Die Wiederentdeckung der Solidarität

Sammelstell für Spielzeug in Athen. Bild: W. Waswestopoulos

Griechenland: "Schlimmste Weihnachtszeit seit dem Zweiten Weltkrieg"

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Vor der Krise waren die Weihnachtsfeiertage Griechenlands ein Fest für die Familie. Im engsten Preis wurde gefeiert. Vor 2009 warben Banken im TV für "Festtagskredite". Suggeriert wurde, dass nur teure Geschenke etwas wert sind. Festtage der Vorkrisenzeit zeichneten sich dadurch aus, dass unter den Griechen ein Wettbewerbsdruck um das teuerste und eindrucksvollste Geschenk herrschte. Der Konsumirrsinn ist spätestens seit der Krise als Irrweg bekannt. Doch wie läuft die laut Presseberichten "schlimmste Weihnachtszeit seit dem Zweiten Weltkrieg" ab?

Das Fest abseits von Athen

Ein etwas anderes Weihnachtsfest findet derzeit in Griechenland statt. Zwar wurden wie üblich auch Lotterien veranstaltet. Zu gewinnen gab es aber keine Reichtümer wie früher. In Trikala wurde ein auf sechs Monate befristeter Arbeitsplatz im Lager einer deutschen Supermarktkette verlost. Das Gewinnlos fiel ausgerechnet an eine Professorengattin, die zwar arbeitslos ist, jedoch über das Gehalt ihres Gatten abgesichert lebt. Sie gab ihr Los an einen, wie sie sagte, Bedürftigeren weiter. Davon gibt es viele in und um Trikala. 138.047 Menschen leben im ehemaligen Verwaltungsbezirk, 25.259 werden mit Armenspeisungen versorgt: Diejenigen, die noch etwas übrig haben spenden Geschenke, welche an bedürftige Familien verteilt werden.

Überall im Land finden spontan organisierte Schenkbazare statt. Diese sind weitestgehend wie Flohmärkte aufgebaut, jedoch wird kein Geld gezahlt. Wer etwas hat, kann es gegen ein anderes Objekt für den Gabentisch tauschen oder schlicht als Spende abgeben. Sinn ist es, eine Art Bescherung für alle möglich zu machen.

Ausdrücklich stehen diese Veranstaltungen auch für Immigranten offen. So soll ein Gegenpol zu den Essensaktionen der Chryssi Avgi geschaffen werden. Diese veranstaltet mittlerweile regelmäßig Essensausgaben "nur für Griechen". Es wurde auch eine Arbeitsagentur "nur für Griechen gegründet", während die Aktion "Ärzte mit Grenzen" daran zu scheitern droht, dass die Ärzteverband all jenen Mitgliedern, die Patienten nur nach Kontrolle eines Ausweises oder Passes behandeln wollen, Konsequenzen angedroht hat.

In Volos kam es bei Verteilungsaktionen der Chryssi Avgi zu gewaltsamen Gegendemos. Drei Rechtsextreme verbringen deshalb das Weihnachtsfest im Krankenhaus, die gleiche Anzahl von Gegendemonstranten befindet sich in Haft. In Piräus kommt es wegen der rassistischen Wohlfahrt zum Paradox, dass Michaloliakos gegen Michaloliakos klagt. Der Bürgermeister von Piräus Vassilis Michaloliakos reichte Strafanzeige gegen seinen Namensvetter Nikos Michaloliakos der rechten Partei ein, weil diese ohne Genehmigung einen öffentlichen Platz der Gemeinde in Beschlag nahm. In Zeiten des Festes der Liebe haben es die Hassprediger nicht leicht.

Friedlicher und auch farbenfroher ging es zum Beispiel in Iraklion auf Kreta zu. Dort dürfen Kinder, Jugendliche und alle, die sich für künstlerisch begabt halten, Schaufenster leer stehender Läden bemalen, bekleben und nach Gusto verzieren. Damit soll die durchaus allseits spürbare depressive Stimmung in den Innenstädten etwas gelindert werden. Die potentiellen Vermieter und Eigentümer der Immobilien machten Gute Miene zum lustigen Spiel.

