Washington vor haushaltspolitischer Dauerkrise

Der "Fiscal Cliff" wurde buchstäblich in letzter Minute notdürftig umschifft, die Auseinandersetzungen um den "Debt Ceiling" zeichnen sich bereits jetzt ab

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Wenige Stunden vor Ablauf der am Neujahrstag ablaufenden Frist haben sich Demokraten und Republikaner auf einen minimalen Kompromiss im erbittert geführten Haushaltsstreit einigen können. Beide Seiten stritten wochenlang um Steuererhöhungen für Wohlhabende und Haushaltskürzungen, mit denen das ausartende amerikanische Haushaltsdefizit eingedämmt werden soll. Hätten die Streitparteien keine Einigung erzielt, wären mit Beginn dieses Jahres automatisch drastische Haushaltskürzungen und Steuererhöhungen in Kraft getreten, die zu einem massiven konjunkturellen Einbruch in der größten Volkswirtschaft der Welt geführt hätten, der in den US-Medien als "Fiscal Cliff" (Fiskalklippen) bezeichnet wird.

Künftig werden die temporären Steuerermäßigungen, die während der Amtszeit des konservativen US-Präsidenten George W. Bush erlassen worden sind, für Bezieher jährlicher Einkommen über 400.000 US-Dollar auslaufen. Bei Familienhaushalten liegt die Grenze bei 450.000 Dollar. Die Steuern auf Kapitaleinkünfte und Dividenden werden für diese Gruppe vermögender US-Bürger ebenfalls ansteigen: von 15 Prozent auf 23,8 Prozent. Bei der Erbschaftssteuer wurde der Steuersatz von 35 Prozent auf 40 Prozent erhöht, wobei der hohe Freibetrag von fünf Millionen US-Dollar, den die Republikaner forderten, beibehalten wurde. Bis kurz vor Mitternacht mitteleuropäischer Zeit konnten sich aber beide Parteien nicht darauf einigen, wie lange die als Fiskalklippen titulierten automatischen Ausgabenkürzungen im Haushalt verzögert werden sollen. Während die Demokraten eine Verschiebung des Haushaltskahlschlags bis 2015 anstreben, plädierten die Republikaner für eine marginale Verzögerung der Fiskalklippe um nur drei Monate.

Die beschlossenen Maßnahmen werden ersten Schätzungen zufolge in der kommenden Dekade nur 600 Milliarden Dollar an zusätzlichen Steuern von den Vermögendsten zwei Prozent der US-Bürger generieren, womit US-Präsident Obama nicht einmal die Hälfte der ursprünglich anvisierten Steuererhöhungen für Amerikas Oberschicht im Umfang von 1,6 Billionen Dollar realisieren konnte (High Noon an den Fiskalklippen). Die US-Industrie kann sich ebenfalls auf die Aufrechterhaltung etlicher Steuervergünstigungen – etwa Abschreibungsmöglichkeiten bei wissenschaftsrelevanten Investitionen – freuen.

Dieses Einlenken der Obama-Administration im Steuerstreit war absehbar: Die Demokraten haben während des Verhandlungsmarathons am Wochenende ähnlich weitreichende Zugeständnisse gegenüber den Republikanern gemacht, wie sie schon Präsident Obama gegenüber dem republikanischen Sprecher des Repräsentantenhauses, John Boehner, angedeutet hat. So sollten laut dem damaligen Kompromissvorschlag des Präsidenten künftig Steuererhöhungen erst ab einem Jahreseinkommen von 400.000 US-Dollar greifen, während den ursprünglichen Vorstellungen zufolge US-Bürger mit Einkünften von mehr als 250.000 Dollar stärker zur Kasse gebeten werden sollten. Mit genau dieser Forderung – die nun in den Verhandlungen massiv aufgeweicht wurde – ist Präsident Obama noch vor wenigen Monaten in den Wahlkampf gezogen. Die Streichung von Ermäßigungen bei der Lohnsteuer, die 160 Millionen US-amerikanische Lohnabhängiger treffen wird, ist ebenfalls am Wochenende beschlossen worden. Die Republikaner beharrten hingegen lange Zeit auf einen jährlichen Einkommensbetrag von 550.000 US-Dollar, der von zusätzlichen Steuerbelastungen ausgenommen werden sollte, sowie dem steuerlichen Freibetrag bei Erbschaften in Höhe von fünf Millionen Dollar.

