Eine konspirative Einrichtung des Verfassungsschutzes?

Rolf Gössner über die Verstrickungen der Geheimdienste mit dem Neonazi-Umfeld des "Zwickauer Trios". Teil 1

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Im Zuge der Ermittlungsskandale und der Vertuschungsaktionen um den "Nationalsozialistischen Untergrund" (NSU) mussten bislang Heinz Fromm, der Bundesverfassungsschutzpräsident, der thüringische Verfassungsschutzpräsident Thomas Sippel, der sächsische Verfassungsschutzpräsident Reinhard Boos, Sachsen-Anhalts Verfassungsschutz-Chef Volker Limburg und Berlins Verfassungsschutz-Chefin Claudia Schmidt vorzeitig ihren Hut nehmen. Dennoch ist fraglich, ob jemals die Verbindungen des faschistischen Terror-Trios mit den hiesigen Geheimdiensten aufgeklärt werden.

Waren für eine Aufarbeitung von Seiten des Staates staatliche Organe zu sehr in das Treiben des Neonazi-Umfeldes verstrickt? Telepolis sprach darüber mit dem Juristen Rolf Gössner, Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte und Autor des Buches Geheime Informanten - V-Leute des Verfassungsschutzes: Neonazis im Dienst des Staates, dem unlängst der "Kölner Karlspreis für engagierte Literatur und Publizistik" verliehen wurde.

Herr Gössner, bis zum heutigen Tag wurde die Vernichtung und Unterschlagung von zum Teil höchst brisanten Akten in mehr als 20 Fällen, angefangen bei Polizei und Verfassungsschutz über den MAD bis zu verschiedenen Innenministerien und dem Verteidigungsministerium bekannt. Wird man Ihrer Meinung nach dem Geschehen in den verschiedenen Behörden mit dem Begriff "Panne" – auch angesichts ihrer Ermittlungsarbeit vor der Entdeckung des "Zwickauer Trios" - noch gerecht?

Rolf Gössner: Im Fall der Neonazi-Mordserie, der jahrelangen Nichtaufklärung durch die Sicherheitsorgane und der Ausblendung ihres rassistischen Hintergrunds kann man längst nicht mehr allein von Pannen oder Unfähigkeit des Staats- und Verfassungsschutzes des Bundes und der Länder sprechen. Wir müssen vielmehr von ideologischen Scheuklappen der traditionell antikommunistisch geprägten Sicherheitsorgane ausgehen, von Ignoranz und systematischer Verharmlosung des Nazispektrums – begünstigt übrigens durch eine jahrzehntelang einseitig ausgerichtete "Sicherheitspolitik".

Denn Terror und Gewalt, Bedrohungen und Gefahren für Demokratie und Verfassung werden immer noch - den alten Feindbildern folgend - in erster Linie mit so genanntem Linksextremismus, "Ausländerextremismus" sowie mit "Islamismus“ assoziiert. Hier werden bekanntlich alle Präventions- und Repressions-Register gezogen, die den Sicherheitsbehörden zur Verfügung stehen und die im Zuge eines exzessiven staatlichen Antiterrorkampfes, besonders seit 9/11 noch erheblich ausgebaut und verschärft wurden.

Da muss man sich tatsächlich fragen: Wie hätten sich die Sicherheitsbehörden wohl verhalten, wenn man vor Jahren drei militante Linksradikale oder "Islamisten" beim Bombenbasteln erwischt hätte, die anschließend in den Untergrund abgetaucht wären? Die Antwort dürfte relativ einfach sein.

"Serie dreister Vertuschungen"

Wie wirkten sich diese ideologischen Parameter konkret auf die Ermittlungsarbeit im Falle des NSU aus und wie auf die Aufarbeitungsversuche seit Bekanntwerden des Skandals?