Nur 100 Meter vom Syntagma entfernt - ein Obdachloser ohne Hilfe. Bild: W. Aswestopoulos

Die Hauptstadt ohne Weihnachtsbaum

In der Hauptstadt ist traditionell der Syntagmaplatz - Eigenwerbung "der hellste Platz aller Hauptstädte" - Zentrum des Geschehens. Auch hier war noch bis 2009 der Wettstreit um den prunkvollsten Weihnachtsbaum ein Diskussionsthema. Mit der Krise wurde der Baumschmuck immer geringer, bis dieses Jahr überhaupt gar kein dezidierter Baum geschmückt wurde.

Einer der größeren Nadelbäume des Platzes wurde mit Lichterketten überzogen und das Zentrum blieb baumfrei. Stattdessen prangt eine Stahlrohrkonstruktion in der Mitte des Platzes. In diesem Konstrukt, über dessen Sinn und künstlerischen Gehalt sich die Gemüter in Athen gern streiten, befindet sich eine Art Tetrisspiel, das auf einem kubusförmigen Bildschirm allerlei Weihnachtliche Motive, oder das, was die Urheber dafür halten, in wechselnder Abfolge von oben nach unten rieseln lässt.

Der leere Teil des oberen Syntagma-Platzes zur gleichen Zeit. Bild: W. Aswestopoulos

Auf dem Platz selbst fand eine - typisch Hauptstadt - groß angelegte Wohlfahrtsaktion statt. Die Stadt Athen hatte mit Hilfe zahlreicher Sponsoren eine Sammelstelle für Sachspenden organisiert. Diese sollen an obdachlose und bedürftige Familien verteilt werden. Zeitlich angemessen fand die Sammelaktion am 23.12. statt. Organisatorisch hätte das gepasst. Denn die wirklichen Geschenke gibt es laut Tradition erst zum Jahreswechsel. Das weihnachtliche Bescherungswerk wurde erst in den jüngsten Jahrzehnten importiert.

Sammelpunkt für Kleidung. Bild: W. Aswestopoulos

Die Organisatoren hatten jedoch die Schenkbereitschaft der Bürger unterschätzt. Ständig lief der Platz Gefahr, zu einem Plastiktütenberg zu werden. Immer mehr Menschen kamen vorbei und leisteten ihren Beitrag zur Solidarität. Aus diesem Grund glich der untere Teil des Syntagma einer LKW-Verladestation, weil ständig voll beladene Lastwagen rangieren mussten. Im oberen Teil des Platzes, direkt gegenüber dem Parlamentsgebäude, blieb es dagegen ebenso leer wie in einem futuristischen Festzelt eines Mobilfunkunternehmens. Konsum oder politischen Protest hatten die Menschen an jenem Abend nicht im Sinn.

Die Parteien

Traditionell, fast wie immer, blieb das politische Weihnachten. Allen Persönlichkeiten der Politik werden jedes Jahr von ausgesuchten Gruppen Ständchen, die Kalanta, vorgetragen. Im Land selbst ziehen Kinder umher, klingeln an den Türen und tragen gegen eine kleine Anerkennung die Kalanta von Christi Geburt vor. Es gibt Kalanta für Weihnachten, Neujahr und Theofania. Mit Theofania, der "Erscheinung Gottes" wird am 6. Januar als Abschluss der Festperiode die Taufe Jesu und der Namenstag von Johannes dem Täufer gefeiert.

Tankstellen verkaufen zusätzlich zum Sprit Brennholz - Grund ist der exorbitante Heizölpreis. Bild: W. Aswestpopoulos

Folglich ergibt sich für Politiker in dieser Zeit des relativen Burgfriedens eine Gelegenheit, die menschliche Seite zu präsentieren. Gewöhnlich verteilen sich in traditionelle Trachten gekleidete Chöre auf die einzelnen Politikpromis. Kreter, Ipiroten, Pontier, Thraker, weitere regionale Volksgruppen und Wohlfahrtsverbände nutzen die Tage gern für eine Präsentation ihrer Gemeinschaft. Staatspräsident Karolos Papoulias lauschte tief ergriffen Chören der Soldaten, seiner Garde und gleich dreier Wohlfahrtsverbände. Premier Antonis Samaras lud mehrere Volksgruppenvertreter ein und ließ es sich nicht nehmen, im Anschluss als Demonstration seiner Volksnähe einen Spaziergang durch Athen zu unternehmen. Evangelos Venizelos von der PASOK zog es vor, die Nähe zur Kirche zu demonstrieren. Er lud eine Gruppe vom Erzbistum betreuter geistig Behinderter ein.

