Geisterstädte leben länger

Ta Prohm in Groß-Angkor. Bild: Erik-Jan Ouwerkerk

Der unheimlich erbauliche Untergang von Städten

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Wer die städtischen Architekturszenerien von Video- und Computerspielen aus der Einheit von Zeit, Raum und Handlung herauslöst, wird sie für reine Phantasie halten. Die Stadt der Zukunft ist bei "Factory Fifteen" aus wabernden Wohnwaben kompiliert, die jeder rationalen Tektonik widersprechen. Die Wohnordnung ist offen nach oben und zum Untergrund. Im Licht antiker Laternen ruhen Kühe als Vertreter abwesender Anwohner. Das Stadthaus scheint den Mond verschlungen zu haben, der das fahle Nachtblau der Wandfalten durchleuchtet. Eine Stadt weiter erheben sich die Wohnsilos des Konzeptkünstlers Daniel Dociu wie Kartenhäuser aus spiegelnd gesprungenem Glas, in das sie jederzeit krachen können. Und der Turm zu Babel wird in immer neuen Varianten gebaut. Was auf der einen Seite hochgezogen wird, fällt auf der anderen zusammen.

Beruhigend, aus der Phantasie zurückkehren zu können in den nüchtern aufgeklärten Tag, in welchem konträre Dinge nicht so unmittelbar zusammenstoßen und uns hinabzureißen drohen. Wenn aber nach Stanislav Lem das Virtuelle an der Virtualität gerade darin besteht, sich nicht von der Realität zu unterscheiden, ist eine Rückkehr nicht möglich. Es sei denn, wir träumen, in die Realität zurückgekehrt zu sein. Oder ist die Realität selbst der Traum? Die Stadt der Zukunft1 ist kein Hirngespinst. Die Zukunft ist schon dagewesen. Und sie ist noch.

Vor dem Tempel Ta Prohm in Angkor/Kambodscha weiden die Kühe. Aus den Gemäuern wächst wie aus einem Medusenhaupt die riesige Würgefeige. Oder ist es der Baum, der das Gemäuer hält? Groß-Angkor war eine historische Megacity, Angkor Wat die größte Tempelanlage der Welt. Das Reich der Khmer erlebte seine Blüte zwischen dem 9. und 15. Jahrhundert.

Über die Gründe des Untergangs streiten die Gelehrten. War es eine Invasion, waren es Intrigen, war es Rebellion? Eine sehr modern anmutende Hypothese kommt hinzu: Klimawandel. Für die Reiskulturen hatten die Herrscher riesige Stau- und Bewässerungsanlagen bauen lassen, einen "wunderbaren Mechanismus zur Regulierung der Welt". Gerade wegen ihrer Dimension wurden die Anlagen mit dem verschärften Wechsel von Dürre- und Regenperioden nicht fertig. In den realen Ruinen solcher Zivilisationen zu wandeln, versetzt in einen halbwachen Schwebezustand. Wir üben die Gestensprache ein, die wir in "Smart City" zur Kommunikation mit der Technik benötigen werden. Frei von physischen Berührungen. In Südkorea werden schon Dutzende solcher Städte etabliert. Je technischer die Stadt, desto näher rückt der verheißene Garten Eden. Das einzig Reale an solchen Paradiesen wird die Vertreibung sein. Und die Geschichte geht von vorne los.

Würgefeige am Tempel Ta Prohm. Bild: Förnges

Die Animateure des virtuellen Zeitalters bedienen sich der Trümmer der Zivilisation, um sie in Visionen der zukünftigen Stadt zu transformieren. Als Vorlage dient auch Kowloon, ein wildgewachsener, weil illegaler Stadtteil von Hongkong. Die Häuser wuchsen verschachtelt erschreckend hoch, bis die Regierung eingreifen und die Wohnbevölkerung evakuieren musste.

Die Beinahe-Katastrophe war eindeutig menschlichem Handeln geschuldet, doch gibt es in der langen Liste der Gründe von Stadtuntergängen auch natürliche wie Vulkanausbrüche oder Epidemien. Aber erst die Erkenntnis, dass menschliche und natürliche Ursachen miteinander verschränkt sind, gibt Aufschluss über das, was kommen könnte. In Afrika werden Stadtregionen dezimiert durch AIDS. Was ist der menschliche, was der natürliche Faktor?