Rolf Gössner: Mehr als ein Jahrzehnt lang waren die Sicherheitsbehörden nicht in der Lage, den rechtsterroristischen Mördern auf die Spur zu kommen, obwohl sie über ihre V-Leute den Mitgliedern des NSU-Trios und seinem Neonazi-Umfeld doch recht nahe waren. Und seit Aufdeckung dieser Mordserie vor einem Jahr - durch die mutmaßlichen Täter selbst - sind diese "Sicherheitsbehörden", die so auffällig plötzlich vieles wussten, mit geradezu krimineller Energie damit beschäftigt, die Spuren ihres Versagens und ihrer Versäumnisse, ihrer Ignoranz, ideologischen Verblendung und Verflechtung in das NSU-Umfeld zu verdunkeln, zu verwischen und zu vernichten – obwohl doch Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Rede während der Gedenkfeier für die Neonazi-Opfer am 23.02.2012 versprach: "Wir tun alles, um die Morde aufzuklären".

Doch Frau Merkel hat ihr feierliches Aufklärungsversprechen offensichtlich ohne die Sicherheitsbehörden gegeben, denn die Serie der dreisten Vertuschungen reißt seitdem nicht ab: Da täuschen Verfassungsschutz und Militärischer Abschirmdienst (MAD), aber auch Polizei und Minister die parlamentarischen Kontrolleure, verschweigen wichtige Hinweise und halten Akten über Monate zurück.

Schon kurz nach Bekanntwerden des Skandals ließ man beim Bundesamt für Verfassungsschutz einschlägige Aktenbestände gleich stapelweise im Aktenschredder verschwinden, so wie Monate später noch im Berliner Verfassungsschutz und in anderen Behörden - die nachhaltigste Form der Verheimlichung.

Man muss sich das vorstellen: Vorsätzliche Akten- und Urkundenvernichtung, also behördliche Beweismittelunterdrückung in einem Fall von zehnfachem Mord an neun Migranten und einer Polizistin, mehreren Sprengstoffanschlägen und bewaffneten Banküberfällen. Offenbar haben diese "Sicherheitsbehörden" Gewichtiges zu verbergen und greifen bei der Verheimlichung zum Äußersten.

"Gerichtsprozesse werden rasch zu Geheimverfahren"

Was muss jetzt politisch geschehen? Kann der NSU-Untersuchungsausschuss hier Licht ins Dunkel bringen und wo liegen die Grenzen der Aufklärung?

Rolf Gössner: Wir haben es mit Skandalen ohnegleichen zu tun, die mit bloßen Rücktritten von Verfassungsschutz-Chefs keineswegs bewältigt werden können. Da müsste weit mehr geschehen. Denn für Kenner des Milieus war schon frühzeitig abzusehen, dass sich die Mitglieder der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse an dem Verdunkelungssystem der Geheimdienste die Zähne ausbeißen werden. Schließlich ist eine zahnlose Kontrolle keineswegs neu, gerade wenn es um die Geheimdienste geht. Deren Geheimhaltungssystem umschlingt eben auch Parlamente und Justiz, die den Verfassungsschutz und sein Wirken kontrollieren sollen und deshalb regelmäßig daran scheitern.

Die Vertuschungsmanöver und Schredderaktionen sind also keine vereinzelten Skandale oder Ausrutscher, sondern systembedingt, ja systemrelevant, um das Geheimhaltungssystem rund um das V-Leute-Geflecht aufrechterhalten zu können. Diese Geheimdienststrukturen und –methoden des Verfassungsschutzes führen zwangsläufig zu amtlichen Verdunkelungsstrategien; und diese reichen hinein bis in parlamentarische Kontroll- und Untersuchungsausschüsse - aber auch in Gerichtsverfahren.

So mutieren Gerichtsprozesse, in denen etwa V-Leute eine Rolle spielen, rasch zu Geheimverfahren, in denen Akten manipuliert und geschwärzt und Zeugen gesperrt werden oder nur mit beschränkten Aussagegenehmigungen auftreten dürfen; oder aber in denen "Zeugen vom Hörensagen" aufgefahren werden, die dann dem Gericht über "Erkenntnisse" aus zweitem Munde berichten – etwa der V-Mann-Führer über Aussagen seines V-Manns, dessen Identität geheim gehalten werden muss. Der alles dominierende "Quellenschutz" verhindert auf diese Weise rückhaltlose Aufklärung und rechtsstaatliche Verfahren.

