Pokerpartie um die Zukunft des Internet

Halbzeit in Dubai

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Die Pokerpartie um die Zukunft des Internet ist noch völlig unentschieden. Und unterschiedlich sind auch die Interpretationen des Halbzeitstandes bei der Weltkonferenz zur internationalen Telekommunikation (WCIT). Der Vorsitzende der Konferenz, Scheich Mohamed Nasser al Ghanim, beklagt mit sorgenvoller Miene, dass die Zeit davon renne. Nach einer Woche hätte man sich noch nicht einmal auf die Präambel des zukünftigen Vertrages geeinigt. Der Generalsekretär der ITU, Hammadou Toure, hingegen lacht übers ganze Gesicht und argumentiert, dass das Austauschen der sehr kontroversen Argumente das Glas schon halb voll gemacht hat. Er sei optimistisch.

ITU-Generalsekretär Hammadou Toure. Bild: ITU/CC-BY-SA-2.0

Sowohl der Scheich als auch der ITU-Generalsekretär haben auf ihre Weise Recht. Die scharfen Gegensätze in der Sache sind sehr sichtbar geworden und nun hängt es vom politischen Willen der 194 Mitgliedsstaaten ab, wie sie damit umgehen wollen. Alle Karten liegen auf dem Tisch. In der zweiten Woche der Konferenz werden sie neu gemischt.

WCIT polarisiert

Tatsächlich ist die Konferenz tief gespalten und vieles erinnert an die klaren Frontlinien des kalten Krieges. Bei fast jeder Diskussion der rund 15 Artikel des zu renovierenden 1988er Vertrages zur Internationalen Telekommunikationsregulierung (ITR) tut sich ein Graben auf. Die eine Gruppe, angeführt von den USA, der EU, Japan und Australien wollen den Vertrag mehr entschlacken, die andere Gruppe, angeführt von Russland, China, Iran und einigen arabischen Golfstaaten, wollen etwas draufsatteln. Die "Entschlacker" wollen mehr wirtschaftliche Dynamik in den Telekommunikations-Markt bringen und das Internet aus dem Vertragswerk draußen halten, die "Draufsattler" wollen mehr Kontrolle und die Telekomregeln auf das Internet ausdehnen.

Drei Beispiele dazu zur Illustration:

  1. ROAs vs. OAs: Hier geht der Streit darum, welche Organisationen unter die ITRs fallen. Im alten Vertrag sind nur die sogenannten ROAs (Recognized Operational Agencies) erwähnt. Darunter versteht man die Fernmeldeverwaltungen und ehemaligen Staatsmonopole der Telekom, nicht mehr wie ein paar hundert Einheiten. Nun wollen einige Staaten dies ausdehnen auf alle, die irgendwie ein Netz betreiben (Operating Agencies/OA), das wären Millionen von Unternehmen die dann direkt unter die ITRs fallen würden. Die westlichen Staaten lehnen das ab. Das wäre eine Verbürokratisierung, Überregulierung und würde die Dynamik aus dem Markt nehmen.
  2. Routing: Wie weit soll das Routing des Telekommunikationsverkehrs zurückverfolgt werden? In der Vergangenheit war das relativ einfach solange über bekannte Landlinien Sender- und Empfängerländer zusammengeschaltet wurden. Mit der mobilen Kommunikation sind aber völlig neue Routen entstanden die häufig über Drittländer gehen und bei der man zwar noch Sender und Empfänger feststellen kann, aber die ganze Kette dazwischen Gegenstand bilateraler wirtschaftlicher Verträge ist. Nun wollen die einen, das Regierungen Zugang zu allen Daten aller Partner einer Route bekommen ("Wir wollen wissen wo was herkommt") während die USA und die EU argumentieren, dass dies nicht nur zu erheblichen Nebenkosten führen würde sondern das die eingeforderte Kontrolle von Unternehmen in Drittstaaten auch im Gegensatz zu nationalen Gesetze, z.B. beim Datenschutz führen könnte.
  3. Sicherheit: Alle wollen natürlich einen sicheren und robusten Telekommunikationsverkehr. Aber bei dem Verständnis, was denn "Sicherheit" im Einzelnen bedeutet, scheiden sich die Geister. Die EU und die USA sehen das vor allem als Sicherheit des Netzes. Die anderen wollen das Thema "Cybersicherheit", das dann auch Kontrolle von Inhalten mit einschließt, in die ITRs aufnehmen.

