Rücksturz in das Mittelalter

Amerikas neue kreative Strafrechtspraxis

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Gerade noch votierten Islamisten, dass die Sharia im Verfassungsentwurf für Ägypten weiterhin die Rechtsgrundlage dieser Gesellschaft bilden soll. Solche Prozesse werden regelmäßig durch heftige politische Erregungen begleitet, dass Freiheit und Sharia fundamental unvereinbar wären. Der Westen warnt vor theokratischen Verdrängungen demokratischer Praxis, präsentiert die Belege einer Strafpraxis, die unterschiedlichste Verstöße gegen religiöse Vorschriften drakonisch trifft.

Die Kritik richtet sich gegen die Fokussierung auf moralische oder sittliche Verhaltensweisen, etwa Ehebruch oder außerehelichen Geschlechtsverkehr, die hierzulande (noch) als Privatangelegenheiten jenseits staatlicher Zugriffsmöglichkeiten gelten. Verwiesen wird auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg (ECHR), der verschiedentlich konstatierte, dass die Scharia „inkompatibel mit den fundamentalen Prinzipien in der Demokratie“ sei. Das Ergebnis des Systemvergleichs scheint also unhintergehbar zu sein, wenn das Humanitätspotential von Gesellschaften gemessen wird.

"A" for America

Das scharlachrote "A" auf der Brust von Hester Prynne ist bis heute Gegenstand von Interpretationen. Ist die Ehebrecherin zu dieser Strafe verurteilt worden, weil sie "Adultery" (Ehebruch) begangen hat? Oder bezieht sich Nathaniel Hawthorne in seinem Roman "The Scarlet Letter" auf "America", weil das Schandzeichen auf die gesamte Gesellschaft der Strafenden und ihre bigotte Moral zurückfällt? Ehebrecher wurden dort je von Puritanern bestraft, wenn sie etwa schwere Steine um die Kirche oder gar das Dorf herum tragen mussten, damit den Braven ihre eigene strenge Moral umso leichter erschien.

Dass die Strafe sich zugleich selbst bezeichnet, über die Tat und/oder ihren Zweck berichtet, ist ein altes Muster symbolischer Strafpraxis, das nicht im 17. Jahrhundert des „Scarlet Letters“ erfunden wurde. Wer einen anderen verleumdete, wurde im Spiegelstrafensystem des Mittelalters mit einem Lästerstein behangen, der einige Kilogramm wog und Steinfratzen präsentierte, um die Schändlichkeit des maulfertigen Delinquenten zu markieren. Diese und zahllose andere bildhaften Straffantasien haben uns längst nicht verlassen, wie der Film „Seven“ anhand seiner den christlichen Todsünden nachgebildeten Bestrafungstechniken so drastisch wie widerlich demonstriert.

Dass der Filmcode Hollywoods so gut mit mittelalterlichen Sündenkatalogen korreliert, mag untergründige religiöse Verwandtschaften belegen. Aber auch in der Strafkolonie Franz Kafkas geht es ähnlich zu wie in Stieg Larssons (eintätowierter) Verdammung ("I'm a rapist pig!"). Stigmatisierung, Einbrennung, Einritzung: Der Körper wird zur unfreiwilligen Werbefläche für ein straffreies Leben, aber zugleich für die totale Verwerflichkeit des Delinquenten. Jenseits der kaum unterdrückten Straflust stellt sich die Frage: Darf man Menschen demütigen und sie so auf den Pfad der Tugend zurückleiten?

Lisa King Fithian wurde dieses Schild umgehängt: ,,Ich bin ein Dieb, ich habe bei Walmart gestohlen.'' Hätte sie sich, nachdem sie augenscheinlich die vielen Sonderangebote Walmarts leichtfertig verschmähte, auf den Deal der dritten Art nicht eingelassen, wäre es hart gekommen. Sechzig Tage Gefängnis anstelle von zweimal vier Stunden Schandschaulauf vor der Lebensmittelkette. Längst gibt es selbstverständlich die Empfehlung von Systemkritikern, auch die Walmart-Manager selbst vor das eigene Haus mit einem Schild zu stellen, das die Botschaft präsentieren könnte: "Ich knöpfe meinen Kunden zu viel Geld ab."

Demütigende Strafen werden seit 2004 in den USA immer häufiger beobachtet, weil der Supreme Court Richter dazu ermutigte, kreativer zu strafen. Nun ist "Branding" nicht auf texanische Viehhüter oder Rennweltmeister beschränkt, sondern generell genuiner Teil der Aufmerksamkeitsgesellschaft, schnell und unterscheidbar wahrgenommen zu werden.

