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Politik, Wirtschaft und Webzensur. Eine Bestandsaufnahme

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Nachdem Websperren, SOPA, ACTA und andere Zensur- und Überwachungsgesetze erfolgreich von der Zivilgesellschaft gegen den Willen der Entscheidungsträger abgewendet werden konnten, ist vorübergehend Ruhe eingekehrt in Europa und den USA. Oder doch nicht? Ein kleines Tal namens Silicon Valley bereitet still und heimlich eine neue Offensive vor.

Kernstück dieser Offensive sind "freiwillige" Inhaltskontrollen, die Unternehmen automatisch durchführen lassen. Sie werden durch die AGB abgesichert, die jeder Nutzer akzeptieren muß, bevor er sein jeweiliges Lieblingsportal benutzen darf. So werden demokratische Entscheidungsprozesse umgangen - nicht ganz so elegant wie durch internationale Verträge, aber genauso wirksam. Um zu klären, wer für diese jüngste Entwicklung verantwortlich ist und welche Motivation dahintersteht, soll hier kurz eine Bestandsaufnahme versucht werden.

1. Das Grundproblem: Klagen, bis man sich nicht mehr wehrt

I may not agree with you, but I will defend to the death your right to make an ass of yourself.

Oscar Wilde

Wenn unpopuläre Gesetze trotz mehrfachen Abstimmens und Wechseln des Schauplatzes von der nationalen auf die europäische Ebene nicht und nicht beschlossen werden wollen, so bleibt den Befürwortern nur die Flucht nach vorne. Im Fall von Webzensur bedeutet dies eine Flucht zu den Gerichten, vor denen nun jeder einzelne Fall von unliebsamen Meinungen einzeln geklagt werden muss, anstatt elegant und ohne Spuren hinter staatlich angeordneten Webfiltern zu verschwinden.

Staatliche Stellen haben bisher versäumt, den digitalen Alltag zu ordnen und damit der Klagewillkür zu entziehen. Dies resultiert in einer Klageflut in allen Bereichen, die den digitalen Raum betreffen. Neben Klagen zu Meinungs- und Pressefreiheit sind hier insbesondere Urheber- und Patentklagen auf dem Vormarsch.

Das kreative Vorgehen der Anwälte führt nun sogar dazu, dass die an und für sich oft sehr zurückhaltenden Richter, die sich mit der Flut an Fällen befassen müssen, manchmal ein wenig die Fassung verlieren und sehr deutliche Worte für die fleißigen Bemühungen mancher Kläger finden. So fragte sich die Richterin Lucy Koh bei den immer abenteuerlichen Ansuchen der Anwälte im Apple-Samsung Rechtsstreit, ob diese nicht vielleicht ob ihres exzessiven Drogenmissbrauches halluzinierten. Der Anwalt von Apple verneinte diesen plausiblen Erklärungsansatz jedoch ungerührt, wie die LA Times berichtete ("Your honor, I can assure you, I'm not smoking crack").

In Großbritannien gibt es in Europa am häufigsten Klagen wegen "Digitaler Verleumdung" bzw. "Digitaler übler Nachrede" in Tweets, Foren- und Facebook-Postings. Die Strafen reichen von gemeinnütziger Arbeit über hohe Geldstrafen bis zu strafrechtlichen Verurteilungen, die schwerwiegende Auswirkungen auf die Zukunft der Verurteilten hat. Einer der Angeklagten, Paul Chambers, ging in Berufung bis zum High Court, wo der zuständige Richter deutliche Worte fand und das Urteil der niedrigeren Instanz aufhob:

Law should not prevent "satirical or iconoclastic or rude comment, the expression of unpopular or unfashionable opinion about serious or trivial matters, banter or humor, even if distasteful to some or painful to those subjected to it.

Justice Igor Judge

Je mehr Menschen es sich leisten, den mühsamen Weg zu höheren Instanzen zu gehen, desto eher werden Menschen- und Bürgerrechte im Einzelfall auch für den digitalen Raum bestätigt. Dies ist jedoch immer wieder mit hohen zeitlichen und finanziellen Aufwand verbunden - den ein Angeklagter erst einmal psychisch und wirtschaftlich durchstehen muss.

Die Vielzahl an Fällen und das überzogene Strafmaß sind eine Folge der Gesetze, die teilweise aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stammen und nie für die Anwendung auf Online-Aktivitäten ausgelegt waren. Doch anstatt klare Definitionen und Regeln für den digitalen Raum zu definieren, stecken die Verantwortlichen den Kopf in den Sand - und sind damit direkt für das Chaos mitverantwortlich.