Weil er also demokratischen Prinzipien der Transparenz und Kontrollierbarkeit widerspricht, ist der Verfassungsschutz gerade in seiner Ausprägung als Inlandsgeheimdienst Fremdkörper in der Demokratie. Solche Geheimorgane neigen zu Verselbstständigung und Machtmissbrauch. Deshalb sollten solchen intransparenten, kontrollresistenten, letztlich demokratiewidrigen Institutionen schleunigst die nachrichtendienstlichen Mittel und Methoden und damit die Lizenz zur Gesinnungskontrolle, zum Führen von V-Leuten und zum Infiltrieren entzogen werden. Solchen Überlegungen steht nicht etwa das Grundgesetz entgegen – und auch keine Landesverfassung. Denn danach muss der Verfassungsschutz keineswegs als Geheimdienst ausgestaltet werden.

"Der Verfassungsschutz wusste von Beginn an weit mehr als vermutet"

Wie verlief seinerzeit die Zusammenarbeit des Verfassungsschutzes mit der Polizei und wie schätzen Sie die jeweiligen Ermittlungstätigkeiten der Behörden ein?

Rolf Gössner: Angesichts des im letzten Jahrzehnt enorm gewachsenen Ermittlungsarsenals aller Sicherheitsbehörden ist zunächst einmal in hohem Maße erklärungsbedürftig, weshalb der rassistische Hintergrund und andere gemeinsame Merkmale der schließlich von den mutmaßlichen Tätern selbst aufgedeckten Mordserie nie ernsthaft erwogen und ausgeleuchtet worden sind – stattdessen wurden die Mordopfer, ihre Familien und ihr ganzes soziales Umfeld auf geradezu rassistische Art und Weise in Verdacht gezogen.

Obwohl doch den Sicherheitsbehörden die späteren Täter schon lange bekannt waren und Polizei und Verfassungsschutz mit ihren V-Leuten an ihnen und nach deren Untertauchen auch an ihren Kontaktpersonen und Unterstützern ganz nah dran waren, sie observierten und abhörten: Ein V-Mann der Polizei hatte vor seiner Verpflichtung dem NSU-Trio Sprengstoff geliefert und später dann Hinweise auf den Verbleib der Gesuchten im Untergrund gegeben – doch die Sicherheitsorgane blieben offenbar untätig.

Und ein weiterer V-Mann des Bundesamtes für Verfassungsschutz soll beste Kontakte zum NSU-Trio gehabt haben – selbst während jener Zeit, als dieses nach offiziellen Angaben mordend durchs Land zog. Auch der Thüringer V-Mann Tino Brandt soll seinem V-Mann-Führer von den Kontakten zu dem NSU-Trio berichtet haben – Informationen, die offenbar nicht an die Polizei weitergeleitet wurden.

Der Verfassungsschutz wusste jedenfalls dank seiner Quellen von Beginn an weit mehr als zunächst vermutet. Insbesondere der Thüringer Verfassungsschutz hatte gute, ja sehr gute Kenntnisse über das Terror-Trio und sein Helfernetz gehabt, auch über geplante Terrortaten, - so stellt es jedenfalls das Schäfer-Gutachten vom Mai 2012 fest. Doch die Quellenberichte seien vielfach weder intern weitergereicht und ausgewertet, geschweige denn strafrechtsrelevante Erkenntnisse an das Landeskriminalamt übermittelt worden – noch nicht einmal im Fall mutmaßlicher Verbrechen. So habe der Thüringer Verfassungsschutz "durch sein Verhalten die Tätigkeit der Strafverfolgungsbehörden bei der Suche nach dem Trio massiv beeinträchtigt", heißt es im Schäfer-Gutachten.

Rolf Gössner. Foto: Heide Schneider-Sonnemann.

