"Wenn es das fünftreichste Land der Welt nicht schafft, wer dann?"

Der jüngste Armutsbericht wagt sich mit Forderungen nach höheren Steuern, besseren Löhnen und mehr Sozialleistungen auf ein Terrain, vor dem Politiker mit Regierungsambitionen seit Jahren zurückschrecken

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Die Armut in Deutschland ist auf Rekordniveau, stellt der aktuelle Bericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands fest. Und er rüttelt laut an der Alarmglocke: "Die Armutsentwicklung hat sich, so zeigen die Daten, endgültig von der Wirtschaftsentwicklung abgekoppelt." Selbst Personen, die in Lohn und Arbeit stehen, verarmen. Dafür zieht der Hauptgeschäftsführer des Verbands, Ulrich Schneider, auch die Politik zur Verantwortung und fordert, wogegen sich diese Regierung mit Händen und Füßen stemmt: ein Sofortprogramm, das Löhne, Arbeitslosengeld und Sozialleistungen erhöht.

Was nötig wäre, um der Armutsentwicklung gegenzusteuern, blätterte Schneider heute noch einmal vor Fernsehkameras auf: Mindestlöhne, Mindestrenten, ein Mindestarbeitslosengeld I, den Ausbau öffentlich geförderter Beschäftigung, die Anhebung der Hartz-IV-Regelsätze sowie eine Reform des Wohngeldes.

Das wird im Großen und Ganzen auch mit der von vielen für wahrscheinlich gehaltenen großen Koalition nach den Wahlen im nächsten Jahr nicht möglich sein. Denn, um das Geld für diese Maßnahmen bereitzustellen, müsste man etwas riskieren, das für die CDU überhaupt nicht infrage kommt und für die SPD, die ja ebenfalls auf die solide Mitte zielt, eher auch nicht.

Schneiders "Finanzierungsplan", den er im Morgenmagzin vorstellte, macht dies sofort deutlich. Die 10 bis 20 Milliarden Euro, die für den Kampf gegen die Verarmung nötig wären, habe man, so Schneider. Aber das Geld will er von dort holen, wo es keiner hergeben will. Schneider spricht von "4,8 Billionen Euro auf den Konten der Privathaushalte." Die müssten mithelfen, Solidarität ist gefragt: "Wir sind das fünftreichste Land der Welt. Wenn wir es nicht schaffen, wer dann?"

Darüberhinaus sind die höheren Einkommen, bzw. Vermögen gefragt. Rauf mit der Vermögenssteuer, mit der Erbschaftsteuer und dem Spitzensatz der Einkommenssteuer. "Wen sonst, wenn nicht die Reichen?", antwortete Schneider auf die Frage, ob er die Reichen zur Kasse bitten wolle.

Damit spricht Schneider aus, was in den letzten Jahren kaum mehr ein Politiker aus der Konsensmitte mehr zu sagen getraut hat, zumal wenn er auf Karriere, auf ein Amt oder auf Wahlerfolg, geschielt hat; man kann im Nachbarland Frankreich sehr gut beobachten, wie Medien, politische Gegner und eine in einer bestimmten Richtung sensibilisierte Öffentlichkeit mit Reizwörtern wie "Erhöhung des Spitzensteuersatzes" umgeht. Als ob dies des Teufels wär. Der Abstand zur harschen Polemik in der Frage höherer Steuern, wie man sie seit Jahren aus den USA kennt, wird kleiner.

Selbstgemachtes enges Handlungskorsett

Ungeachtet des engen Handlungskorsette, das sich die Politiker der Mitte in den letzten Jahren auferlegt haben und das zu solchen de-facto-Tabuisierungen in Steuerfragen geführt hat, braucht die Wirklichkeit, die aus dem Bericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands aufscheint, politische Antworten - Maßgaben, die sie der Wirtschaft entgegenhält.

Seit 2006 zeigt demnach die Armutsgefährdungsquote einen "klaren Trend nach oben". Im letzten Jahr hat sie den Höchsstand seit der Wiedervereinigung erreicht, mit 15,1 Prozent. Damit ist sie in einem Jahr, von 2010 auf 2011, um 4 Prozent gestiegen. Trotz der Konjunktur, die noch im letzten Jahr von manchen als neues deutsches Wirtschaftswunder bezeichnet wurde, trotz sinkender Arbeitslosenzahlen.

"Working Poor"

Für den Paritätischen Wohlfahrtsverbands ist das ein Signal dafür, dass in Deutschland ein amerikanisches Phänomen Einzug gehalten hat: die "Working Poor".

Prekäre Beschäftigungsverhältnisse und Armutslöhne sind der Preis, den Deutschland für die vermeintlichen Erfolge der Bundesregierung in der Arbeitsmarktpolitik bezahlt.

Ulrich Schneider

Konnte man 2006 noch beobachten, dass das Wachstum des reale Bruttoinlandsprodukts von einem Rückgang der Armutsgefährdungsquote begleitete wurde - wenn auch mit einer gewissen Schere, 4 Prozent BIP-Steigerung und 0,7 Prozent Rückgang der Armutsgefährdungsquote -, so sind solche positiven Zusammenhänge 2011 nicht mehr zu erkennen, heißt es im Bericht. "Ganz im Gegenteil: Zwar wuchs das Bruttoinlandsprodukt erfreulicherweise um 3,9 Prozent. Die Armut stieg jedoch ebenfalls um 4,1 Prozent."

Die Einkommensarmut, so beobachtet der Bericht, der sich auf Wirtschaftszahlen und Mikrozensus stützt, wachse seit 2006.

Interessanterweise verlaufen Armutsgefährdungsquoten und SGB-II-Quoten dabei keinesfalls parallel, wie der Kurvenverlauf in dieser Grafik zeigt. Während die Einkommensarmut seit 2006 wächst, geht die SGB-II-Quote leicht zurück - auch wenn sie mit 9,8 Prozent im Juli 2011 nach wie vor auf sehr hohem Niveau verharrt. Es ist ein unübersehbarer Fingerzeig auf Niedriglöhne und prekäre, nicht auskömmliche Beschäftigungsverhältnisse.

Wie schon andere Berichte zuvor, die sich in diesem Jahr mit der Armutsgefährdungsquote beschäftigten, weist der Bericht auf eine Verschlechterung der Armutsentwicklung in Ballungsräumen wie Berlin oder Städten im Ruhrgebiet hin.