Geheimer Schredder in Hannover

Die Praxis illegaler Postüberwachung in den 1950er Jahren in Deutschland

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Der Stein des Anstoßes, das waren die "Mitteilungen des pädagogischen Kabinetts Berlin", eine Einrichtung zur Weiterbildung von Lehrern. Die hätte Martin Deckart, Studienrat in Rente aus Bad Tölz, gerne gelesen. Ging aber nicht, weil das dortige Amtsgericht die Hefte beschlagnahmt hatte. Der Grund: Es handele sich nicht um "sachliche, pädagogische Fachschriften", sondern der Inhalt sei "eindeutig hetzerisch im Sinne der sowjetzonalen SED-Politik".

Gegen den Herrn Studienrat wurde auch noch gleich ein Strafverfahren eingeleitet, später aber wieder eingestellt. Wir schreiben das Jahr 1955 und die Postzensur durch die Behörde ist ebenso illegal wie weitverbreitet. Dass das Thema Überwachung "kein Alleinstellungsmerkmal der DDR mehr ist", sondern auch in der Bundesrepublik flächendeckend und ungesetzlich betrieben wurde, das ist die Kernaussage des Historikers Josef Foschepoth von der Universität Freiburg in seinem neuen Buch: Überwachtes Deutschland. Post- und Telefonüberwachung in der alten Bundesrepublik."

München, Arnulfstraße 60. Heute befindet sich in dem mächtigen Gebäude entlang der Eisenbahntrasse zum Hauptbahnhof das "Art Deco Palais", ein "in warmen Gelbtönen gehaltener Bürokomplex". Früher befand sich hier die "grau-grün verputzte" Oberpostdirektion, zusammen mit dem Telegraphen- und Fernamt. Der Behördenbau umfasste 40.000 Quadratmeter Grundfläche, fünf Innenhöfen und 530 Räume.

Bis 1968 hatte einige dieser Räume eine besondere Funktion: Auf 296,25 Quadratmetern in zehn Räumen, zuzüglich einem Flur und Toilette, war hier die geheime US-amerikanische Überwachungsstelle untergebracht. Es war die zweitgrößte alliierte Überwachungsstelle in Räumen der Bundespost überhaupt.

Was geschah dort? Eine strategische Postzensur der Besatzungsmächte, bei der zum Beispiel allein 1960 rund 4,6 Millionen Briefsendungen aussortiert wurden. Millionenfach wurden also Briefe aus dem Verkehr gezogen, geöffnet, ausgewertet und danach wieder in den Postverkehr gebracht. Auch Einzelpersonen wurden gezielt überwacht, 1958 betraf das 2.077 Personen. Dabei musste aus Tarnungsgründen gleich die gesamte Post von Häusergruppen zur Vorlage kommen. Auch die Post der Bonner Bundesregierung und der Bundestagabgeordneten unterlag dieser Überwachung. Außerdem wurden millionenfach Telefonleitungen, Fernschreiber und der Telegraphenverkehr überwacht.

Da dies nach dem Grundgesetz illegal war, schufen die drei Besatzungsmächte in Westdeutschland per Verordnung die entsprechenden Voraussetzungen: Ab 1950 war die Einfuhr von Veröffentlichungen, die die Sicherheit der alliierten Streitkräfte gefährdeten, verboten. Dies war die Formel, so der Historiker Foschepoth, für den Aufbau eines "umfangreichen Überwachungs- und Geheimdienstapparates" im westlichen Teil Deutschlands durch die westlichen Siegermächte. Und zugleich die Formel, mit der diese Überwachung vor der Öffentlichkeit, den Parlamenten und Gerichten verschleiert werden konnten. Bis 1968, so Foschepoth, lassen sich 28 Überwachungsstellen der Drei Mächte nachweisen, wobei die Amerikaner über elf Außenstellen, sieben Nebenstellen und eine Zentrale in Oberursel verfügten. Die größte Überwachungsstelle war das Postscheckamt Nürnberg mit 21 Räumen und 480 Quadratmetern, gefolgt von München.

"Staatsgefährdende" Postsendungen wurden "ausgesondert" und "vernichtet"

Dort – und anderswo - blieben in den 1950er Jahren aber auch die deutschen Beamten der Bundespost nicht untätig. Trotz ihres Eides, das Postgeheimnis zu wahren, wurden regelmäßig in den Postämtern Briefsendungen aus der DDR und dem Ostblock geöffnet, "ausgesondert" und "vernichtet", wie es damals immer noch nach Nazi-Jargon klingend hieß. Im September 1951 verfügte der damalige Bayerische Ministerpräsident Hans Ehard (CSU), dass alle Amtsangehörigen Postsendungen aus der SBZ, den deutschen Ostgebieten, und allen "Oststaaten" abzuliefern hätten, sofern sie Propaganda enthielten. Was Propaganda war, wurde nicht definiert. Die abgelieferten Postsendungen waren "durch Mittelstellen zu vernichten". Dies geschah an Ort und Stelle durch Verbrennen.

