High Noon an den Fiskalklippen

Die Demokraten und Republikaner müssen bis Jahresende eine Einigung bei ihrem Streit um die künftige Haushaltspolitik erzielen - ansonsten droht den USA und der Weltwirtschaft der konjunkturelle Absturz

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Vor wenigen Tagen haben sich einflussreiche US-Milliardäre persönlich in die verbissen geführten haushaltspolitischen Auseinandersetzungen zwischen den Demokraten und Republikanern eingeschaltet - dabei forderte diese Gruppe von Megareichen, ihnen endlich die Steuern zu erhöhen. Das Weiße Haus bemühte sich bisher in wochenlangen Verhandlungen vergeblich, die Republikaner dazu zu bewegen, Steuererhöhungen für Amerikas Geldadel zuzustimmen.

Nun erhielt Obama Rückendeckung von der NGO United for a Fair Economy, die für eine Anhebung der Erbschaftssteuer auf das Niveau plädiert, das sie vor den Steuerkürzungen der Bush-Ära aufwies. In der Lobbygruppe, die sich die Unterstützung von Bewegungen auf die Fahnen geschrieben hat, die "für mehr Gleichheit" eintreten, finden sich weltbekannte Milliardäre wie Warren Buffett, George Soros, Robert Rubin und Abigail Disney.

An dieser Initiative lässt sich auch gut ablesen, wie sehr die gesamte politische Landschaft der USA im Laufe der vergangenen Jahrzehnte einer neoliberal-konservativen Hegemonie nach rechts verschoben wurde. Der Vorschlag der besagten Superreichen geht nämlich viel weiter als das, was US-Präsident Obama durchzusetzen versucht. Während das Weiße Haus mittels der Erbschaftssteuererhöhung rund 256 Milliarden US-Dollar in den kommenden zehn Jahren einnehmen möchte, will die Milliardärs-NGO "United for a Fair Economy" ihresgleichen mit rund 526 Milliarden zusätzlich im gleichen Zeitraum besteuert sehen. Insgesamt will Obama 1,6 Billionen US-Dollar durch Steuererhöhungen für Reiche in der kommenden Dekade einnehmen. Sie könne es "sich leisten, diese Erbschaftssteuer zu zahlen", beteuerte etwa Abigail Disney. Entweder würde "ein kleiner Prozentsatz der Reichsten in diesem Land" stärker besteuert oder "wir müssen Programme kürzen, die jedem zugutekommen".

Seit der von Ronald Reagan eingeleiteten "neoliberalen Revolution" in den Vereinigten Staaten gelten in weiten Teilen der konservativ geprägten Öffentlichkeit Steuererhöhungen als Teufelswerk, sodass viele Politiker aus beiden politischen Lagern sich mit Steuersenkungen und Sozialkürzungen einen Namen zu machen versuchten. Neben Reagan und George W. Bush war im Übrigen auch Bill Clinton an diesem informellen Krieg gegen Amerikas Lohnabhängige mit einer Sozialstaatsreform beteiligt, die massiv zur Prekarisierung des Arbeitslebens in den USA beitrug. Nach Jahrzehnten einer permanenten Umverteilung von unten nach oben, die mit einer Stagnation des Lohnniveaus einherging, bildeten sich in den Vereinigten Staaten die schärfsten Klassengegensätze aller Industrieländer aus.

Das berühmte oberste Prozent der amerikanischen Einkommenspyramide, dessen exzessiver Reichtum von der Occupy-Bewegung ins öffentliche Bewusstsein gerückt wurde (The People vs. Wall Street), konnte seinen Anteil am nationalen Einkommen binnen der letzten 30 Jahre mehr als verdoppeln: von rund zehn Prozent in 1980 auf mehr als 21 Prozent in 2010. Diese Tendenz wurde auch durch schwindelerregende Einkommenssteigerungen in den Chefetagen des Managements befördert. Die Vergütung amerikanischer Vorstandsvorsitzender (CEO) überstieg in 1980 den Durchschnittsverdienst in ihren Betrieben um den Faktor 42; in 2011 hingegen kassierten diese Spitzenverdiener 380 Mal so viel wie ihre Angestellten.

Noch krasser kommt die schroffe Klassenstruktur der Vereinigten Staaten zum Ausdruck, wenn die ungleiche Verteilung des bereits akkumulierten Reichtums betrachtet wird. Das reichste Prozent der US-Bürger kontrolliert gegenwärtig ein Drittel allen Vermögens. Seit den 1980ern haben die unteren 80 Prozent der US-Reichtumspyramide - also die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung - einen schleichenden Vermögensverlust hinnehmen müssen, bei dem ihr nationaler Vermögensanteil von knapp 20 Prozent in 1983 auf rund 12 Prozent absackte. Somit verwundert es nicht, wenn inzwischen selbst einige Profiteure dieser gigantischen Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums bereit sind, ein paar Dollar an zusätzlichen Steuern zu bezahlen.

Die Uhr tickt

Dennoch bestehen die Republikaner darauf, dass sie über etwaige Steuererhöhungen nur dann debattieren werden, wenn Präsident Obama weiteren "ernsthaften Kürzungen" im Gesundheitswesen, dem Rentensystem und anderen Sozialprogrammen zustimmt. Indes hat das Weiße Haus im Rahmen seiner Vorschläge zur Reduzierung des amerikanischen Haushaltsdefizits bereits Sozialkürzungen im Umfang von knapp 600 Milliarden US-Dollar für die kommende Dekade anvisiert.