Venedig könnte zum neuen Atlantis werden. Das Absinken wird durch anthropogene Einflüsse beschleunigt - ganz offenkundig dann, wenn umgekehrt proportional etwa die maledivische Hauptstadt durch einen Anstieg des Meeresspiegels bedroht ist. Reicht die kausale Kette über die Atmosphärenerwärmung bis zu den schmelzenden Polkappen? Wieder streiten die Gelehrten. Ist dieser Streit Symbol der Unberechenbarkeit und Unplanbarkeit von Stadtentwicklung? Erdbeben oder Vulkanausbrüche - Pompeji in die Schockstarre der Versteinerung versetzend - gehen aufs Konto der Natur. Aber stehen sie nicht in Relation zu mangelnder Voraussicht? Sind Städte die Szenerie tragischer Schauspiele: sehenden Auges in den Untergang, ohne reagieren zu können? Danach zusammenkehren und Kraft sammeln zur Neugründung.

Museum von Ordos-Kangbashi. Bild: Chaloos

Was wäre aber, wenn eine Stadt neu gegründet würde und keiner zieht hin? So geschehen in Ordos in der Inneren Mongolei. Seit 2004 wird in der Steppe nahe Dschingis Khans Hauptsitz eine Retortenstadt errichtet, die im Endausbau eine Million Einwohner aufnehmen soll. Alles ist da, im Zentrum ein 1,5 km langer Platz an einem künstlichen See, Einkaufszentren, Schwimmbäder, eine futuristische Bibliothek und ein Museum, das wie ein gestrandeter Walfisch aussieht. Die Wohnhäuser verkörpern einen innerchinesischen Kolonialstil, falls es so etwas gibt. Bewohner gibt es nicht und auch keinen Verkehr, selbst wenn er von Polizisten geregelt wird.

Kangbashi: zentraler Platz mit Opernhaus. Bild: Chaloos

Die totenstille Geisterstadt verkörpert Reichtum und sonst nichts. Um die Jahrtausendwende sind riesige Erdgas- und Kohlevorkommen entdeckt worden. Die kleine alte Kreisstadt wurde mit der 25 km entfernten Neugründung Kangbashi zur neuen Verwaltungseinheit Ordos zusammengefasst. Die Stadt beschloss, ihr Vermögen in Immobilienentwicklung auf eigenem Territorium zu stecken, sonst fielen die Erlöse an den Staat. Im Geflecht aus öffentlich-privater Korruption eigneten sich Investoren die Apartments in Kangbashi an, aber niemand aus der alten Stadt möchte dorthin ziehen. Wer über diese Spekulationsstadt ins Schmunzeln gerät, dem wird es mit dem Platzen der nächsten Immobilienblase vergehen.

Kohle, Krieg und Kröten

Im Umkreis der französischen Revolution kamen Utopien "schwimmender Inseln" auf, losgelöst vom Festland, um auf ihnen die glückliche Ordnung einer Idealstadt zu gründen. Eine solche Insel gibt es im Meer vor Nagasaki. Für ein amerikanisches U-Boot war sie die Fata Morgana eines Schlachtschiffes. Es nahm sie unter Beschuss. Gunkanjima (Schlachtschiffinsel) ist der Spitzname Hashimas, weniger als 1 km lang und ein Fanal des industriellen Auf- und Abschwungs. 1890 von Mitsubishi günstig erworben, wurden in der Spitzenzeit 400.000 to Kohle jährlich unter Tage gefördert. Das war im Zweiten Weltkrieg. Koreanische und chinesische Zwangsarbeiter wurden eingesetzt. 1.300 von ihnen starben, Flucht durch Schwimmen war zwecklos.

Hashima, auch Gunkanjima (Schlachtschiffinsel) genannt. Bild: Nina Fischer & Maroan el Sani (aus der Video-Installation "Spelling Dystopia")

Aber am Anfang stand eine Musterstadt. Ein neunstöckiges Stahlbetonhaus war 1916 ein Novum. Wohndichte wurde zur Kunstform des Bauens: 835 Bewohner pro ha drängten sich im Labyrinth. Die Tatami-Matte; das Maß aller wohnlichen Dinge in Japan, wurde mit sechs multipliziert, und heraus kamen weniger als 10 qm große Wohnungen für die Arbeiter. Aber alles war da vom Bordell bis zum Krankenhaus. Durch Abraum wurde die "Betoninsel"2 erweitert. Die Versorgung kam komplett vom Festland. 1957 wurde eine Wasserleitung verlegt. Damals wurden die Arbeiter zu Pionieren der Fernseh- und Kühlschranknutzung und machten Bekanntschaft mit Vegetation durch Gemüseanbau auf Dächern. 1974 war Schluss. Erdöl machte Hashima zur gespenstischen Post-Coal City. Der Exodus geschah über Nacht und ließ gedeckte Tische zurück. Die Dinge wurden von ihren Herren verlassen. Sie wurden "rein", für sich seiend. Die Verdinglichung der Insel war zugleich Aufhebung von Herrschaft. Arbeitsemigration war der Preis.

