"Initiative ist strafbar"

Alexej Knelz in seinem Moskauer Büro beim Skype-Interview mit Alexander Dill

Alexej Knelz, Chefredakteur der Zeitung "Russland heute", sagt uns, was in Russland los ist

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Was wissen wir schon über Russland? Kostprobe aus der Facebook-Seite von "Russland-heute": "Lobt Putin, wenn ihr ihn schwächen wollt." Der erst 31-jährige Alexej Knelz war mehrere Jahre Chefredakteur der aufwendigen, deutschen Sonderbeilage Russland heute, die zuletzt am 12. Oktober 2012 der Süddeutschen Zeitung beilag.

In der hochwertig produzierten Zeitung, die vom russischen Regierungsblatt Rossijskaja Gaseta finanziert wird, kann man auch Reportagen über die Opposition lesen. Spiegel-Online bezeichnete das junge Blatt dennoch als "Propagandazeitung" und spottete über "Nachrichten aus dem gelobten Land". Von "Kremltainment" sprach die Neue Zürcher. Offensichtlich stehen deutschsprachige Medien staatlich geförderter Intelligenzija hilflos und voll Vorurteilen gegenüber - Grund für Telepolis, einmal mehr über Russland und seine Medien von russischer Seite zu erfahren.

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Sie sind in der Schwäbischen Zeitung als "Häfler" bezeichnet worden. Was ist das?

Alexej Knelz: Ein Häfler ist ein Ureinwohner Friedrichshafens.

Wir wissen alle nichts über Russland. Wir hören "Putistan" und "Pussy Riot". Was sollten wir bequemen Deutschen im Moment über Russland wissen?

Alexej Knelz: Nicht nur die bequemen Deutschen, sondern auch die bequemen Russen. Die Russen wissen manchmal auch nur wenig über Russland, weil sie aus den 9-Millionen-Ballungsräumen von Moskau und Petersburg nicht herauskommen.

Ein Gedanke, den man sich wirklich verinnerlichen sollte, wenn man dieses Land verstehen will, ist eben, dass Russland eine Umbruchgesellschaft ist. Man kann Russland nicht mit den in Europa gängigen Maßstäben messen. Das heißt: Vor zwanzig Jahren ist hier die Sowjetunion kollabiert. Die Gesellschaft, die es 80 Jahre künstlich aufzuziehen galt, war absolut marktunfähig. Diese Marktunfähigkeit sieht man auch in der Kommunikation nach außen. Russland kann sich nicht verkaufen. Es hat sein Sowjeterbe und es hat diese neue Marktwirtschaft, diesen neuen Kapitalismus, der sich übrigens nach den Maßstäben aufgebaut hat, die die Russen sich so vorgestellt haben.

Es gibt kein russlandspezifisches Branding. Wie Sie gerade sagten, das ist ein Branding, den auch der Europäer sucht. Als Markenzeichen gibt es Pussy Riot und andere Geschichten, die sich prima in Medien vermarkten lassen. Man weiß aber nicht, was Russland ist. Man weiß nicht, wie Russland funktioniert.

Was man sich wirklich vorstellen sollte: Russland hat kein Markenzeichen. Man soll also nicht nach Markenzeichen urteilen und nach Markenzeichen wie Putin, Pussy Riot, Anna Politkowskaja oder Chodorowski suchen. Man sollte einfach versuchen zu verstehen: Okay, Russland ist jetzt gesellschaftlich ungefähr in den 1950er und 1960er Jahren angekommen, entwicklungstechnisch betrachtet. Was war damals bei uns ähnlich? Welchen Weg sind wir gegangen? Wo sind sie Russen jetzt? So kann man die ganzen Prozesse viel besser einordnen und verstehen. Politisch, wirtschaftlich, kulturell - was auch immer.

Sind Sie jetzt Regierungsangestellter im Moment? Arbeiten Sie für die Regierung?