Aber während die erzwungene Selbstanklage als Dieb noch leidlich bis eher unleidlich einen sachlichen Charakter hat, gilt das im berühmt gewordenen Fall der Shena Hardin nicht: "Only an idiot drives on the sidewalk to avoid a school bus." International wurde der Fall der „Idiotin“ bekannt, weil sie einen Schulbus in zwar origineller, aber gefährdender Weise auf dem Bürgersteig überholt hatte. Nachdem Shena eine Grenze überschritten hatte, setzte das Gericht noch „auf einen Schelm anderthalben“. Denn ein Resozialisierungsversuch, der den besserungswürdigen Täter zum schildertragenden Idioten abstempelt, unterminiert nicht nur den Glauben an die Sachlichkeit eines Richters. Der Strafzweck selbst wird damit zur Disposition gestellt, wenn die Stigamtisierung zur „Idiotin“ weiteres Verhalten dieser Art fördern könnte. Produziert dieses System seine "Idioten" selbst, so wie Verbrechen schon je Teil einer gesellschaftlich notwendigen Rollenverteilung sein könnten.

Wenn das Strafrecht zur schwarzen Pädagogik verkommt

Im US-Bundesstaat Georgia verhängt Richter Sidney Nation eine siebenjährige Freiheitsstrafe wegen Kokainbesitzes. Der Täter muss aber, abgesehen von einer kleineren Geldstrafe, lediglich sechs Monate in das Gefängnis, wenn er einen Sarg in seiner Wohnung aufstellt. Der Junkie soll mit dieser Idee, die Rene Magrittes Madame Récamier nachgebildet sein könnte, auf den Pfad der nüchternen Tugend zurückgeführt werden. Der Sarg wird ihn ewig oder wenigstens lebenslänglich an seine tödliche Abhängigkeit erinnern. Zumindest glaubt das der Richter.

Für die einen ist es "Creative Sentencing" oder "Creative Punishment", für die anderen dagegen „Shaming Punishment“, Teil einer schwarzen, längst aus dem Ruder gelaufenen Pädagogik der Strafjustiz, die auf den Verwender zurückfällt. Richter Nation kennt die öffentliche Kritik an seinen zahlreichen bizarren Einfällen gut genug, will aber dem Rauschgiftsüchtigen helfen, endgültig dem Teufelszeug zu entsagen. Nicht nur der aufgedrängte Anschauungsunterricht bereitet hier Pein und soll es ja auch. Diese Rechtsprechung jongliert aus pädagogischen Gründen, deren Effizienz nicht ansatzweise feststeht, mit dem Strafmaß, der Voraussehbarkeit der Strafe und auch der Würde des Staates. Ob ein Täter sieben Jahre sitzt oder nur sechs Monate, wenn er den täglichen Anblick eines Sargs verkraftet, kann nicht den staatlichen Strafanspruch bestimmen.

Inzwischen sind die diskreten Grenzen zwischen Strafen und Pädagogik in Auflösung begriffen. Wer bei der Erziehung versagt, wird nun selbst erzogen. In Texas zwingt ein Mann sein Kind, in der Hundehütte zu schlafen. Der Richter stellt ihn vor die Alternative: Entweder 30 Tage Knast oder 30 Tage Hundehütte. Das korreliert mit Jean-Jacques Rousseaus Empfehlung, Kinder, die Fensterscheiben zerschlagen haben, just in solchen Räumen übernachten zu lassen. Die Kälte mache ihnen dann klar, wie unvernünftig sie waren. Der Leidenschafts- und Pädagogiktheoretiker Rousseau, der gar nicht erst Praktiker sein wollte, erkennt in seiner Kälte nicht die gesellschaftliche Klimaoption, die das fröhliche Miteinander bis zum heutigen Tage so unwahrscheinlich werden lässt.

Dieses spiegelnde Strafprinzip ist augenscheinlich nicht einem Kulturkreis oder einer Religion vorbehalten. Zwar werden bisher die Verfassungen des Westens einschlägig ausgelegt, aber mindestens dem atavistischen Stammtisch –in alter mittelalterlicher Verbundenheit - sind Spiegelstrafen weiter geläufig. Diese Fantasieräume zwischen „Rübe ab“ und „Den müsste man an den Eiern aufhängen“ mögen psychohygienisch noch einen Sinn machen, den Strafanspruch des Staates dürfen sie nicht mal von ferne berühren.

In der europäischen Rechtskultur trat die metaphorische Strafe immer stärker zurück. Wenn früher ein Königsmörder in aller Öffentlichkeit zu Tode gefoltert wurde, wurde der Täter dem Ritual unterworfen, sein Schicksal war nur noch der Hölle anheimgestellt. In der Folge zweckrational operierender Gesellschaften trat die Persönlichkeit des Täters immer stärker in das Blickfeld, was die produktive Frage eröffnete, wie der Täter wieder in die Gemeinschaft zurückgeführt werden könnte.

Der Täter verwandelte sich vom Schauobjekt staatlicher Macht und Gewalt in einen Menschen, der auch und gerade in der Strafe zu achten ist. Der Täter transzendierte den Status des Delinquenten, er veränderte sich zum besserungsfähigen Subjekt und wurde gerade darin als Fehlgeleiteter, wenn nicht Opfer der Gesellschaft, der Familie, seiner genetischen und hormonellen Dispositionen wahrgenommen. Im Grunde sühnte die Gesellschaft in der Bestrafung zugleich ihr eigenes Versagen.

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