Wie der Homo sapiens die Kunst entdeckte

Stammbaum der Gattung Homo. Bild: Chris Stringer. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Der Neandertaler, der Cro-Magnon, die Musik und die Malerei

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Das Britische Museum in London zeigt demnächst - im Februar - eine Ausstellung mit Kunstobjekten aus der Eiszeit. Im Guardian, gewissermaßen der englischen Frankfurter Rundschau, lief dazu ein Artikel unter dem Titel "When homo sapiens hit upon the power of art." Zu Deutsch, etwa, "Wie der Homo sapiens einst mit Macht die Kunst entdeckte." Obwohl ich Tausende Kilometer von London entfernt lebe und die Ausstellung nicht gesehen habe, möchte ich dem Autor Robin McKie von vornherein ernsthaft widersprechen.

Dazu wäre sicher eine kleine Zusammenfassung dessen, was McKie sagt bzw. schreibt, nützlich, aber ich verweise Interessierte auf das Original. Das spart mir an dieser Stelle Arbeit und Zeit.1

Schädel eines Cro-Magnon-Mannes. Bild: User:120. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Hier zitiere ich trotzdem in Auszügen aus dem Guardian-Artikel. Der beginnt mit dem Satz: "Eine umwerfende Ansammlung von Artefakten aus der Eiszeit, zusammengetragen aus Museen in ganz Europa, bietet einen spektakulären Überblick über die Explosion jener technischen und imaginativen Fähigkeiten die, Experten zufolge, der Menschheit die Entdeckung der Kunst ermöglichten."2

An diesem Satz missfallen mir schon gleich einmal zwei Dinge. Im englischen Text steht, wo ich "Menschheit" gesetzt habe, "the human race". Das heißt also, "die menschliche Rasse" - spezifisch der in Europa lebende Homo sapiens - hat hier, in Europa, während der Eiszeit, vor 13.000 bis 42.000 Jahren, die mentalen Fähigkeiten erworben, um Kunst machen zu können.

Halt. Moment mal. Da frage ich doch sofort weiter: Unterscheidet sich dieser Homo sapiens in Europa von jenem anderen Homo sapiens, den es nun schon seit rund 100.000 Jahren in Afrika gab, und der beispielsweise vor ca. 60- bis 70.000 Jahren sein Ränzlein schnürte und nach Australien aufbrach?

Nein, das wollte natürlich niemand gesagt haben, denn unsere Vorfahren kamen ja aus Afrika. "Es gibt Hinweise, dass unsere Vorfahren in Afrika vor 150.000 Jahren bereits Pigmente benutzten und dass sie später, vor rund 70.000 Jahren, geometrische Muster auf Objekte ritzten", wird Steven Mithen, ein Professor an der Reading University, zitiert. (Der Ort heißt so ausgesprochen "redding", also nicht "rieding", nicht die "Lese-Uni".)

"Aber erst, als die modernen Menschen vor mehr als 40.000 Jahren Europa erreichten, gab es diese Explosion der technischen Kreativität - als die Kunst, wie wir den Begriff heute verstehen, auf einmal die Bildfläche betrat. Die Resultate waren atemberaubend. Tatsächlich denke ich, dass sie bis heute niemals übertroffen worden sind."3

Skelett eines Neandertalers im American Museum of Natural History. Bild: Claire Houck. Lizenz: CC-BY-SA-2.0

Mithen hat einmal ein Buch geschrieben zum Thema, Wie kam der Neandertaler zur Erfindung der Musik? - das ich interessant, aber letztlich auch unbefriedigend fand. Der Grund dafür ist relativ einfach: Es gibt nicht wirklich genug Beweismaterial, um ernsthafte Aussagen über die Musikalität der Neandertaler machen zu können. Aber es gibt ein paar Funde von Flöten oder möglichen Objekten, Knochen mit entsprechend weit auseinanderliegenden, hinein gebohrten Löchern, die man als Flöten betrachten könnte.

Auch in dieser Ausstellung gibt es eine 40.000 Jahre alte Knochenflöte, aus dem hohlen Knochen eines Geiers gefertigt, gefunden in "Hohle Fels in southern Germany", wozu Google Maps anmerkt: " We could not understand the location hohle fels southern germany." Tja, der Guardian! Wikipedia hat immerhin einen Eintrag zu Hohler Fels, dort findet sich alles Weitere.

