Abschreckung funktioniert nicht

Gaza: Zivile Opfer, Extremisten und der Frust

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Auch die Operation Pillar of Defense folgt den Etappen, die schon die früheren israelischen Militäraktionen gekannt haben, Grapes of Wrath (1996), Defensive Shield (2002) oder die Operation Cast Lead (2008).

Am Anfang gibt es Äußerungen von Verständnis seitens westlicher Politiker, dass sich Israel verteidigen muss und beeindruckte Kommentare in Medien ("The I.D.F.’s success is quite impressive") und dann passiert, was immer passiert - aller vorgeblichen Präzision zum Trotz: eine Rakete, die auf ein Wohnhaus trifft und das Leben von Familien auslöscht.

Fünf Frauen, vier Kinder und drei Männer sind bei diesem Angriff ums Leben gekommen; die Schockwirkung der Bilder, verzweifelte Frauen (für die Fotografen traditionell in biblischer Klagepose), tote Kinder, Wohnhäuser in Schutt und Asche, verändern die öffentliche Meinung.

Die kritischen Stimmen werden lauter, es gibt erste Äußerungen aus der UN-Führung, von westlichen Regierungen und, wie heute, aus dem Nato-Kommando-Stab, die Israels Führung zur Mäßigung drängen.

NATO Secretary General Anders Fogh Rasmussen urges Israel to show "restraint" in its defense against attacks from Gaza. "Of course Israel has the right to self-defense, and attacks against Israel must end. But the international community would also expect Israel to show restraint," Rasmussen says.

95 Tote werden von der IDF mittlerweile im Gaza-Streifen gezählt. Der gestrige Sonntag war bislang der schlimmste Tag im Palästinensergebiet.

Die Dahiya-Dokrin

Die Auseinandersetzungen über die Strategie werden härter. Der arabische Knesset-Abgeordete Ahmad Tibi, nicht gerade ein Freund der Regierung, unterstellt der israelischen Armee, dass sie die Dahiya-Dokrin anwendet. Auslöser war eine Bemerkung des israelischen Analysten Roni Daniel, die nicht nur Tibi als eine Forderung nach noch größerer Zerstörung verstand. Die Dahiya-Dokrin setzt auf Abschreckung durch eine Strategie, die willentlich zivile Ziele ins Visier nimmt, um das Leiden der Zivilbevölkerung zu vergrößern.

Dass diese Strategie ihre Anhänger hat, demonstriert der Sohn des ehemaligen Ministerpräsidenten Ariel Scharon, Gilad. In einem Meinungsbeitrag für die Jerusalem Post äußert er die Ansicht, dass es "keinen Mittelweg" gebe; Ziel der aktuellen Operation müsse, um die Fehler der vorhergehenden Operation Cast Lead zu vermeiden und die Raketenangriffe auf Israel zu beenden, ein Sieg sein, "der wie ein Tarzan-Schrei dem ganzen Dschungel bekannt gibt, wer eindeutig der Sieger ist", nämlich der, der Gaza platt gemacht hat - Abschreckung, wie sie Gilad Scharon erklärt:

That’s what’s called "deterrence" - if you shoot at me, I’ll shoot at you. There is no justification for the State of Gaza being able to shoot at our towns with impunity. We need to flatten entire neighborhoods in Gaza. Flatten all of Gaza. The Americans didn’t stop with Hiroshima - the Japanese weren’t surrendering fast enough, so they hit Nagasaki, too.

Geht es nach dem Blogger Ali Abunimah, so steht Gilad Scharon mit solch extremen Rambo-Kriegsgeschrei nicht alleine. Die Hardliner halten an der Weltsicht fest, es gebe Lektionen, die die Hamas - und all jene, die sie irgendwie unterstützen und dazu reicht, dass sie im Gaza-Streifen leben - lernen müsse (Gaza: Welche Lektion?).

Doch das funktioniert nicht. Was die militärischen Gruppen in Gaza diesmal gelernt haben, ist, dass sie Raketen nach Tel Aviv und Jerusalem schießen können, mitten im Angriff der IDF, und dass sie, trotz der Erfolge der IDF, weiterschießen können, als ob es keinerlei Nachschubprobleme gebe.

Es gibt in der IDF einigen Frust darüber, dass die Raketenangriffe aus Gaza weitergehen, berichtet Haaretz. Die Ziele für die Angriffe aus Israel würden gleichzeitig schwieriger, weil sie in Wohngebieten liegen. Der Hamas wird Feigheit vorgeworfen. Tagsüber, so die Beobachtung der israelischen Armee, verbergen sich die Kämpfer in den Tunnels. Manche Raketen, die aus Wohngegenden abegeschossen werden, sind ferngezündet, heißt es. Gefolgert wird daraus: Die Hamas setzt sich ab und die Zivilbevölkerung höchster Gefahr aus, die dann ausbaden müsse, was die Hamas provoziere.

Opfer in der Zivilbevölkerung haben auch keine Abschreckungswirkung, stellt der Zeitungsbericht fest. Stattdessen führen sie zu einer größeren Solidaritätswelle unter den Arabern und zu mehr Unterstützung für die Hamas. Der "außergewöhnliche Propaganda-Erfolg der IDF", den Amira Hass kritisiert, ist dabei, zu verblassen. An seine Stelle tritt die Frage, warum solche Operationen unternommen werden, wenn sie immer wieder zum selben aussichtslosen Punkt geraten und keinen Schritt weiterführen.

And so Israel again provides reasons for more young Palestinians, for whom Israel is an abnormal society of army and settlers, to conclude that the only rational resistance is spilled blood and counter-terrorizing. And so every Israeli link of oppression and all Israeli disregard of the oppression's existence drags us further down the slope of masculine competition.

Amira Hass

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Allerdings zeigt sich auch, dass die bewaffneten Gruppen der Palästinenser in der öffentlichen Wahrnehmung immer besser aus solchen Konfrontationen herausgehen. Niederlagen, wie sie Gilad Scharon im Sinn hat, gibt es nicht.

In Wirklichkeit setzte nach jeder Militäroperation der letzten Jahre in Israel große Kritik daran ein, dass die Ziele, die man im Sinn hatte, nämlich die deutliche Schwächung des terroristischen Gegners (Hamas oder Hisbullah) und dessen Demütigung eben nicht erreicht wurde.

Als Bilanz blieb der Weltöffentlichkeit jedesmal eine große Zahl von zivilen Toten in Erinnerung. Dazu kam der Eindruck, dass die bewaffneten Gruppen jedesmal dazugelernt haben und dem großen Gegner mit neuen Waffen und besseren Strategien getrotzt haben - auch das auf Kosten der Zivilbevölkerung. Die Hamas kann damit ganz gut leben. Wie es bisher aussieht, wird sich an dieser Wahrnehmung auch nach der Operation Pillar of Defense nicht viel ändern. Wo liegt Israels Gewinn?