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Wie man in Schweden acht Morde "aufklärte"

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Der Schwede Sture B., der sich früher "Thomas Quick" nannte, gestand in den 1990er Jahren 33 Morde und wurde für acht davon verurteilt. Fünf dieser Urteile hat man mittlerweile wieder aufgehoben, bei den restlichen drei läuft die Überprüfung. B.s Anwalt Thomas Olsson geht davon aus, dass auch diese Urteile bald revidiert werden: Denn es gibt keine Fingerabdrücke, keine DNA-Spuren und keine Zeugen.

1991 war B. in die psychiatrische Klinik Säter eingeliefert worden, weil er als Weihnachtsmann verkleidet einen Raubüberfall begangen hatte. Dort gefiel es dem Amphetaminsüchtigen aus streng religiösem Elternhaus (im Vergleich mit seinen Lebensumständen zuvor) seinen heutigen Angaben zufolge so gut, dass er seine geplante Entlassung um jeden Preis verhindern wollte. Deshalb fragte er 1992 erst eine Krankenschwester und dann einen Psychiater, was denn wäre, wenn er etwas "Ernstes" getan hätte. Danach bekannte er sich zum damals berühmtesten ungelösten Kriminalfall Schwedens: Dem Verschwinden des kleinen Johan A.

Hannes Råstams posthum erschienenes Buch über den Fall "Thomas Quick".

Dass in dem von ihm genannten Versteck keine Leiche gefunden wurde, störte die Ermittler nur bedingt. Sie fragten immer mehr - und B. erfand nicht nur neue Details, sondern bekannte sich auch zu neuen Taten. So wurden aus einer anfänglichen Lüge 33. Um dazu Informationen liefern zu können, las er in der Bibliothek alte Zeitungsartikel zu spektakulären Fällen aus ganz Skandinavien und merkte sich die Details.

In den Verhören merkte B. schnell, wie er Glauben erzeugen konnte: Erst machte er nur vage Angaben und wartete auf Rückfragen mit Auswahloptionen. Dann beobachtete er die Reaktionen und zog Rückschlüsse daraus. Wenn die Frage "Sind sie sicher?" kam, wusste er, dass er die falsche Antwort gegeben hatte und nachbessern musste. So wurde aus einer Narbe am Bauch als besonderes Kennzeichen ein Muttermal am Po. Und bei einer Tatwaffe zum Mord an einen israelischen Studenten wechselte er von einer Axt auf einen Spaten auf einen Wagenheber und andere Gegenstände, bis er schließlich den richtigen erriet: einen Holzknüppel.

Manche von B.s Angaben im Verhör waren geradezu grotesk falsch. Zum Mord an der neunjährigen Therese J. erinnerte er einen sonnigen Tag. Tatsächlich aber starb das Mädchen nachweislich an einem der verregnetsten Tage der Wettergeschichte Schwedens. Die angeblich von ihm ermordete neunjährige Norwegerin Therese J. beschrieb als blond und aus einem Dorf. In Wirklichkeit hatte das Mädchen dunkelbraune Haare und lebte nicht nur in einer Stadt, sondern sogar in einem Hochhaus. In dem See, in dem er ihre Leichenteile angeblich versenkte, fand man trotz einer aufwendigen Kompletttrockenlegung nichts. Bei einem von ihm gestandenen Mord aus dem Jahr 1964 stellte sich sogar heraus, dass er zur Tatzeit an einem ganz anderen Ort gerade gefirmt und dabei nicht nur von zahlreichen Zeugen gesehen, sondern sogar fotografiert worden war.

Solche Ungereimtheiten versuchten die Therapeuten damit zu erklären, dass B. die Verbrechen selbst als traumatisierend erlebt habe und nun die Erinnerung daran unterdrücke, weshalb sie lediglich in traumähnlichen Sequenzen an die Oberfläche dringen und entsprechende Inkonsistenzen aufweisen würden. Und als Motiv entlockten sie ihm - fast wie im Schundkrimi für schlichte Gemüter - einen erfundenen Missbrauch durch den Vater. Der Glaube daran wurde nicht nur von Psychologen, sondern auch von Polizisten mit großer Vehemenz gegen Skeptiker verteidigt: Zeugen beschrieben die Ermittler später als eine Art Sekte, die es nicht gerne sah, wenn man von ihrer Sicht der Dinge abwich.

B. schämte sich zwar für seine Lügen, genoss aber auch die Aufmerksamkeit, die er von den Therapeuten bekam. Und die angstlösenden Medikamente, die man ihm in der Klinik verabreichte. Erst als 2001 der Klinikdirektor wechselte und B.s Medikamentierung umgestellt wurde, hörten die Geständnisse plötzlich auf. Und als ihn 2008 der Fernsehjournalist Hannes Råstam besuchte, widerrief er sie.

Wenn B. die Taten nicht begangen hat, dann laufen die echten Mörder vielleicht noch herum und können weitere Verbrechen begehen. Das belastet besonders die Angehörigen der Opfer, die teilweise schon vor dem Geständnisrückruf erhebliche Zweifel an den Ermittlungsergebnissen äußerten, aber machtlos zusehen mussten, wie andere Spuren, die sie selbst für vielversprechender hielten, nicht mehr weiter verfolgt wurden. Björn A. der Vater von Johan A., hielt zum Beispiel einen Ex-Freund der Mutter des ermordeten Jungen für den wahren Täter. B. war dagegen seinem Eindruck nach "nicht einmal in der Lage, eine Wurst zu schneiden".