So dürfte in den ersten Jahren der Bundesrepublik so manches Feuer entlang der Zonengrenze von der örtlichen Polizei angezündet worden sein.

Erst als das Bundesjustizministerium die Meinung vertrat, dass das Material als Beweismittel für strafrechtliche Verfolgung nützlich sei, wurden die "staatsgefährdenden" Postsendungen der Justiz übergeben. Jetzt entschied der Staatsanwalt über die Vernichtung. So berichtete das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz, dass allein durch die Staatsanwaltschaft München I im Jahr 1958 achteinhalb Tonnen staatsgefährdender Schriften – vor allem aus der "Sowjetischen Besatzungszone", also der DDR – eingestampft worden waren. Der größte Briefschredder in Westdeutschland stand in Hannover und war aus Tarnungsgründen im Keller des örtlichen Gefängnisses untergebracht, um die Vernichtung geheim zu halten. Dort landeten 55 Prozent der aussortierten Briefsendungen, darunter nicht nur "Propagandamaterial", sondern wohl auch jährlich bis zu 96.000 private Briefe allein aus der DDR. Ab 1965 wurde sämtlich aus der DDR eingehende Post über vier zentrale Aussonderungsstellen in Hamburg, Hannover, Bad Hersfeld und Hof überwacht und kontrolliert.

Kühne Interpretationen zur Umgehung des Grundgesetzes

Wie war das mit dem Grundrecht des Briefgeheimnisses vereinbar? Gar nicht. "In der Bundesrepublik Deutschland gab es eine Überwachungspraxis, die den verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Bestimmungen klar und eindeutig widersprach", so das Fazit von Foschepoth. Um die illegale Praxis zu legitimieren, wurde gleichsam um das Grundgesetz herum durch Anweisungen, Verordnungen und "kühnen Interpretationen" bestehender Gesetze ein Rechtsrahmen gezimmert. Dazu gehörte das sogenannte "Fünf-Broschüren-Urteil" des Bundesgerichtshofes in Karlsruhe vom 8. April 1952. "Angeklagt" waren fünf Broschüren, die sich gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik, für eine Wiedervereinigung Deutschlands und für Abschluss eines Friedensvertrages aussprachen. Derartige Broschüren wurden 1951 im Auftrag der SED millionenfach gedruckt und in die Bundesrepublik versandt. Freilich, auch die Bundesregierung hielt sich in Sachen Propaganda keineswegs zurück, sondern druckte ihrerseits fleißig Broschüren und Flugblätter, 10,4 Millionen Druckschriften allein im Frühjahr 1951.

Das Karlsruher Gericht entschied jedenfalls, die fünf Broschüren aus der DDR seien "zur Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens gegen die Bundesrepublik Deutschland bestimmt. Sie werden eingezogen." Dieses Urteil, dessen Begründung nie veröffentlicht wurde, sollte ein paar Jahre später zur Legitimation der "Hexenprozesse", wie die Süddeutsche Zeitung damals schrieb, dienen. Gemeint waren die Prozesse um das Verbot der KPD.

Die faktisch nicht bestehende Rechtsgrundlage für die flächendeckende Überwachung endete 1968 mit dem sogenannten G-10-Gesetz. Damit wurde die Überwachung des Post- und Telefonverkehrs auf die westdeutschen Nachrichtendienste des Verfassungsschutzes, BND und MAD, übertragen. In 20 Städten der Bundesrepublik wurden insgesamt 25 Überwachungsstellen eingerichtet, zur Grundausstattung gehörte ein Dampferzeuger, ein Bügeleisen, ein Fotoapparat, ein Blitzgerät, ein Koffer und ein Dienstwagen. Die Telefonüberwachung fand aus Kostengründen möglichst in der Nähe der Postämter statt. "Jetzt war gesetzlich geregelt", schreibt der Historiker, was bisher schon ohne Legitimation hang und gäbe war:

So viel Macht und Möglichkeiten zur politischen Überwachung der eigenen Bevölkerung wie ab 1968 hatte es in der Hand der Deutschen seit dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland nicht gegeben.

Abschließend kommt Foschepoth zu der Frage:

Worin bestand der Unterschied zwischen einer gesetzes- und verfassungswidrigen Handhabe der Post- und Fernmeldeüberwachung in einem Rechtsstaat wie der Bundesrepublik und einem "Unrechtsstaat" wie der DDR, die beide den Schutz des Post- und Fernmeldegeheimnisses in ihre Verfassung geschrieben hatten?

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