Der Stoff, aus dem Mikroelektronikträume sind

Abb. 1: Ein Graphengitter. Kohlenstoffatome sitzen an den Knoten. Die Kanten stellen kovalente Verbindungen dar. Bild: AlexanderAlUS. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Trotz der Einfachheit des Materials ist Graphen wegen seiner erstaunlichen Eigenschaften der neue Liebling der Oberflächenphysiker und Nanotechnologen geworden

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Das Material Graphen ist eine zweidimensionale, ein Atom tiefe, regelmäßige Anordnung von Kohlenstoffatomen. Atome sitzen an den Ecken eines flachen hexagonalen Gitters, wo sie mit je drei Nachbarn verbunden sind.

Kohlenstoff ist ein wunderbares Material für die Herstellung von molekularen Strukturen - es ist so etwas wie ein elementarer chemischer Lego-Baustein. Kohlenstoffatome besitzen sechs Elektronen, zwei davon eng umklammert am Kern und vier weitere Elektronen, die sich für molekulare Verbindungen freizügig anbieten. Ein Kohlenstoffatom kann sich z.B. mit vier weiteren Kohlenstoffatomen zu einer Art Tetraeder verbinden: Solche stabilen und festen Muster liegen der Struktur von Diamantkristallen zugrunde und verleihen diesem Material seine Härte und Isolatoreigenschaften.

Andererseits kann ein Kohlenstoffatom sich an nur drei weiteren Kohlenstoffatomen binden und ein Elektron bleibt frei für den Transport von Strom. Das ist die Grundstruktur des sogenannten Graphen, ein flaches hexagonales Gitter aus Kohlenstoffatomen, wie in Abb. 1 dargestellt. Jedes Kohlenstoffatom hat drei unmittelbare Nachbarn und diese Grundstruktur wiederholt sich wie bei einer Bienenwabe.

Fragt man eine Chemikerin, wie diese flache Wabenstruktur zustande kommt, würde sie sagen, dass zwei benachbarte Kohlenstoffatome eine Sigma-Verbindung mit je einem Elektron eingehen. Das übrig gebliebene freie Elektron "lebt" in einem Pz-Orbit orthogonal zur Ebene der Kohlenstoffatome, wie in Abb. 2 gezeigt wird. Die freien Elektronen können sich von Atom zu Atom bewegen: Sie sind delokalisiert. Deswegen ist Graphen der Stoff mit der höchsten bekannten Elektronendichte für den Stromtransport.

Abb. 2: Elektronenverbindungen zwischen Kohlenstoffatomen und freien Elektronen

Graphen hat darüber hinaus eine Reihe von Weltrekorden für Materialien gesetzt:

  • Es ist der steifste bekannte Stoff. Man kann eine Graphenschicht sogar anheben und an zwei Elektroden heften. Die freistehende Schicht ist nur ein Atom breit, kann aber mit bloßem Auge gesehen werden.
  • Graphen kann Elektronen sehr schnell leiten, schneller als Silber und Kupfer. Die Elektronen bewegen sich "ballistisch" entlang des Materials und werden von Potentialwänden nicht abgestoßen.
  • Graphen kann Wärme besser als Diamant leiten.
  • Graphen ist superdicht: nicht einmal die kleinsten Atome durchdringen das Hexagonalgitter.
  • Und das Material kann Licht (Photonen) mit allen Wellenlängen absorbieren. Es eignet sich sehr gut als "Photonensenke" (vielleicht für zukünftige Solarzellen).

Bei all diesen Eigenschaften wundert es also nicht, dass gegenwärtig so viele Ideen für den Einsatz von Graphen im Labor überprüft werden. Eine davon ist, damit Gas- oder Moleküldetektoren herzustellen, da die Teilchen am Material "kleben bleiben" und seine messbaren Eigenschaften verändern. Idealerweise sollten sogar einzelne Atome oder Moleküle nachweisbar sein.

Graphen als relativistischer Rechner

Die faszinierendste Eigenschaft von Graphen ist - jenseits der technischen Anwendungen - die Art von Elektronentransport, die auf seiner Oberfläche möglich ist. Normalerweise werden freie Elektronen in Metallen entlang einer Potentialdifferenz transportiert. Dabei stoßen sie an Hindernisse, durch die der Elektronentransport verlangsamt wird und das Material erhitzt sich. Elektronen in Graphen bewegen sich jedoch mit einer festen Geschwindigkeit.

