehörigkeit ein besonderes Zusammengehörigkeitsgefühl vermittelt?

Shlomo Sand: Das kann durchaus sein. Auch Katholiken aus Polen und Brasilien fühlen sich vielleicht verbunden, wenn sie in Rom zusammen beten, dafür gibt es trotzdem kein katholisches Volk. Allerdings neigen Menschen dazu, nicht nur Juden, im Zeitalter der kulturellen Globalisierung eine Art Tribalisierung zu betreiben, sich in Gruppen zusammenzuschließen, sich von anderen Gruppen abzusondern, auf andere Gruppen herunterzuschauen, sich überlegen oder als auserwählt zu fühlen.

Haben Sie manchmal das Gefühl, dass Sie mit Ihren Thesen, welche Sie auch in Ihrem neuen Buch "Die Erfindung des Landes Israel" formulieren, den Feinden Israels Argumentationsmaterial liefern?

Shlomo Sand: Nein. Wenn irgendwelche Feinde Israels meine Thesen studieren, dann stellen Sie rasch fest, dass das Existenzrecht Israels für mich nicht zur Debatte steht, wie ich es schon zu Beginn des Gespräches erwähnte.

Trotzdem werfen Ihnen Kritiker eine antiisraelische Agitation vor, auch jetzt nach der Veröffentlichung Ihres neuen Buches.

Shlomo Sand: Kritik ist völlig legitim, allerdings hat mich in Israel noch niemals ein Kritiker in die Nähe von Holokaust-Leugnern gerückt, wie es Henryk M. Broder in Deutschland getan hat.

Was entgegnen Sie darauf?

Shlomo Sand: Henryk M. Broder ist weder Israeli, noch hat er für Israel gekämpft, sein Leben riskiert, wie ich als junger Soldat. Trotzdem scheint er Israel als seinen Privatbesitz zu betrachten. Broder schrieb kürzlich in der Welt :"Würde irgendein Revisionist, sagen wir: David Irving, Bücher über die "Erfindung des jüdischen Volkes" und die "Erfindung des Landes Israel" schreiben, hätte er große Mühe, einen angesehen deutschen Verlag für seine Arbeiten zu finden. Handelt es sich aber um einen "israelischen Historiker", liegen die Dinge anders." Darauf kann ich nur antworten: "Würde Anders Breivik Artikel schreiben, hätte er große Schwierigkeiten eine angesehene deutsche Zeitung für seine Arbeiten zu finden. Handelt es sich aber um einen Henryk M. Broder, dann liegen die Dinge anscheinend anders.!"

Vielen Dank Shlomo Sand!

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