Mädchen, pass auf, sonst wirst Du gefickt!

Oder: Wie gehen wir mit den schwächeren Mitgliedern unserer Gesellschaft um?

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In den vergangenen Monaten haben zwei Prozesse Aufsehen erregt: Ein 31-Jähriger wurde freigesprochen, der Sex mit einer 15-Jährigen gehabt hatte: Sie hatte nicht gewollt, er hatte sie aber auch, nun ja, nicht gezwungen. Und drei Jugendliche erhielten Bewährungsstrafen, die eine 20-Jährige auf einen Spielplatz gedrängt und in sie eingedrungen waren: Die junge Frau hatte unter Drogen gestanden und keinen Widerstand leisten können. Diese Taten oder Ereignisse und die Urteile sagen einiges darüber aus, wie unsere Gesellschaft mit Schwachen umgeht, und was Sexualität bedeutet.

Im September sprach das Landgericht Essen einen 31-Jährigen vom Tatvorwurf der Vergewaltigung frei. Der Kollege von der Welt berichtet vom Prozess:

Laut Anklageschrift befanden sich in besagter Nacht drei Frauen in der Wohnung von Roy Z.. Es wurde getrunken, Joints wurden geraucht. Zu später Stunde forderte Z. zwei Frauen auf, die Wohnung zu verlassen und in den Keller zu gehen. Danach legte sich der Mann zu der damals 15-Jährigen und begann, sie auszuziehen. Vor Gericht schilderte das Mädchen, dass sie den 31-Jährigen mit den Worten "Lass mich" aufforderte, von ihr zu lassen. Der Mann beendete seine Handlungen jedoch nicht, schließlich ließ das Mädchen den Geschlechtsverkehr über sich ergehen. Ein halbes Jahr später erstattete die Jugendliche Anzeige bei der Polizei.

Es kam zum Prozess und zum Freispruch. Dazu heißt es in der Presseerklärung des Essener Landgerichts:

Nach Auffassung der Kammer konnte dem Angeklagten nicht nachgewiesen werden, dass er mittels Gewalt, einer Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben oder unter Ausnutzen einer schutzlosen Lage das Opfer zu sexuellen Handlungen genötigt hat. Der Tatbestand der sexuellen Nötigung, Vergewaltigung (§ 177 StGB) lag damit nicht vor.

Vielfach scheint berichtet worden zu sein, das Mädchen hätte sich wehren müssen, dann wäre der Täter auch verurteilt worden - aber so war es nicht, das Gericht schickte extra eine Presseerklärung hinterher: Es hätte sich nicht zu wehren brauchen. Der Freispruch wurde "unter Hinweis auf die gesetzliche Regelung mit dem Fehlen eines Nötigungsmittels und dem Fehlen einer schutzlosen Lage" begründet.

Kurz: Der Mann hat nach Auffassung des Gerichts dem Mädchen gegenüber keine Gewalt ausgeübt, er hat es nicht bedroht, es hätte also aufstehen und fortgehen oder Nachbarn um Hilfe bitten können.

Theoretisch.

Hätte das Mädchen wirklich fortgehen können? Die Jugendliche sagte, der Mann sei schon mehrfach aggressiv gewesen. Warum ließen sich zwei andere Frauen vom Mann sagen, sie sollten in den Keller gehen? Warum machte der Mann trotz des "Lass mich" weiter? Solche Kleinigkeiten machen die Sorge des Mädchens zumindest nachvollziehbar.

Die Frage stellt sich auch nach Anstand, Rücksicht und Verantwortung: Wie viel Rücksicht hat ein Erwachsener auf Jugendliche zu nehmen? Die Jugendliche hat sich sicher unvorsichtig verhalten, als sie in einer fremden Wohnung Drogen konsumierte. Andererseits waren zwei andere Frauen dabei. Außerdem: Muss man einer 15-Jährigen nicht zugestehen, dass sie unvorsichtig ist? Dass sie ihre Grenzen austestet? Es ist auch sicher mindestens ungeschickt, sich nicht zu wehren, vielleicht hätte sie sich auch den beiden Frauen anschließen können, als diese in den Keller gingen. Aber ist es nicht ganz normal, dass eine 15-Jährige sich ungeschickt verhält? Sollten Erwachsene nicht eher Jugendlichen dabei helfen, geschicktes Verhalten zu lernen - statt sie auszunutzen?