Karte der Hauptfundstätten von Neandertaler-Überresten. Bild: User:120. Lizenz: CC-BY-SA-2.5

Hierzu hätte Mithen ja nun etwas sagen können, aber stattdessen wird ein anderer Experte zitiert: "Die Flöte wurde vor unglaublichen 40.000 Jahren hergestellt, sie ist eines der ältesten Instrumente der Welt. Es ist ein extrem komplexes Instrument. Die Durchmesser der Löcher und ihre Positionierung hinten und vorne auf dem Flötenkörper ist sehr sorgfältig ausgearbeitet worden. Das Problem ist, dass wir nicht wissen, welche Art von Mundstück verwendet wurde. Wenn man ein reed oder einfaches Rohrblatt einsetzt, erhält man einen oboenartigen Klang, während man mit einem Leder-Mundstück einen Klang wie von einer hochgestimmten Blockflöte bekommt. Wie auch immer, es zeigt, dass unsere Vorfahren sich symbolisch ausdrücken konnten, nicht nur visuell, sondern auch mit Klängen."4

An dieser Stelle, scheint mir, liegt wieder einmal das Karnickel im Ketchup. Die Flöte ist, wie man aus der einfachen Beobachtung von heutigen Hirtenvölkern ersehen kann - z. B. in Kurdistan - das trivialste Instrument, das praktisch Jeder an jedem Tag basteln kann. Im Frühjahr bricht man einen entsprechenden frischen Zweig ab, und rubbelt ihn in der Manier, wie Schulkinder sich gegenseitig "Brennesseln" machen, wenn sie die Haut am Unterarm jeweils mit der linken und rechten Hand in entgegengesetzte Richtungen drehen. Die frische Borke löst sich vom inneren holzigen Zellstoff. Man schneidet Löcher in einigem Abstand hinein, setzt ein Mundstück aus dem Zellstoff ein, wie einen halbierten Zigarettenfilter, und hey pronto. Schon hat man eine Art primitive Penny Whistle, auf der es sich wunderbar pentatonisch zwitschern lässt.

Auch in der Steinzeit ging die Holzfertigung jeweils der Knochen-, Stein- und Metallfertigung voraus. Die schlichte Holzflöte, die nur einen Tag oder wenige Stunden hält, bis sie eintrocknet und nicht mehr funktioniert, dient zur Einübung der Technik, bis die Flöte aus entsprechenden Knochen als nächster Schritt folgt. Die Existenz einer einzigen solchen Flöte dient uns als Beweis, dass es überall dieses Instrument gab. Natürlich hat niemand die Flöten in ein Köfferchen gelegt und für die Ewigkeit aufgehoben, die Beweislage ist also dürftig. Aber genauso würde in Amerika ein einziger Maiskolben auf die Existenz von Mais deuten, eine einzige Tonpfeife auf die Existenz des Tabakrauchens und so weiter.

Heutige Instrumente in Armenien, etwa ein Duduk, der mit einem Mundstück geblasen wird und vage schalmeienähnlich klingt, lassen erahnen, wie ein solches Instrument damals geklungen haben könnte. Der mit der eigenen menschlichen Stimme hervorgerufene Flötengesang heutiger Kurden lässt uns vermuten, dass ihre Vorfahren auch schon in dieser Art sangen - bzw. dass ihr Flötenspiel so ähnlich geklungen haben dürfte. Schräg! Aber es geht natürlich noch schräger.

Jedenfalls, das Flötenspiel führt bei Hirtenvölkern zwangsläufig zum Dudelsack, in dem die Luft in einem ledernen Beutel aufgespeichert wird und durch eine Anzahl von gleichzeitig mitgeblasenen Pfeifen auf einem konstanten Akkord ein harmonisches Fundament errichtet, über dem dann die Spielpfeife ihr Melodiechen bläst. Dieses Prinzip des "drone" oder Dröhnen, kennt man auch aus Schauspielschulen, wo die Schauspieler im Kreis auf dem Boden knien und in einer "Voice Box" ihre Stimme vom Fußboden reflektieren lassen. Vermutlich haben auch schon die Neandertaler ihre Stimme aus einer hohlen Schädel culotte zurückschallem und sich andröhnen lassen. Ähnliche Instrumente dürften Schwirrhölzer gewesen sein, oder Tambourine , also die frühen "primitiven" Instrumente.

Alle Musikinstrumente basieren letztlich, wie ich meine, auf der menschlichen Stimme - bzw. auf Veränderungen der menschlichen Stimme, etwa wenn man einen gleichmäßigen Ton ausströmen lässt und sich dazu rhythmisch auf die Brust trommelt oder Imitationen anderer Geräusche produziert, wie Vogelgesängen und Tierstimmen, die man mit der menschlichen Stimme imitiert. Und zuguterletzt sind alle heutigen Instrumente Potenzierungen der menschlichen Stimme (bis auf die Tuba, die aber auch menschliche Geräusche imitiert).

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