Doch so gegensätzlich bei diesen Details die einzelnen Positionen nach einer Woche sind, so wenig ist das beunruhigend für den weiteren Verlauf der WCIT, sind doch solche Differenzen üblich bei Globalverhandlungen. Meist werden sie am Schluss nach einer Nachtsitzung mit einen Formelkompromiss gelöst der den kleinsten gemeinsamen Nenner repräsentiert. Für das übergeordnete Thema aber - Ausdehnung der ITRs auf das Internet - ist ein solcher Formelkompromiss nach der ersten Woche unvorstellbar. Und hier wird es möglicherweise noch richtig krachen.

Vom "kalten Frieden" zurück zum "kalten Krieg"?

Wie ist die Situation zur WCIT-Halbzeit? Nach wochenlangen öffentlichen Warnungen vor Beginn der WCIT, die ITU solle die Hände vom Internet lassen, hatte sich ITU Generalsekretär Toure am ersten Tag gleich mehrfach mit der Versicherung hervorgetan, dass Internet Governance nicht Gegenstand der ITR-Verhandlungen sei. In Baku beim Internet Governance Forum (IGF) im November 2012 hatte er sich mit ICANNs neuen CEO Fadi Chehade getroffen und seither gibt es so etwas wie einen "kalten Frieden" zwischen ITU und ICANN. Toure präsentierte nun in Dubai Fadi Chehade sogar als Überraschungsgast bei der Eröffnungszeremonie. Noch nie zuvor hatte ein ICANN-Vertreter offiziell bei einer ITU-Konferenz auftreten dürfen. Doch Toures Kehrtwende kam schon am zweiten Tag wieder ins Stocken, als Russland seinen Vorschlag bekräftigte, die ITRs sollen einen neuen Artikel zu Internet Governance aufnehmen, der das von ICANN betriebene Management der kritischen Internet-Ressourcen auf der Basis des Prinzips des nationalen Souveränität den Regierungen überträgt.

Sofort spaltete sich der Konferenzsaal A im World Trade Center in Dubai. Während die eine Gruppe - China, Iran, Kasachstan, Saudi-Arabien - das gut fand, sagte die andere - US, EU, Japan, Australien - "No go". Der Chairman der Konferenz versucht seither in informellen Gesprächen herauszufinden, ob man da eine Brücke bauen könnte. Bei der Plenarsitzung am Freitag konnte er aber noch nichts berichten, ja die Pro-Internetkontrolle Fraktion legte bei dieser Sitzung noch eins drauf indem sie einen bis dato unbekannten "modifizierten und konsolidierten Vorschlag" präsentierte. Das Gastgeberland, die Vereinigten Arabischen Emiraten, sagte, der neue Text würde jetzt von einer Gruppe von Regierungen getragen. Der neue Text aber enthält alle strittigen Punkte des russischen Vorschlages, die Aufsicht über die kritischen Internet-Ressourcen einem zwischenstaatlichen Regierungsgremium zu übertragen, enthält. Mehr noch, als eine weitere Neuerung wird das Konzept eines "nationalen Internet Segments" eingeführt für das ausschließlich die nationale Regierung souveräne Entscheidungs- und Kontrollhoheit besitzt.

Es ist schwer vorstellbar, dass man hier eine diplomatische Formulierung findet, die die sich wie Feuer und Wasser gegenüberstehenden Gegensätze überbrückt. Steht WCIT vorm Scheitern?

Bild: ITU/CC-BY-SA-2.0

Drei Szenarien für die 2. Halbzeit

Wie bei nahezu allen Globalverhandlungen gibt es auch in Dubai ein breites Spektrum von Optionen, die vom kleinsten gemeinsamen Nenner bis zum Scheitern reichen. Zur Halbzeit in Dubai gibt es offensichtlich jetzt drei mögliche Szenarien

Szenario 1 ist, dass das ganze Wochenende und die nachfolgenden Tage und Nächte weiterverhandelt wird und Donnerstag weit nach 24.00 Uhr alle in "eckigen Klammern" stehenden strittigen Paragraphen vom Tisch genommen werden, um sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu einigen. Das ist dann ein kleiner und leichter Vertrag, der keinem weh tut und den jeder mittragen kann, auch wenn die einen dabei mehr Federn lassen müssen als die anderen.