Machtgefälle

Es sieht so aus, als sei das Gericht selber nicht ganz glücklich mit dem Urteil. So etwas kommt nicht selten vor. Ich selbst bin Schöffin am Amtsgericht und hatte mehrfach mit ähnlichen Fällen zu tun. Einmal kam ein Mann mit einer Geldstrafe weg, der seinen damals etwa 15-jährigen Neffen und zwei andere Jugendliche dazu gebracht hatte, nackt in der Wohnung herumzulaufen. Es war auch zu Berührungen gekommen. Der Neffe hatte als Erwachsener Anzeige erstattet, kurz vor Ablauf der Verjährungsfrist - die währt zehn Jahre und beginnt mit der Vollendung des 18. Lebensjahres des Opfers. Der Vorfall lag also etwa 13 Jahre zurück. Trotzdem hatte die Polizei es geschafft, die beiden anderen jungen Männer ausfindig zu machen. Der eine von ihnen weigerte sich, den Gerichtssaal für die Aussage zu betreten, weil er den Angeklagten nicht sehen wollte. So sehr belastete ihn das Erlebnis, obwohl er längst erwachsen geworden war.

Zwischen Jugendlichen und Erwachsenen besteht meist ein Machtgefälle, das sexuelle Handlungen zwischen ihnen sehr heikel macht. Das braucht nicht einmal so weit zu gehen, dass der Erwachsene Gewalt anwendet oder auch nur androht: Wenn der Jugendliche eigentlich keinen Sex will, der Erwachsene dagegen die Neugier oder Unerfahrenheit des Jugendlichen ausnutzt, dürfte der Jugendliche im Nachhinein unter den Handlungen leiden.

Die Grundfrage bei solchen Prozessen lautet: Wo liegt die Grenze zwischen Sex und Vergewaltigung? Hatte der Mann das "Lass mich" nicht gehört oder nicht hören wollen? Normalerweise hat man Sex, wenn beide Partner Lust haben und erregt sind. Ein halbwegs erfahrener Mann merkt, ob seine Partnerin erregt ist - von einem 31-Jährigen sollte man dieses Maß an Erfahrung erwarten können. Dieser Mann war vielleicht kein Vergewaltiger in juristischem Sinne - dass er ein schlechter Liebhaber ist, wird man ihm wohl nachsagen dürfen.

Es ist allerdings zynisch, es bei dieser Feststellung zu belassen. Einen guten Liebhaber kann man nicht einklagen, natürlich nicht, aber wie wird Sex definiert, wenn das "lass mich" nicht genügt hat? Offensichtlich nicht als gemeinschaftliche, intime Handlung zwischen zwei Menschen, die Lust haben.

Gesetzgebung und Rechtsprechung geben eine Objektivität vor, die sie eigentlich nicht haben können: Für einen Außenstehenden war vielleicht keine Bedrohung sichtbar, gleichwohl hat das Mädchen sich bedroht gefühlt. Einiges spricht dafür, dass der Mann das Mädchen manipuliert hat. Vielleicht doch auch bedroht - aber die Definition von Bedrohung und Ähnlichem ist subjektiv, es ist sehr schwierig, hierfür Maßstäbe festzusetzen. Und in einem Rechtsstaat darf man natürlich niemand für eine Tat verurteilen, die er nicht begangen hat, vor der aber ein potenzielles Opfer Angst hatte - egal, wie nachvollziehbar die Angst auch gewesen sein mag.

Objektivität ist in so einem Urteil wohl nicht möglich - wohl aber kann die Gesellschaft in Gesetzgebung und Rechtsprechung Solidarität mit dem Opfer, dem Schwächeren zeigen. Das scheint in diesem Fall eher nicht so gewesen zu sein.