Die Elektronen können Potentialbarrieren überwinden. Dies nennen die Physiker "Klein-Tunneling".1 Mit Graphen war es zum ersten Mal möglich, diesen Effekt direkt zu messen. 2

In der Physik gibt es zwei verschiedene mathematische Formalismen, um die Bewegung von Teilchen zu bestimmen. Einerseits die Schrödinger-, andererseits die Dirac-Gleichung für sogenannte Fermionen (die Teilchen, aus denen Materie besteht, getrennt von den Teilchen, die Kräfte übertragen). Der von Erwin Schrödinger vorgeschlagene Ansatz kann für Teilchen benutzt werden, bei denen die Ruhemasse den größten Teil der gesamten Energie ausmacht. Bei relativistischen Teilchen - deren Geschwindigkeit verglichen mit der Lichtgeschwindigkeit nicht mehr vernachlässigbar ist - muss die Dirac-Gleichung herangezogen werden.

Nun stellt sich bei Graphen heraus, dass, wenn die möglichen Energiezustände der Elektronen berechnet werden, das Ergebnis eine Form hat, wie man sie bei masselosen Teilchen (wie den Neutrinos) erwarten würde. Die Regelmäßigkeit des Graphengitters (mit seiner sechsfachen Symmetrie) führt dazu, dass bei niedrigen Energien die erwarteten Energie-Impuls-Beziehungen isomorph zu den von der Dirac-Gleichung abgedeckten Phänomenen sind. Aus dem Dirac-Formalismus ergibt sich, dass die Elektronen sich mit konstanter Geschwindigkeit im Graphen bewegen (die sogenannte Fermi-Geschwindigkeit).3

Unabhängig also von jedweder Anwendung können in Graphen Messungen durchgeführt werden, die das Verhalten von relativistischen Teilchen nachahmen (auch wenn die Elektronen sich nur mit einem Dreihundertstel der Lichtgeschwindigkeit bewegen). Andre Geim und Konstantin Novoselov, die Gewinner des Nobelpreises für die Entdeckung und Beschreibung der Graphen-Eigenschaften, vergleichen dies mit einem "Teilchenbeschleuniger" im Taschenformat.

Ein besseres Gleichnis wäre vielleicht, sich vorzustellen, dass Graphen eine Art "Analogrechner" darstellt, mit dem Vorhersagen der Dirac-Gleichung ohne kosmische Strahlung oder große Beschleuniger überprüft werden können. Was in der Dirac-Gleichung Antimaterie ist, übernimmt in Graphen ein fehlendes Elektron im Gitter ("ein Loch" als "Antiteilchen" zum Elektron).

Graphen für Transistoren

Als Graphen zuerst beschrieben wurde, entstand sofort die Idee, dieses Material als Ersatz für Siliziumtransistoren zu verwenden. Graphen ist jedoch kein Halbleiter, d.h. auch bei niedriger Spannung fließt immer Strom. Einen Halbleiter dagegen kann man "ausschalten", sobald die Spannung unter eine Schwelle fällt. Viel von der Graphen-Forschung in den letzten Jahren ist deswegen der Frage gewidmet worden, wie aus Graphen ein Halbleiter gemacht werden könnte.

Eine Möglichkeit besteht darin, Graphen auf das passende Substrat zu haften, so dass Substrat plus Graphen den gewünschten Halbleiter ergeben.4 Jedoch spielt Graphen bei manchen Unterlagen zuweilen verrückt und verliert einen Teil seiner rekordverdächtigen Eigenschaften, wie z.B. den ballistischen Elektronentransport.

Man kann die Leitfähigkeit von Graphen manipulieren, indem enge Streifen aus dem Material auf Chips angebracht werden, sogenannte "ribbons". Der Rand des Streifens stört die absolute Regelmäßigkeit des hexagonalen Gitters und schafft die notwendige Trennung zwischen Valenz- und Leitungsbändern. Einige solcher Graphen-Transistoren sind in letzter Zeit angefertigt worden, ohne dass die Technologie bereits die notwendige Reife erreicht hätte.

Ein Bereich, wo Graphen-Bausteine viel besser als konventionelle Komponenten sein könnten, ist die Hochfrequenztechnik. Graphen-Komponenten können sehr schnell schwingen und viel Ladung transportieren, gerade wie es für Hochfrequenzschaltungen gewünscht wird.5

Allerdings hat man mit Graphen eine Art Déjà-vu Erlebnis.6 Als die Bucky-Balls gefunden wurden (Anordnungen von Kohlestoffatomen wie auf einem Fußball) und kurz danach die Kohlenstoff-Nanoröhre, wurden weitere ebenfalls bahnbrechende Anwendungen sofort vorhergesagt (und Nobelpreise verteilt).