Im Szenario 2 verbeißen sich die Kontrahenten in die Widersprüche - Internet rein oder raus - und drängen am Konferenzende auf Abstimmung. Damit würde zwar eine seit ewigen Zeiten geltende Regel, dass alle ITU-Verträge im Konsens anzunehmen sind, gebrochen, aber ausschließen kann man das nach der ersten Woche in der Wüstenstadt Dubai nicht mehr. Dabei ist noch gar nicht klar, wie denn eine solche Abstimmung ausgehen würde. Klar wäre nur, dass diejenigen Staaten, die dann mit Nein stimmen, den Vertrag auch nicht ratifizieren würden und somit das universelle Telekomsystem gespalten würde. Dieses Szenario hätte viele Verlierer - am wenigsten würden darunter noch die westlichen Staaten leiden - und die ITU wäre schwer beschädigt.

Ein drittes Szenario wäre, dass man zugibt, dass es zum gegenwärtigen Zeitpunkt keinen Kompromiss in der Frage der Einbeziehung des Internet gibt, man also keinen neuen Vertrag unterzeichnet, sondern das Thema weiter diskutiert. Dann würden die existierenden und ja gut funktionierenden ITR-Regeln weitergelten, das Internet Eco-System mit seinem Multistakeholder-Governance-Modell würde sich unabhängig von der ITU progressiv entwickeln und ITU und ICANN hätten Zeit, ihren "kalten Frieden" in konstruktive Bahnen zu lenken. Man würde also auf Zeit spielen, abwarten, was andere Internet-Verhandlungen in den kommenden Jahren bringen, und eventuell 2016, nach der nächsten ITU-Vollversammlung 2014 in Korea und der WSIS-Überprüfungskonferenz 2015 zu einer WCIT II zusammenkommen.

Bild: ITU/CC-BY-SA-2.0

Internet-Agenda 2013

Das Thema wird ohnehin weiter für Schlagzeilen sorgen und nicht nur Diplomaten beschäftigen. Im Mai 2013 in Genf ist das Internet-Thema auf der Agenda des World Telecommunication Policy Forum (WTPF). Auch das wird von der ITU veranstaltet. Noch zuvor, im Februar 2013, beginnt in Paris bei der UNESCO der Prozess der Überprüfung des UN-Weltgipfels zur Informationsgesellschaft (WSIS 10+) der sich bis 2015 hinziehen wird. Dazwischen nimmt die gerade von der UN-Vollversammlung neu gegründet- UNCSTD Working Group on Enhanced Cooperation -, die sich auch mit dem Management kritischer Internet-Ressourcen beschäftigt - ihre Arbeit auf. Und im November 2013 kann man auf Bali beim 8. Internet Governance Forum (IGF) dieses Thema mit allen Stakeholdern - Regierungen, technische Community, Zivilgesellschaft und Privatwirtschaft - in einer mehr informellen und entspannten Atmosphäre diskutieren, als in dem engen Korsett einer zwischenstaatlichen Regierungskonferenz mit ihren diplomatischen Prozeduren aus dem 20. Jahrhundert.

Wie auch immer die Pokerpartie um das Internet in der Steinwüste von Dubai ausgeht, ein bemerkenswertes Resultat ist jetzt schon zu vermelden. Der Druck, mehr Öffentlichkeit und Transparenz bei der WCIT herzstellen, hat Wirkung gezeigt. Bislang waren ITU-Konferenzen sehr restriktive Veranstaltungen für Regierungsleute und Telekom-Ingenieure. Für den Zugang zu Dokumenten brauchte man eine extra Genehmigung. Alles wurde hinter verschlossenen Türen ausgekungelt. Nun sind die meisten WCIT-Dokumente öffentlich zugänglich - auch dank WCIT-Leaks. In vielen Delegationen sind Vertreter der Zivilgesellschaft, der Privatwirtschaft und der technischen Community die während der Konferenz ihre eigenen Skype-Kommunikationsnetzwerke haben, twittern und bloggen. Am Montag trifft sich sogar demonstrativ ITU-Generalsekretär Toure mit der Zivilgesellschaft, um sichtbar zu machen, dass auch bei der ITU eine "new season" begonnen hat. Dennoch bleibt abzuwarten, wie nachhaltig der ITU-Schwenk zu mehr Multistakeholder-Kooperation, Offenheit und Transparenz ist, wenn es um das Eingemachte der Kontrolle über das Internet geht.

Wolfgang Kleinwächter ist Professor für Internet Politik und Regulierung an der Universität Aarhus. Er ist Mitglied der deutschen WCIT-Regierungsdelegation, äußert jedoch hier seine persönliche Meinung.