Die Verhandlungsparteien einigten sich nach aufreibenden Verhandlungen somit auf einen Kompromiss, der auf ähnlich umfassenden Konzessionen der Obama-Regierung beruht, die bei der demokratischen Basis bereits Mitte Dezember für Empörung sorgten. Damals bot Barack Obama dem republikanischen Verhandlungsführer Boehner bereits eine Ausklammerung aller Einkommen unterhalb von 400.000 Dollar von jeglichen Steuererhöhungen an, sowie zusätzliche harte Einschnitte bei Sozialleistungen und der Krankenversicherung. Der republikanische Verhandlungsführer Boehner reagierte auf dieses Entgegenkommen Obamas mit einem Abbruch der Gespräche und der Initiierung eines eigenen haushaltspolitischen Vorschlags, der Steuererhöhungen erst ab einer Million Dollar vorsah – und den er in der eigenen Fraktion aufgrund des Widerstands extremistischer Abgeordneter von der sogenannten Tea-Party-Bewegung nicht durchsetzen konnte. Erst nach diesem Fiasko Boehners verlagerten sich die Verhandlungen über den Fiskaldeal in den Senat.

Kritik an Kompromiss

Der progressive und linke Flügel der Demokraten musste so ein klassisches Déjà vu durchleben, ähnlich den Auseinandersetzungen um die Gesundheitsreform in Obamas erster Amtszeit (Die verscherbelte Gesundheitsreform), bei dem "sein" Präsident allzu schnell Bereitschaft zeige, von zentralen sozialpolitischen Wahlversprechen abzurücken. Diesmal scheint der lautstarke Aufschrei der US-amerikanischen Linken seine Wirkung aber nicht verfehlt zu haben, da in dem haushaltspolitischen Deal keine Kürzungen von Sozialleistungen aufgenommen wurden. Die Arbeitslosenunterstützung für Langzeitarbeitslose wurde – wie von der Linken gefordert – um ein weiteres Jahr verlängert.

In ersten Kommentaren dieses Last-Minute-Deals überwogen seitens progressiver Publizisten und Ökonomen aber eher negative Einschätzungen: Die Demokraten wollten die "Steuern für Reiche erhöhen, die Republikaner wollten sie für Arme und die Mittelklasse anheben", meinte etwa Ezra Klein, ein bekannter Kolumnist der Washington Post. Es müsse klar ausgesprochen werden, dass die Republikaner dabei seien, diese Verhandlungen zu gewinnen, so Klein. Mit der Anhebung der Freigrenze für Steuererhöhungen auf 450 000 und dem Auslaufen der Vergünstigungen bei der Lohnsteuer hätten die Republikaner das erreicht, "wofür sie gekämpft haben". Die meisten Amerikaner werden in diesem Jahr tatsächlich mit einer Steuererhöhung fertig werden müssen. Die bizarre Verzerrung des politischen Spektrums in den USA, das nach Jahrzehnten neoliberaler Hegemonie immer weiter nach Rechts abdriftete, thematisierte der Publizist Zachary Goldfrab am 26. Dezember, Demnach seien die Demokraten im Haushaltsstreit im Endeffekt dabei, einen Großteil der von George W. Bush erlassenen temporären Steuervergünstigungen zu verewigen, die sie einstmals politisch bekämpft haben. An die 80 Prozent der dadurch verursachten staatlichen Einnahmeverluste werden so prolongiert. Der Standpunkt der Demokraten in der Steuerdebatte sei näher an George W. Bush als etwa an seinen demokratischen Amtsvorgänger Clinton, kommentierte Klein.

Ähnlich pessimistisch äußerte sich der bekannte linksliberale Ökonom Paul Krugman. Demnach habe es Obama zwar geschafft, den "Albtraum" von Kürzungen bei der staatlichen Krankenversicherung für Rentner und beim Sozialsystem zu verhindern, doch seine massiven Zugeständnisse bei der Besteuerung der amerikanischen Megareichen würden den Boden für eine noch "hässlichere" Konfrontation in der nahen Zukunft bereiten:

Jeder, der die Verhandlungen betrachtet, vor allen unter Berücksichtigung von Obamas früherem Verhalten, kann nur zu einer Schlussfolgerung gelangen: Jedes Mal, wenn der Präsident sagt, dass es eine Sache gibt, bei der er absolut keine Zugeständnisse machen wird, kann man darauf zählen, dass er, nun ja, einlenkt - und das sehr schnell. Die Idee, dass man nur Versprechen und Drohungen macht, die man auch einhalten kann, scheint der Präsident noch nicht so richtig erfasst zu haben.

