Auf den Straßen herrscht der Wahnsinn

Gerade gab es erst wieder sechs Tote und fünf Verletzte durch einen "Geisterfahrer", aber wir fahren weiter, als wäre nichts geschehen

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"Ein Falschfahrer hat auf der Autobahn A 5 in Baden-Württemberg einen schweren Unfall mit sechs Toten verursacht. Fünf weitere Menschen wurden zum Teil schwer verletzt", so die SZ mit Verweis auf Informationen der Polizei Offenburg. Der junge Mann wird als "Geisterfahrer" tituliert, der angeblich unbeabsichtigt auf die falsche Spur der Autobahn gefahren ist. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass (junge) Menschen, die verzweifelt sind, nach dem Amoklauf zunehmend das Auto als Waffe entdecken, um sich selbst zu töten. Das geschieht ohne jeden Versuch, Aufmerksamkeit zu erregen und sich als Person verewigen zu wollen, wie dies die Aufmerksamkeitsterroristen machen. Doch die stille Ausnutzung der Möglichkeiten, sich von anderen töten zu lassen, weil man Angst hat, selbst Hand an sich zu legen, könnte das alltägliche soziale Gewebe nachhaltig verunsichern.

Bild: F.R.

Es ist erstaunlich, wie sicher wir uns wähnen, wenn wir am Lenkrad eines Autos sitzen und dieses inmitten einer Vielzahl von anderen Fahrern steuern. Zwar wissen wir, welche Wut und Aggression in den abgeschirmten Räumen der Fahrzeuge explodieren können, auch wenn wir es selten bei den anderen mitkriegen, wenn nicht gehupt, gedrängelt oder irgendwelche pöbelnde Zeichen gegeben werden. Wir wissen es von uns selbst, wie wir zum Pöbel werden, wenn wir nicht zusammen mit den anderen denselben Raum wie in einer Straßenbahn, einer U-Bahn oder als Fußgänger auf der Straßen teilen, sondern in einem Panzer unterwegs sind.

Wir wissen auch, wie unberechenbar die Mitmenschen und wir selbst sind oder sein können, wie viele Verrücktheiten oder Eigenarten es gibt - und dass die Verkehrsregeln, an die wir uns mehr oder weniger halten, uns nicht wirklich schützen können, so lange noch Menschen an den Schalthebeln sitzen und nicht Computer die Autos steuern. Menschen fahren gern "sportlich", d.h. in einer Massenfahrgesellschaft riskant für die anderen. Sie glauben, alles im Griff zu haben, und fahren doch zu schnell, um wirklich reagieren zu können. Auch das ist nach dem Geisterfahrer oder Selbstmordattentäter geschehen. Eine Frau wollte helfen und wurde von einem anderen Autofahrer, der im Nebel zu schnell fuhr, überrollt, ein anderes Auto fuhr, auch wohl für die Sichtverhältnisse zu schnell, in die Karambolage. Die drei Beteiligten wurden nur verletzt, aber es hätte auch weiter Tote geben können.

Der Unfall - oder der mögliche Selbstmordanschlag - geht durch die Medien, erregt kurz Aufmerksamkeit und wird abgehakt. Wie anders sollte man ohne Dauerpanik ein Auto steuern? Schließlich muss man nicht nur Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten haben, sondern auch in die der anderen. Das Vertrauen - man könnte auch Parallelen zur Finanzwelt ziehen - ist hochgradig irrational - was nebenbei auch an der Terrorangst deutlich wird, wo die Gefährdung extrem niedrig und die Vorkehrungen zur Verhinderung etrem hoch sind. Dass Vertrauen in den anderen Verkehrsteilnehmer irrational ist, weiß auch jeder, der kurz nachdenkt. Aber dem darf man nicht nachhängen, weil man sonst aus der Kurve fliegt und den Mitmenschen, zumindest dem, der in seinem Panzer, die SUVs demonstrieren dies auch noch explizit, mit hoher und damit tödlicher Geschwindigkeit den gemeinsamen Raum teilt.

Was wäre, wenn dieses Urvertrauen in den anderen, von dem man ausgeht, rational oder vernünftig zu handeln, nicht vorhanden wäre? Was wäre, wenn wir jederzeit damit rechnen würden, dass der andere eine Dummheit macht, die uns gefährden könnte? Das wäre ein Albtraum, eine gemeinsamer Lebensraum, in dem man sich kaum mehr bewegen könnte, Katatonie könnte eine Folge sein oder der Tanz auf dem Vulkan. Aber weil der Alltag uns einnebelt und einfängt, weil wir weiter leben und arbeiten müssen, überlassen wir uns vertrauensvoll der Extremsportart Autoverkehr und haben eher Angst vor einem Flugzeugabsturz oder einem Terroranschlag.