Beinahe jede(r) Zweite gilt als psychisch gestört

Gemäß den Zahlen der Techniker Krankenkasse nahm das Verordnungsvolumen von Antidepressiva für Studierende und gleichaltrige Erwerbspersonen von 2006 bis 2010 um 70 bis 79% zu. Bild: S. Schleim

Forscher bestreiten dennoch eine Zunahme psychischer Störungen, während sie weiter am Gehirnmodell festhalten

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In den Medien ist immer wieder von einem Anstieg psychischer Erkrankungen die Rede. Führende Epidemiologen wiegeln ab, ihre Schätzungen seien konstant - allerdings auf einem dramatischen Niveau. Die Zahlen tatsächlicher Diagnosen und Medikamentenverschreibungen der Krankenkassen sprechen aber eine andere Sprache. Das gilt vor allem für Depressionen und Antidepressiva. Rein biologisch sind diese Änderungen nicht zu verstehen.

Wie krank sind die Menschen in unserer Gesellschaft? Insbesondere die psychischen Störungen sind ein beliebtes Streitthema. Während manche die Meinung vertreten, bei den Betroffenen handele es sich nur um Scheinpatienten, die sich einmal am Riemen reißen sollten, sehen andere in ihnen ernstzunehmende biologische und/oder psychosoziale Funktionsstörungen. Was auch die Ursachen von psychischen Leiden sind, ihre Auswirkungen auf die Betroffenen und ihr Umfeld sind nicht von der Hand zu weisen.

Biologie, Soziologie? Biopsychosoziologie!

Gemäß dem derzeit dominanten biologischen Modell in der wissenschaftlichen Psychiatrie und klinischen Neurowissenschaft unterliegen den psychischen Störungen körperliche Probleme, vor allem der Gene und des Gehirns eines Menschen. Vor dieser Annahme ist die Frage, ob es eine Zunahme oder kulturelle Unterschiede bei der Häufigkeit dieser Störungen gibt, für das biologische Modell unmittelbar relevant: Ein Zuwachs innerhalb weniger Jahre lässt sich genetisch nicht erklären, da ein Mensch sein Leben lang dieselben Gene hat. Änderungen durch Mutation und Selektion finden in einer ganz anderen Zeitskala statt.

Das Gehirn ist zwar ein dynamischeres Organ, seine grundlegende Struktur ändert sich aber nicht eben über Nacht - während beispielsweise der Verlust der Arbeit oder einer geliebten Person sowie andere traumatische Erlebnisse in Blitzesschnelle schweres psychisches Leiden auslösen können. Solche Ereignisse mit ihrem psychosozialen Kontext lassen sich jedoch nicht allein biologisch verstehen. Daher ist das biopsychosoziale Modell der psychischen Störungen auch dem rein biologischen in seiner Erklärungskraft überlegen: Es umfasst den Menschen von Kopf bis Fuß von seinen Molekülen bis zu seiner Lebenswelt.

Daraus ergibt sich die unmittelbare Konsequenz, nicht nur auf der biologischen Ebene, sondern auch im Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen und der Gesellschaft nach Ursachen psychischer Störungen und Möglichkeiten der Behandlung zu suchen. Diese Forschung wird zwar schon seit Jahrzehnten betrieben, ist durch das dominante biologische Modell jedoch weitgehend verdrängt worden, obwohl dieses in der Praxis schlecht funktioniert. Zum Nachdenken anregende Befunde über die Wissenschaft und Praxis psychischer Störungen hat beispielsweise der frühere Pharmakopsychologe Felix Hasler in seinem neuen Buch "Neuromythologie" zusammengefasst.

38 bis 45% der EuropäerInnen psychisch gestört

Zahlen, die einen Anstieg psychischer Störungen belegen, sind also theoretisch, praktisch und gesellschaftlich relevant. Ein Konsortium europäischer Epidemiologen hat kürzlich Schätzungen über die Häufigkeit solcher Störungen in den EU-27-Ländern sowie Island, Norwegen und der Schweiz veröffentlicht. Gemäß der Studie Hans-Ulrich Wittchens von der TU Dresden sowie den anderen Forschern leiden in einem Zeitraum von zwölf Monaten geschätzte 38,2% der Bürgerinnen und Bürger Europas mindestens einmal an einer psychischen Störung - das sind ihren Angaben gemäß 165 Millionen Menschen.

In einer früheren Untersuchung für das Jahr 2005 waren es jedoch nur 27,4% beziehungsweise 82 Millionen Menschen. Diesen Unterschied erklären die Forscher dadurch, dass sie für die neuere Studie die Häufigkeit 14 zusätzlicher psychischer Störungen erhoben haben. Die 38,2% beziehen sich nämlich auf 27 ausgewählte Störungen gemäß dem Klassifikationsmanual der Weltgesundheitsorganisation ICD-10, während die frühere Untersuchung nur 13 Störungen umfasste.

Das erklärt zwar die unterschiedlichen Ergebnisse, wirft aber die Frage auf, wie hoch die Häufigkeit für alle psychischen Störungen ist - das Klassifikationsmanual der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung DSM-IV unterscheidet beispielsweise 367 verschiedene Störungen. Inoffiziellen Schätzungen zufolge würde die Häufigkeit für alle Störungen in den von Wittchen und Kollegen untersuchten Ländern etwa 42-45% betragen. Das hängt damit zusammen, dass viele Menschen mehr als nur eine Störung haben - in der Fachsprache nennt man dies Komorbidität -, in dieser Statistik aber nur einmal zählen. Am häufigsten kamen übrigens mit 14% Angststörungen vor, gefolgt von Schlafstörungen und Depressionen mit jeweils 7%.