Zudem soll Obama bei einem Gespräch mit dem republikanischen Sprecher des Repräsentantenhauses, John Boehner, zugesagt haben, die Steuererhöhungen für Reiche von 1,6 auf 1,4 Billionen Dollar zu reduzieren. Bislang haben die Republikaner, die über eine Mehrheit im Repräsentantenhaus verfügen, eine Anhebung der Steuern um 800 Milliarden in den kommenden zehn Jahren in Aussicht gestellt, wenn die Sozialprogramme noch stärker beschnitten werden. Dieser Forderung verweigert sich das Weiße Haus noch.

Dabei läuft die Zeit für beide Streitpartien ab, da die Vereinigten Staaten auf die berüchtigte "Fiskalklippe" zusteuern, die bei dem erbittert geführten Streit um die Anhebung der US-Verschuldungsgrenze im Sommer 2011 (US-Staatspleite: Historische Erfahrungen und absehbare Folgen) absichtlich errichtet worden sind. Damals einigten sich Republikaner und Demokraten darauf, die Verschuldungsobergrenze der USA in zwei Schritten um 2,1 Billionen anzuheben. Nach einer unverzüglichen Anhebung im August sollte eine bilaterale Kommission sich auf weitere Einsparvorschläge einigen, die 1,8 Billionen Dollar umfassen müssen - ansonsten drohen ab Anfang 2013 automatische Einsparungen bei Sozialprogrammen und Militärausgaben in Höhe von 650 Milliarden US-Dollar.

US-Präsident Obama forderte Ende November den Mittelstand auf, für seine Steuerpläne zu werben. Bild: Pete Souza/Weißes Haus

Diese mit dem Rasenmäherprinzip automatisch einsetzenden Kürzungen würden die Binnennachfrage der USA kollabieren lassen und folglich zu einer schweren Rezession führen. Deswegen befinden sich beide Parteien unter einem immer stärkeren Druck, diese Fiskalklippen zu umschiffen und doch noch einen Kompromiss zu finden, während die wechselseitigen Schuldzuweisungen für den derzeitigen Stilstand zunehmen. Dennoch scheint sich auch dieses Kräftemessen zwischen Demokraten und Republikanern noch etwas hinzuziehen und eventuell bis kurz vor Jahresende anzudauern.

Angst vor dem Schuldenberg und dem Schuldenabbau

Neben der zunehmenden Angst vor den Fiskalklippen, die durch automatische Sparmaßnahmen die US-Konjunktur zerschellen ließen, bereitet der US-Öffentlichkeit auch das enorme Haushaltsdefizit Washingtons Sorgen. Allein im vergangenen Oktober wuchs der Fehlbetrag der US-Regierung auf 120 Milliarden Dollar, wobei das Defizit für das Gesamtjahr aller Wahrscheinlichkeit nach mehr als eine Billion Dollar betragen wird. Diese Verschuldungsdynamik stößt somit längst in südeuropäische Dimensionen vor, doch besteht der wesentliche Unterschied zwischen beispielsweise Griechenland und den USA darin, dass Washington über die Weltleitwährung verfügt und diese Defizitbildung einfach per Notenpresse finanzieren kann.

Es war aber gerade diese in gigantische Dimensionen aufgeblähte Staatsverschuldung, die maßgeblich zur Konjunkturbelebung in den USA im Vorfeld der Wahlenbeitrug (Amerikas politischer Aufschwung). Hiervon hat im Übrigen insbesondere die deutsche Exportwirtschaft profitiert, die ihre Ausfuhren in die USA im dritten Quartal 2012 um 25 Prozent steigern konnte. Während also Bundesfinanzminister Schäuble die USA wegen ihrer Verschuldungsdynamik harsch kritisierte, profitierten Deutschlands Exporteure in erster Linie von den Schuldenexzessen in den Vereinigten Staaten, um hierbei historisch beispiellose Handelsüberschüsse zu erzielen.

Der öffentliche Diskurs in den Vereinigten Staaten scheint somit von widersprüchlichen Befürchtungen geprägt zu sein, bei denen die Angst vor der immer weiter steigenden Verschuldung - wie sie bei der besagten Haushaltskrise im Sommer 2011 von den Republikanern geschürt wurde - neben der gegenwärtigen Angst vor der "Fiskalklippe" (Fiscal Cliff), vor dem Schuldenabbau, präsent ist.

Diese paradoxe Gemengelage spiegelt dabei aber nur den paradoxen Charakter der gegenwärtigen Systemkrise. Der Kapitalismus kann nur noch mittels permanenter Verschuldung, durch den Zugriff auf künftige Gewinne aufrechterhalten werden, da das System an seiner eigenen Produktivität erstickt und auf schuldenfinanzierte zusätzliche Nachfrage angewiesen ist (Die Krise kurz erklärt). Die starke Besteuerung von Reichtum bildet dabei einen zusätzlichen Weg, um diese Defizitfinanzierung eines hyperproduktiven Spätkapitalismus noch weiter zu verlängern, ohne die ansonsten üblichen Spekulationsexzesse und Finanzmarktblasen zu produzieren.

Die Klügsten unter den Profiteuren dieses Systems haben somit zumindest instinktiv begriffen, dass diese Gesellschaftsunordnung, die ihnen ihren obszönen Reichtum ermöglichte, nur zu prolongieren wäre, wenn sie bereit sind, sich stärker besteuern zu lassen.