Die Republikaner werden laut Krugman sofort damit anfangen, den Präsidenten bei den Verhandlungen um die Erhöhung der Schuldenobergrenze der USA – dem sogenannten "Debt Ceiling" - unter Druck zu setzen. Die derzeit noch ausgesparten Sozialkürzungen dürften sich somit bald wieder auf dem Verhandlungstisch finden. Die Republikaner können nun davon ausgehen, dass sie ihre Ziele trotz gegenteiliger Behauptungen des Weißen Hauses erreichen würden, was eine dramatische Konfrontation inklusive einer eventuellen Kollision mit der Schuldenobergrenze wahrscheinlich mache. "Wenn ich ein Republikaner wäre, würde ich ebenfalls darauf wetten, dass er [Obama] einlenkt", so Krugman.

Bei der Schuldenobergrenze (Debt Ceiling) handelt es sich um den gesetzlich festgelegten größtmöglichen Schuldenbetrag, den die Vereinigten Staaten erreichen dürfen. Für gewöhnlich stellte die Anhebung dieser Schuldengrenze im Kongress eine reine Formalie dar, bis die Republikaner bei dem Schuldenstreit 2011 eine Erhöhung verweigerten und diese an massive Ausgabenkürzungen seitens der US-Regierung koppelten. Die jüngsten Auseinandersetzungen um die "Fiskalklippe" stellen gerade eine Folge des damaligen Haushaltsstreits dar, da die Drohung der automatischen Kürzungen einen Teil der 2011 erreichten Übereinkunft zwischen Demokraten und Republikanern bildete.

Den Vereinigten Staaten droht nun eine haushaltspolitische Dauerkrise, bei der die Republikaner ihre Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen durch eine massive Blockadepolitik zu kompensieren versuchen. Der Streik um die Fiskalklippe geht so nahtlos über in die Auseinandersetzungen um die Schuldenobergrenze – und jedes Mal sind die Republikaner bemüht, Obama zu weitreichenden Zugeständnissen zu nötigen, mit denen er einen Gutteil seiner Wahlversprechen brechen muss. Paul Krugman bezeichnet diese Taktik der Rechten als eine Art ökonomischer Geiselnahme bei der die Republikaner bereit seien, schwerste ökonomische Verwerfungen in Kauf zu nehmen, um ihre parteipolitischen Ziele zu erreichen.

Die taktischen Verhandlungserfolge der amerikanischen Rechten können aber durchaus in einer strategischen Niederlage der Republikaner münden

Aktuellen Umfragen zufolge macht ein Großteil der Wählerschaft die Republikanische Partei für die Eskalation während der Verhandlungen verantwortlich. Bei einer Abstimmung auf der Website Los Angeles Times beschuldigten beispielsweise mehr als Zwei Drittel der Teilnehmer die Rechte, eine "Politik am Rande des Abgrunds" zu betreiben.

Der extremistische Flügel der "Grand Old Party", der auch zur Boehners Abstimmungsniederlage in der eigenen Fraktion Mitte Dezember maßgeblich beigetragen hat, bestimmt immer stärker die politische Marschrichtung der Partei. Die Republikaner seinen gerade dabei, "sich vor unser aller Augen selbst zu zerstören", kommentierte etwa The Economist. In den Medien setze sich das "Narrativ" durch, das den rechten Flügel dieser Partei als "irregeleitete Eiferer" porträtiere, während die Partei auf jedwede Kritik mit einer weiteren Verschärfung ihres Rechtskurses reagiere. Es sind inzwischen nicht nur Gruppen von Milliardären, die sich gegen "ihre" Partei stellen und höhere Steuern fordern, auch die wichtige US-amerikanische Industrievereinigung Business Roundtable veröffentlichte jüngst ihre "Politikempfehlungen" bezüglich der Haushaltspolitik, in denen sie sich für Steuererhöhungen für Wohlhabende und Ausgabenkürzungen aussprach.

Die harsche Reaktion des einflussreichen republikanischen Politikers Dave Camp ist bezeichnend für den populistischen Kurs der Partei, die als die politische Heimstätte des amerikanischen "Big-Business" gilt: "Das Big-Business mag die Erhöhung von Steuern für Kleinunternehmen unterstützen, aber ich tue das nicht."