Das heißt, man hat nicht nur passiv geschlampt, sondern aktiv die Ermittlungsarbeit behindert ...

Rolf Gössner: Richtig. Manche Beobachter schließen daraus sogar, dass es in bestimmten Sicherheitsbehörden "schützende Hände" gegeben haben müsse, die den Informationsfluss verhinderten und so dazu beitrugen, dass die mutmaßlichen Täter weiter unbehelligt ihr Mordhandwerk verrichten konnten. Die Mordserie hätte möglicherweise verhindert werden können, wenn der Verfassungsschutz schwerwiegende Erkenntnisse hinsichtlich verbrecherischer Straftaten und möglicher Wohnorte der Untergetauchten und ihrer Unterstützer rechtzeitig an die Polizei weitergegeben hätte - wozu er gesetzlich verpflichtet war. Zehn Menschen könnten noch leben, so der deutsch-französische Historiker und Publizist Nils Minkmar in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, wenn die Geheimdienste ihre Arbeit getan hätten - wobei auch die Versäumnisse der Polizei einen nicht zu unterschätzenden Anteil an dem Ermittlungsfiasko hatten.

"Geheimhaltungszwang von Geheimdiensten"

Beim Mord an Halit Yozgat in einem Internet-Café 2006 in Kassel, wo die gleiche Pistole wie bei den anderen NSU-Morden zum Einsatz kam, will kein Zeuge Uwe Mundlos und/oder Uwe Böhnhardt gesehen haben. Dafür wurde ein der rechten Szene zuordenbarer ehemaliger V-Mann namens Andreas Temme kurz vor dem Mord am Tatort gesichtet, der sich selbst wiederum nach der Tat nicht als Zeuge gemeldet hat. Wird nun gegen diesen V-Mann ermittelt und wurde schon einmal erwogen, dessen Aussagen in Zweifel zu ziehen?

Rolf Gössner: Andreas T. war kein V-Mann aus der Naziszene, sondern V-Mann-Führer, also angestellter Mitarbeiter des Verfassungsschutzes im Land Hessen, der selbst V-Leute aus der rechtsextremen Szene betreute und führte. Er war zumindest an einem der Tatorte der Mordserie nachweislich anwesend: in besagtem Internetcafé in Kassel am 6. April 2006, während der Betreiber des Cafés, der 21jährige Halit Y., hinter der Theke mit einer schallgedämpften Waffe durch zwei Kopfschüsse regelrecht hingerichtet wurde.

Nebenan telefonierten und surften sechs Menschen im Netz, fünf davon meldeten sich später, nach einem öffentlichen Zeugenaufruf, bei der Polizei – nicht jedoch der sechste, der sich erst später, nach Auswertung von Daten- und DNA-Spuren, als der "Verfassungsschützer" und "Waffennarr". Andreas T. herausstellte.

Nachdem er als Verdächtiger vorläufig festgenommen wurde, behauptete er gegenüber der Polizei, sich rein zufällig und privat am Tatort aufgehalten und keine Schussgeräusche gehört zu haben. Bei einer Durchsuchung seines Büros im hessischen Verfassungsschutz, seiner Wohnung und der seiner Eltern fanden die Ermittler Hinweise auf eine rechtsextreme Einstellung des verdächtigen Verfassungsschützers: (legale) Lang- und Kurzwaffen – er war Sportschütze – und illegale Munition, ein Buch über Serienmorde, Auszüge aus Hitlers „Mein Kampf“ und NS-Devotionalien. In seinem Heimatort Hofgeismar kannte man Andreas T. unter seinem Spitznamen "Klein Adolf".

Dieser Mann, der sich schon in seiner Jugend- und Schulzeit "intensiv für den Nationalsozialismus interessiert hatte", so die stellvertretende Leiterin der hessischen Geheimdienstbehörde, Catrin Rieband, war der üblichen Sicherheitsüberprüfung für Verfassungsschutzbedienstete unterzogen worden - und konnte dennoch zwölf Jahre lang für den Verfassungsschutz Hessens arbeiten und V-Leute in den Bereichen "Ausländerextremismus" und "Rechtsextremismus" führen.