Alexej Knelz: Das wird immer wieder falsch eingeordnet. Russland heute ist ein reines Ideending, ein rein ideales Projekt. "Russland heute" wird zwar über die Rossijskaja Gaseta finanziert, die sich offiziell Regierungszeitung nennt. Es ist eine Geschichte, die es nirgendwo in Europa sonst gibt. Kein Mensch in Europa braucht heute eine Regierungszeitung. Warum denn auch?

Die Rossijskaja Gaseta ist aber 1993 von Boris Jelzin als demokratisches Medium gegründet worden, um die demokratischen Gesetze in die Öffentlichkeit zu bringen. Man wusste damals nicht, wie man die Gesetze bekannt machen sollte. Die Berichterstattung der Rossijskaja Gaseta überschneidet sich auch nicht mit der von Russia beyond the Headlines. Die Rossijskaja Gaseta wird aus einem Kessel finanziert, aus dem auch andere Medien finanziert werden.

Wie in Frankreich?

Alexej Knelz: Ungefähr, aber wahrscheinlich radikaler. Da wäre auch die Novosti, Moskow News, die Voice of Russia und Russia Today mit dabei. Es gibt aber kein Statut und es gibt auch keinen Druck, was ein Chefredakteur schreiben muss. Da haben wir absolute Freiheit. Da gibt es also keine Seilschaften und keinen direkten Draht in den Kreml.

Ich habe in Russland heute einem Artikel über den Misserfolg der Opposition in Kaluga entnommen, dass offenbar die Menschen dort noch in einer Art alten Zeit leben.

Alexej Knelz: Genau

Sie können sich angeblich noch nicht artikulieren. Sie können mit so etwas wie Opposition noch nichts anfangen. Wenn es aber so einen Mangel an bürgerlicher Partizipation gibt, die Opposition so schwach ist, wie in dem Artikel beschrieben - warum muss sie dann überhaupt bekämpft werden?

Alexej Knelz: Wissen Sie, wenn man längere Zeit in Russland gelebt hat, dann weiß man auch, dass es hier so Sprichworte wie "Initiative ist strafbar" gibt. Das ist tatsächlich ein russisches Sprichwort. Initiative ist strafbar. Was heißt das? Man hat hier jahrzehntelang versucht, die ganzen Ideen von oben herab durchzusetzen und nicht von unten heran nach oben zu tragen. Das ist hier als Mentalität wirtschaftlich und politisch überall im Land verankert.

Ich weiß nicht, wie Herr Putin und all die anderen gegenüber der Opposition eingestellt sind. Ich nehme an, dass Herr Putin sie gar nicht so wahrnimmt. Die erste Wahrnehmung der Opposition durch Putin war wahrscheinlich während der Wahl. Da waren alle gespannt, was dabei herauskommt. Ich denke einmal, dass diese Aktivitäten und Aktionen, die Opposition kaputtzumachen, von unten heranwachsen.

Es wird auf lokaler Ebene versucht, die Macht mit aller Kraft zu erhalten. Warum? Weil die Korruption im Land eben stark ist. Weil die Menschen, die jetzt unter Putin seit 12 Jahren im Land das Sagen haben, ihre Macht mit aller Kraft erhalten wollen. Die Wahrnehmung, ein Herr Putin würde jetzt hergehen und einen Herrn Udalzow oder Herrn Nawalny knechten wollen, ist absolut falsch. Es wird eher auf allen Ebenen versucht, die lokale Machtelite zu erhalten.

Es sind dann meistens diese kleineren Gouverneure, Bürgermeister, Bezirks- und Polizeichefs, die gegen die Opposition hart durchgreifen. Als wir die Demos und Massenproteste im Winter gesehen haben, hat man ganz im Gegenteil plötzlich festgestellt: Oha, da wird auf einmal gar nicht mehr eingegriffen. Das heißt: Wir haben jahrelang die Märsche und Demos der Nichteinverstandenen verfolgt und die Oppositionellen plattgemacht und als dann 100.000 auf der Straße waren, war Ruhe.