Futurismus pur, aber null Kunden. Bild: W. Aswestopoulos

Relativ ist der Burgfrieden in Krisenzeiten, weil außer dem Ständchen für den Präsidenten und den Premier nahezu alle anderen Anlässe tagespolitisch eingefärbt waren. Die Parteisekretärin der kommunistischen Partei begab sich in ein Therapiezentrum für Drogenabhängige und wetterte von dort gegen die Sparpolitik im Gesundheitswesen. Panos Kammenos von den Unabhängigen Griechen empfing ebenso wie der Premier Antonis Samaras und Fotis Kouvelis von der Demokratischen Linken Kreter, er lud jedoch auch Pontier ein.

Kammenos tanzte zudem zum Abschluss der Darbietung einen pontischen Tanz, den Pyrixios. Dieser Tanz wird im Allgemeinen eher weniger mit Weihnachten als vielmehr mit einer Demonstration von Mannestugenden in Verbindung gebracht.

Schläft im Schutz des Schaufensters eines leer stehenden Geschäfts. Bild: W. Aswestpoulos

Kammenos wünschte zum Abschluss nicht nur "Frohe Weihnachten", er ließ es sich nicht nehmen "Gute Freiheit" - als Anspielung auf seine täglichen Tiraden gegen die "Besatzungsmacht des Finanzkapitals" zu wünschen. Fernab aller Tradition blieb Alexis Tsipras. Vom Land des Tangos, von Argentinien aus wünschte er, dass "dies das letzte deprimierende Weihnachtsfest bleiben" möge. Oppositionsführer Tsipras befindet sich gemeinsam mit einer Delegation seines SYRIZA auf Südamerikareise. Dort will er lernen, wie Griechenland aus der Umklammerung des IWF herauskommen kann.

Ganz dumm gelaufen ist es für die Chryssi Avgi. Die Ultras hatten eigens ein Grußvideo vorbereitet und dieses auf Youtube online gestellt. Youtube entfernte mit einem Hinweis auf den enthaltenen Rassismus das Machwerk umgehend, wie durch Anklicken des Links in einschlägigen Artikeln feststellbar ist. Dailymotion schloss sich an. Bei zahlreichen weiteren immer noch online stehenden Hasstiraden der Extremisten war Youtube weniger zimperlich. Dementsprechend witterte die Chryssi Avgi "eine weltweite Zensur" gegen "ein romantisches Video". Zu Bildern aus alten Zeiten Athens hatte die Partei Fotos der Verelendung und vor allem zahlreiche Abbildungen von Immigranten gestellt. Die implizierte Botschaft war eindeutig.

Ob die Urheberrechte der Bilder dabei immer eingehalten wurden, ist nicht ohne Weiteres nachvollziehbar. Jedoch enthält das Video bis auf die Bildauswahl durchaus weniger extremistische Töne, als die Partei tagtäglich über private und öffentlich-rechtliche Sender verkündet. Die gewählte Musik war durchaus romantisch. Es handelte sich um ein Lied, "Ach kämst Du nur für ein bisschen" des 1958 verstorbenen Komponisten der griechischen Belle Epoche Michalis Soyioul - alias Souyioultzoglou. Dass die so sehr gegen Flüchtlinge und Einwanderer hetzende Partei ausgerechnet ein Werk eines aus Kleinasien stammenden Flüchtlings wählte, brachte ihr nur noch mehr Spott ein. Soyioul selbst war zeitweise nach Frankreich ausgewandert, um dort seine musikalischen Studien zu vervollständigen.