Ein gegen ihn eingeleitetes Ermittlungsverfahren ist 2007, trotz vieler offener Fragen, wieder eingestellt worden, ebenso das gegen ihn eingeleitete Disziplinarverfahren. Nur für die illegale Munition musste er wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz eine Geldstrafe von 800 Euro bezahlen. 2007 ist er zum Regierungspräsidium Kassel versetzt worden.

2012 wurde bekannt, dass die polizeilichen Ermittlungen im Fall des ehemaligen V-Mann-Führers Andreas T. aus "Quellenschutzgründen" von Seiten seines damaligen Arbeitsgebers, des Verfassungsschutzes, und des damaligen hessischen Innenministers Bouffier (CDU; heute hessischer Ministerpräsident) massiv behindert worden sind – ein typisches Beispiel für den Geheimhaltungszwang von Geheimdiensten.

Bislang hat sich herausgestellt, dass von den 140 Mitgliedern des "Thüringer Heimatschutzes" mindestens 40 zumindest kurzzeitig beim Verfassungsschutz angestellt waren ...

Rolf Gössner: Tatsächlich waren verschiedene Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder mit mehreren V-Leuten speziell in der Neonazi-Truppe "Thüringer Heimatschutz" (THS) aktiv und damit hautnah dran an den späteren mutmaßlichen Mördern, die dort organisiert waren. Anders als es in der Frage anklingt, handelt es sich bei diesen Verfassungsschutz-Mitarbeitern jedoch nicht um Angestellte des Verfassungsschutzes oder eines anderen Geheimdienstes – das wären ansonsten "Verdeckte Ermittler" oder Agenten -, sondern um Angehörige der Neonaziszene und des THS.

Bei den etwa 40 V-Leuten im THS – von insgesamt 140 bis 170 THS-Mitgliedern – handelte es sich im Übrigen nicht nur um V-Leute des Verfassungsschutzes; denn auch andere Geheimdienste wie der Militärische Abschirmdienst MAD waren dort in Gestalt von V-Leuten und geheimen Informanten vertreten. Umso interessanter ist nun die Tatsache, dass sich aus diesem geheimdienstlich unterwanderten THS heraus eine so gefährliche rechte Terrorgruppe, wie sie offiziell im NSU gesehen wird, entwickeln konnte – und zwar just unter den Augen der zahlreichen Geheimdienst-Zuträger und ihrer Auftraggeber. Kaum zu glauben, dass denen all dies verborgen geblieben sein soll.

Grundsätzlich ist zu sagen: V-Leute in Neonaziszenen sind keine "Agenten" des demokratischen Rechtsstaates, sondern besonders verpflichtete, staatlich alimentierte Nazi-Aktivisten. Sie stammen aus den zu beobachtenden Szenen und sollen nach ihrer V-Mann-Verpflichtung für den Verfassungsschutz – zumeist gegen Honorar oder andere Vergünstigungen - die Szenen ausforschen und darüber berichten.

Im rechten Spektrum handelt es sich bei V-Leuten also in aller Regel um hart gesottene Neonazis, gnadenlose Rassisten und nicht selten um Gewalttäter, über die sich der Verfassungsschutz zwangsläufig in kriminelle Machenschaften verstrickt. Denn die Betreffenden müssen und sollen auch in ihrer Funktion als V-Personen aktiv in den zu beobachtenden Szenen tätig bleiben, können sich also nicht als stille Beobachter betätigen, sonst würden sie sich ja verdächtig machen und selbst in Gefahr bringen.

Welche Rolle spielte der Neo-Nazi und V-Mann Tino Brandt bei der Konstituierung und Entwicklung des "Thüringer Heimatschutzes" und welche Schlüsse lassen sich daraus ziehen?