Hashima soll Weltkulturerbe werden. Bild: Nina Fischer & Maroan el Sani

Hashima bildet den Hintergrund für Mangas und für den Blockbuster 'Battle royale', einem Endspiel unter Schülern. Das reale Endspiel fand in Pripjat statt. Die sozialistische Standardstadt zerfiel zur Dystopie, zur Hölle auf Erden. Es ist fast schon vergessen, oder besser verdrängt, dass 1989 drei Reaktoren von Tschernobyl wieder hochgefahren wurden. Die Stadt jedoch, die ursprünglich Atomograd hieß, blieb - endgültig? - geschlossen, selbst wenn Schule, Supermarkt und Wohnhäuser durch natürlich-sinnlichen Verfall auf paradoxe Weise der Unsichtbarkeit der Gefahr trotzten. Den Menschen gelang dies nicht. Aber die Nachfahren halten sich ebenfalls an die dinglichen Fetische. Einer kehrte nach Pripjat zurück, um die Tür seiner Wohnung zu holen, auf der sein Vater aufgebahrt gewesen war. Den zynischen Kommentar dazu liefern Filmtitel wie "Return of the Living Dead".

Pripjat bei Tschernobyl. Bild: Alexandr Vikulov

Kriegerische Handlungen sind der häufigste Grund für die Räumung von Städten. Als die Einwohner von Varosha auf Zypern aus ihren Häusern vor der türkischen Besatzung flohen, ließen sie ihre Wäsche auf der Leine hängen. Sie würden ja bald zurückkehren. Die Hoffnung währt mittlerweile 38 Jahre. Dass der für Urlauber ausgebaute Stadtteil Famagustas am Meer liegt, hat vorsintflutliche Kreaturen angelockt. Seltene Meeresschildkröten brüten am verwaisten Strand vor den Hochhäusern. Urlaubsorte können auch ohne Kriege ins Jenseits befördert werden.

Die Ufo-Apartments aus Fiberglas in San Zhi/Taiwan waren von Anfang an am Nachfragemarkt vorbeigeflogen. Beim Bau gab es etliche Tote. Die Legende besagte, dass die Geister der Verstorbenen in den Häusern wohnen, was eine weitere Belegung verbot. 2010 war die Stadt allerdings dem Erdboden gleich gemacht worden.

Varosha / Famagusta. Bild: S. Ward

Schrumpfen war bis zur Renaissance der Städte, dem Wachsen durch Reurbanisierung, das große Thema in den USA und Europa. Aus der Autostadt Detroit war die "zwischengelagerte" Stadt geworden - zur Hälfte entvölkert, bis jüngst Raumpioniere die Stadtbrache zu erschwinglichen Preisen für sich entdeckten. Der Überlebenscode heißt Urban farming. Das Thema Rückbau ist in Europa nicht vom Tisch. Im Land Brandenburg liegen Modelle in der Schublade, sowohl Stadtteile als auch Landstriche aufzugeben und die Rumpfbevölkerung neu zu urbanen Clustern zusammenzufassen. Denn je weniger Einwohner an den kommunalen Versorgungsnetzen hängen, desto unrentabler werden diese bei steigenden Preisen.

In Centralia/Philadelphia strömen bis heute giftige heiße Dämpfe aus Rissen, die plötzlich im Erdboden aufklaffen. 1962 war ein Brand im Steinkohle-Bergwerk ausgebrochen. Menschliche Ursache oder Selbstentzündung? Menschliches Handeln, wie es kein Schlimmeres gibt, hat in Frankreich so vollständig eine Gemeinschaft ausgelöscht, dass eine Neubesiedlung unterblieb. In Oradour vermuteten SS-Truppen gefangengenommene Offiziere. Sie massakrierten alle Einwohner, die sie fanden, auch Frauen und Kinder. Solche Grausamkeit schließt dennoch eine "böse Natur" ein. Von den enthemmten Tätern werden die Opfer in Kreaturen verwandelt, die dem Erdboden gleichgemacht werden. Picassos Guernica zeigt das Entsetzen.