Computerchips sollten beispielsweise mit Nanoröhren gekühlt werden können, da diese exzellenten Wärmetransport anbieten. Pharmazeutika sollten inmitten von Bucky-Balls in die Zellen transportiert werden. Inzwischen ist klar, dass Nanoröhrchen so toxisch wie Asbest für die Zellen sein können7, so dass man heute allgemein über Nanopartikel für die Medizin redet (wobei neuerdings Gold und Titanium bevorzugt werden) und man jedes Mal weniger über Nanorohr-Transistoren hört.

Dagegen redet man über Graphen für die Medizin8, die Mikroelektronik und die Grundlagenforschung. Im Jahr 2010 gab es bereits mehr Veröffentlichungen über Graphen als über Fullerene, und während die Anzahl von Patenten pro Jahr für Nanoröhren nun konstant ist, zeigt sie exponentielles Wachstum für das neue Material Graphen.9

Es ist deswegen nicht überraschend, dass die Jagd nach noch besseren Materialien als Graphen bereits gestartet wurde. Wenn eine einatomige Schicht von Kohlenstoff solch interessante Eigenschaften aufweist, könnten andere "dünne" Stoffe vielleicht von ähnlichem Interesse sein. So sind bereits das "Silizen" (einatomige Siliziumkristalle) und auch einmolekulares Kohlenstoffmonoxid-Gitter untersucht worden.10 Die Physiker suchen heute gezielt nach Stoffen, in denen die Elektronen sich isomorph zu den Dirac-Systemen verhalten, d.h. wie sogenannte "Dirac maßgeschneiderte Fermionen".

Die Graphen-Roadmap

In der Mikroelektronik gibt es seit Jahrzehnten eine "Roadmap", die als Wegweiser für die Mikroelektronikfirmen dient. Die "Semiconductor Roadmap" ist eine Art selbsterfüllende Prophezeiung, da sie erst möglich wird, wenn sich alle Firmen darauf einstellen, der Technologiekurve zu folgen. Graphen-Transistoren können deswegen heute mit konventioneller Technik noch nicht konkurrieren, da diese sehr gut verstanden ist und die technologische Kurve Silizium-Transistoren bis 10 Nanometer Größe erwarten lässt.

Novoselov und Coautoren sehen deswegen in ihrer "Graphene Roadmap" erste Anwendungen bei Bildschirmen vor.11 Kleine kontaktsensitive Folien sind dafür bereits entwickelt worden. Diese können außerdem aufgerollt oder auf gekrümmte Oberflächen angebracht werden. Flexibles elektronisches Papier könnte damit Realität werden (Abb. 3).

Erst etwa ab 2020 werden Graphen-Transistoren im Hochfrequenzbereich attraktiv sein, und für logische Funktionen erst dann, wenn Silizium die Puste ausgeht (ab 2025). Kurzfristig erwartet man also keine Graphen-Chips. Bis es so weit ist, könnte es auch sein, dass Varianten des Graphen sich als bessere Materialien für logische Funktionen herausgestellt haben. Man sagt, dass in der Informationstechnologie Vorhersagen, die länger als 10 Jahre weit reichen, in Science Fiction abdriften.

Abb. 3: Roadmap für Graphen

Eine vielleicht brillantere Zukunft könnte Graphen bei allem, was mit Messungen und schnellen Schwingungen zu tun hat, besitzen. Graphen mit mittlerer Qualität könnte für Photodetektoren oder Polarisations-Steuerung benutzt werden. Mit Graphen könnten spezielle Arten von Lasern oder Detektoren von Terahertz-Schwingungen gebaut werden. In den nächsten acht Jahren wird sich zeigen, wie viel von diesen Prognosen realisierbar wird.

Bei der Lektüre einiger Arbeiten über die moderne Graphenforschung kann man sich nur wundern, dass nach Graphen nicht früher intensiver gesucht wurde. Graphen ist so ein ästhetisches Material, weil seine Physik fast wie direkt aus Lehrbüchern entnommen aussieht. Die hohe Symmetrie von Graphen entspricht den schlichten Annahmen, die Physiker immer in der Vorlesung benutzen. Wenn alles so hoch symmetrisch ist, vereinfachen sich Gleichungen, manche Terme verschwinden, bis die reine Lehre übrig bleibt (bzw. die Dirac-Gleichung!).

Man hätte früher nicht geglaubt, dass es solche einfachen dünnen atomaren Flächen in der Natur gibt, oder man ging davon aus, dass es sie nicht geben kann, bis Graphen mit einem bisschen Tesafilm aus Graphit herausgeschält wurde. Deswegen: Selbst wenn aus Graphen keine Transistoren oder Wunderfolien gebaut werden könnten, bleibt es ein erstaunlich schönes Material.