Rolf Gössner: Der kaufmännische Angestellte Tino Brandt, alias "Otto", gehörte zu den herausragenden V-Männern des Thüringer Verfassungsschutzes. Der damals 19jährige Neonazi wurde bereits 1994 durch den Verfassungsschutz als V-Person Nummer 2045 angeworben. Er wurde bis Mai 2001 als "Quelle" geführt, fast wöchentlich beim "Griechen" in Coburg von seinen V-Mann-Führern – alle hießen "Günther" – abgeschöpft und mit wöchentlich rund 600 DM für seine Spitzeldienste und Informationen (Brandt: "nur lapidares Zeug") entlohnt – das macht in über sechs Jahren etwa 200.000 DM. Diese Summe will der V-Mann, der nach Aussagen des Thüringer Verfassungsschutzes ausschließlich aus finanziellen Motiven spitzelte, überwiegend nicht für sich privat verbraucht haben: "Das gesamte Geld ist für politische Arbeit geflossen, weil anders hätte ich das mit meinem Gewissen nicht vereinbaren können", behauptet Brandt im Nachhinein.1

Auch wenn derartige Aussagen von V-Leuten mit Vorsicht zu genießen sind: Solchen indirekten staatlichen Zuwendungen, so eine Studie zum Thema2, sei es in hohem Maße zuzuschreiben, dass "die rechtsextreme Szene in Thüringen ihren gegenwärtigen Organisationsstand und ihre Aktionsfähigkeit erlangen konnte".

Nach Aussagen des damaligen Präsidenten des Thüringer Verfassungsschutzes, Helmut Roewer, habe man den umtriebigen, für die "nationale Sache" streitenden Tino Brandt in seiner Spitzelzeit angeblich eng geführt und streng überwacht – dennoch - oder gerade deswegen? - konnte er gleich zu Beginn seiner Verfassungsschutz-Tätigkeit an führender Stelle den militant-neonazistischen THS auf- und ausbauen, rassistisch prägen und mit seinen Spitzelhonoraren mitfinanzieren.

Kein Wunder, dass sich über den THS ein Gerücht hartnäckig hält: Bei dieser "Droh- und Dröhntruppe in der Tradition der SA" (so Der Spiegel) handele es sich diesem Gerücht nach um eine konspirative Einrichtung des Verfassungsschutzes, die als "Sammelbecken" von Neonazis fungierte. Tatsächlich entwickelte sich der THS zu einem der größten überregionalen Netzwerke militanter Kameradschaften mit bis zu 170 Mitgliedern.

Und tatsächlich war das Schicksal des THS aufs Engste mit der V-Mann-Tätigkeit Tino Brandts verbunden: Kaum war er 1994 vom Verfassungsschutz rekrutiert worden, entstand das Neonazi-Netzwerk und entwickelte sich; kaum wurde Brandt 2001 als V-Mann enttarnt, stellte der THS seine Arbeit offiziell wieder ein. Während seiner Informantentätigkeit entwickelte sich Brandt nicht nur zum Führungskader des THS, sondern avancierte auch zum stellvertretenden Landesvorsitzenden der NPD.

Übrigens hatte der Verfassungsschutz Thüringen schon 1995 von kontroversen Diskussionen unter Rechtsextremen des Bundeslandes erfahren, in denen es um die Bildung von Terrorgruppen ging.3 Tatsächlich gab es schon damals in Thüringen, wie übrigens auch in anderen Bundesländern, etliche umfangreiche Sprengstoff- und Waffenfunde, die Neonazis zugeordnet werden konnten.

Seit jener Zeit sind die späteren mutmaßlichen Serienmörder Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe als gewaltbereite "Rechtsextremisten" im Nachrichtendienstlichen Informationssystem (NADIS) der Geheimdienste gespeichert und den Verfassungsschutz-Behörden des Bundes und der Länder wegen diverser einschlägiger Delikte als solche bekannt.

In Teil 2 des Interviews äußert sich Rolf Gössner unter anderem über die Vernetzung der Geheimdienste mit der Neo-Nazi-Szene, Gladio und die deutsche Berichterstattung über die Ermittlungsskandale zum "Zwickauer Trio"

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