Von der Schönheit des Endes

300 km Straßen verliefen auf hohen Stelzen über dem Kaspischen Meer. Sie endeten in Plattformen. Wie Tentakel erstreckten sie sich bis zu 30 km um das Zentrum Neft Dashlaris, auf Deutsch: Felsen des Erdöls. 1949 errichtete die Sowjetunion eine der ersten Offshore-Anlagen der Welt für bis zu 5.000 Werktätige. Für sie wurden 16 Schlafhäuser errichtet. Dank der Wechselschicht konnten sich zwei Arbeiter ein Bett teilen. In der Aufbruchsstimmung kam das Bolschoi-Theater. Jungfräulich gewandete Ballerinen schwebten über der aus zahlreichen Lecks gespeisten öligen Brühe. Unter den werktätigen Zuschauern waren viele entlassene Sträflinge und Soldaten.

Das Zentrum von Neft Dashlari ist auf unterseeischen Felsen gegründet. Bild: Thin Line Productions / Marc Wolfensberger

Als die Partei einen politischen "Instruktor" für die künstliche Insel suchte, weigerten sich die angesprochenen männlichen Funktionäre. Klavdia Fomina sprang ein und lebt heute noch dort, in der Eremitage zwischen mobilem Kocher und Kartons. War Neft Dashlari in den 70er Jahren ein florierendes Gemeinwesen mit großer Bibliothek, Grünanlagen und sogar einer Limonadenfabrik, sieht es heute aus wie ein Metallfriedhof. Nur mehr Stümpfe ragen aus dem Wasser. Und Klavdia möchte gern dort begraben sein. Aber wie auf Hashima fehlt ein einziges Utensil: ein Friedhof. Natürliche Tode zählen nicht im Industrie-Utopia. Die unfallbedingten auch nicht.

Vom Ölpreisverfall nach der Wende erholte sich das heute aserbaidschanische Neft Dashlari nicht mehr. Als Post-Oil City hat es sich in sein eigenes Denkmal verwandelt. Die Verantwortlichen sehen eine künftige Alternative als Urlaubsdomizil. Der Filmemacher Marc Wolfensberger durfte die verbotene Zone betreten. Bei Abschluss des Drehs für seinen aufwühlenden Dokumentarfilm fühlte er sich "ein bisschen wie in Südfrankreich. Das Meer ist lange nicht mehr so schmutzig wie früher, und wenn der Wind weht, riecht man das Öl kaum mehr. Es ist ein schöner Ort. Man hat den Eindruck, man sei am Ende der Welt."

Die Partei rief, und Klavdia Fomina war zur Stelle, auf Neft Dashlari. Bild: Thin Line Productions

Das Ende der Welt muss keine Apokalypse sein. Es kann schön sein. Das Memento mori der Ruinen birgt Hoffnung. Das Verfallende ist ein Abwehrzauber gegen den Verfall. Es gab manieristische oder romantische Zeiten, in denen gleich Ruinen gebaut oder gemalt wurden. Indem sie den Verfall simulieren, sind sie ein Signal des Überlebens. Sie kommen dem Verfall zuvor. Ruinen sind einerseits ein Mahnmal der Vergeblichkeit des Baus überheblicher menschlicher Gemeinschaften: Vanitas. Sie geben andererseits den Blick frei auf Ewiges: Roma aeterna. Zwischen den Trümmern der versinkenden antiken Stadt wurde Gemüse angebaut.

Der Turmbau zu Babel ist bei Brueghel ein zu Trümmern aufgerichtetes Werk. Er trägt die Zertrümmerung in sich. Wenn die bürgerliche Gesellschaft, statt Integrations- und Identifikationszwang auszuüben, die ihr innewohnende Zertrümmerung als Moment ihrer Selbstreflexion annähme, würde sie nachhaltiger. Der Turmbau zu Babel ist eine Kritik an vollendeter Architektur. Zwischen Fertigem und Verfallendem, Aufwärtsstrebendem und Herabstürzendem, Künstlichkeit und Natürlichkeit vermittelt die Turmruine wie zwischen Virtualität und Realität. Sie macht Abwesenheit sichtbar. Zwischen Nicht-mehr-Sein und Noch-nicht-Sein.

Wenn Architektur, wie sie der Land-Art-Künstler Robert Smithson verstand, als bodenlose Utopie ihr eigenes Verschwinden thematisiert, dann müssen nur noch ihre Überbleibsel, Brachen und Trümmer, aufgegriffen werden, um endlich anzufangen, unfertig und temporär zu bauen. Nachhaltig eben.

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