So wie die Staatsmacht auf unterer Ebene agiert, wäre ich davon ausgegangen, dass sie auch diese Demonstrationen plattmachen und dann wirklich ein Miserum herbeiführen. Das ist aber nicht geschehen. Warum? Weil man oben endlich festgestellt hat: Okay. Es tut sich unten was. “Kurzum: Das Sprichwort "Initiative ist strafbar" kommt eigentlich aus der Armee und geht auf Speichelleckerei zurück. Man sagt es, wenn übereifrige Dienstjüngere auf eigene Faust agieren, um sich vor den Dienstälteren beliebt zu machen, dabei aber nicht an die Konsequenzen denken. Weil man in Russland, so scheint es, nicht immer über die Konsequenzen nachdenkt, sondern versucht, sich bei den Mächtigen beliebt zu machen, kommt es zu peinlichen Handlungen - siehe Protestdemos in der Provinz. Die Machtelite in Russland nimmt diese Proteste leider kaum war. Die Kleingouverneure und Machtpartei-Genossen vor Ort versuchen sich selbst zu übertrumpfen, in dem sie diesen Protesten auf lokaler Ebene den Garaus machen wollen.

Drei Tage nach Erscheinen der letzten Ausgabe von Russland heute waren Sie nicht mehr Chefredakteur. Wie soll ich das verstehen?

Alexej Knelz: Es bedeutet eigentlich nicht viel. Es war ein reines Internum, es war also kein Politikum. Russland heute war ein Fulltimejob. Es gibt die Webseite mit 10 Aktualisierungen am Tag. Die Redaktion von Russland heute bestand aus zwei Menschen: aus meiner Assistentin und mir. Der Druck ist zu viel geworden. Ich habe mich auch mit dem Herausgeber unterhalten. Russland heute wird weitergemacht wie bisher. Ich habe das Projekt jetzt mehrere Jahre begleitet und möchte nun nach neuen Projekten schauen. Russland ist als Pflaster sehr spannend.

Werden wir Sie in der Duma sehen?

Alexej Knelz: (lacht) Wahrscheinlich nie.

Oder gehen Sie zu einem anderen Medium?

Alexej Knelz: Ich würde vielleicht eine seriösere analytische Tätigkeit ins Auge fassen. Oder zu einem Think-Tank. Auf jeden Fall soll es etwas im deutsch-russischen Kontext sein. Das, was ich halt am besten kann.

Kaufen Sie doch die Frankfurter Rundschau.

Alexej Knelz: (lacht) Eine traurige Geschichte. Die Frankfurter Rundschau hat sich selbst als Medium auf dem Frankfurter Markt nicht halten können. Wenn ich das Geld hätte, die Frankfurter Rundschau nicht als Zeitung, sondern als Medienhaus zu kaufen, würde ich das tun. Leider Gottes ist ja der Trend, auf unterhaltsame Berichterstattung zu setzen. Qualitätsjournalismus ist weniger gefragt als Tweets, Facebook und Online-Geschichten.

In Deutschland aber nicht.

Alexej Knelz: Aber in Russland. Russland ist ein sehr schönes Objekt zum Erforschen. Am russischen Medienmarkt kann man auch für Deutschland viel lernen, wie die Zeitschriften ums Überleben kämpfen, wie die Trends im Internet sind. Das kann man auch auf die deutsche Gesellschaft übertragen. Ich sage immer: Die Deutschen und die Russen stehen sich sehr viel näher, als es ihnen selbst lieb wäre.

Ich betrachte das als ein gelungenes Schlusswort. Wann sehen wir Sie wieder in Schwaben?

Alexej Knelz: Vielleicht Weihnachten oder spätestens Anfang des neuen Jahres.

Die "Russland heute"- Ausgabe vom 10. Oktober 2012 gibt es auch als E-Paper.