Ein merkwürdig mildes Urteil aus Berlin

Kurz nach diesem Essener Prozess fand ein anderer Prozess in Berlin statt, in dem es auch um sexualisierte Gewalt ging. Eine 20-jährige Frau in Berlin war auf dem Rückweg von einer Party, stand unter Drogen und kam auf einem U-Bahnhof mit drei Jugendlichen ins Gespräch. Es kam zu einem freiwilligen "Techtelmechte zwischen der Frau und einem der Jugendlichen, wie der Tagesspiegel schreibt. Dann drängten die Jugendlichen die Frau auf einen Spielplatz, drangen in sie ein und flüchteten.

Eine Passantin fand die Frau. Diese sei so traumatisiert gewesen, dass sie erst nach einem halben Jahr über die Ereignisse habe sprechen können. Die Polizei sicherte Spuren, unter anderem Kondome, und veröffentlichte nach einem Jahr erfolgloser Suche Bilder aus der Überwachungskamera. Daraufhin stellten sich die Jugendlichen. Zunächst behaupteten sie, es habe sich um einvernehmlichen Sex gehandelt, dann änderten sie ihre Taktik: "Die drei Angeklagten haben zugegeben, dass es zu sexuellen Handlungen gegen den Willen der Frau kam, alle drei wirkten mit, sagte ein Sprecher" - so die Kollegin vom Tagesspiegel.

Verurteilt wurden sie aber nicht für eine Vergewaltigung, sondern sie erhielten eine Bewährungsstrafe wegen Missbrauchs einer widerstandsunfähigen Person - die Frau hatte ja unter Drogen gestanden. Wobei nicht einmal klar war, ob sie die Drogen freiwillig konsumiert hatte, oder ob sie ihr auf der Party ins Getränk gemixt worden waren:

Wenig drang aus der unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführten Verhandlung. [...] Die Geständnisse der Jugendlichen, durch die der heute 22-jährigen Frau weitere quälende Befragungen erspart blieben, werden strafmildernd honoriert worden sein. Möglicherweise ist dies ein wichtiger Grund dafür, dass Bewährungsstrafen verhängt wurden. Die genauen Beweggründe des Gerichts sind aber nicht öffentlich bekannt.

Angesichts dieser Umstände kann man über dies Urteil kaum urteilen. Aber es scheint, als würde es weniger hart geahndet, eine widerstandsunfähige Person zu ficken, als eine Person, die sich wehrt. Wenn dies hinter dem Urteil steht, dann bedeutet dies zweierlei: Für ein potenzielles Opfer, dass es allzeit zum Widerstand bereit sein muss - und zwar nicht nur, um sich eventuell zu verteidigen, sondern auch, weil Schwäche zum Nachteil des Schwachen ausgenutzt werden DARF. Für einen potenziellen Täter bedeutet es: Eine Tat gegenüber Schwächeren ist nicht nur weniger gefährlich für den Täter, sondern sie wird auch weniger hart geahndet.

Natürlich: Die Urteile sind Einzelfälle. Natürlich: Wir kennen die Prozesse nur aus zweiter Hand, aus der medialen Berichterstattung. Natürlich: Die Richter werden Gründe gehabt haben, die sie der Öffentlichkeit nicht bekannt gemacht haben.

Dennoch darf man solche Urteile zum Anlass für ein paar Fragen nehmen: Erstens, wozu ist die Rechtsprechung da? Nur, um die Gesellschaftsordnung aufrecht zu erhalten? Oder auch, um den Menschen zu einem größtmöglichen Maß an Solidarität und somit persönlicher Freiheit zu verhelfen? Zweitens, wie geht eine Gesellschaft mit ihren schwachen Mitgliedern um? Dürfen alte Menschen vielleicht nicht mehr allein auf die Straße, schließlich sind sie schwächlich? Oder Kinder? Woher soll der kräftige junge Gewalttäter wissen, dass ein alter Mensch, ein Rollstuhlfahrer, eine Frau nicht überfallen werden will - der junge Mann ist schließlich stärker als der Alte, der Kranke, der Schwache, die Frau - diese können sich nicht wehren. Der Ängstliche auch nicht.