Die Chávez-Obsession

Womöglich muss sich Venezuelas Präsident Hugo Chávez aus der Politik zurückziehen. Doch was würde das für Regierung und Opposition bedeuten?

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Zum ersten Mal seit knapp zweieinhalb Jahrzehnten besteht die Möglichkeit eines Rückzugs des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez. Das Oberhaupt der "Bolivarianischen Revolution" - eines tiefgreifenden politischen und sozialen Transformationsprozesses, der seine Wirkung weit über die Grenzen des Erdölstaates hinaus entfaltet - leidet unter den Folgen der inzwischen vierten Krebsoperation seit der Diagnose des Tumorbefalls Mitte 2011. Spätestens seit die Regierung Ende Dezember über schwere postoperative Komplikationen informiert hat, wird in Venezuela und international über die Folgen eines möglichen Ausscheidens des 58-Jährigen aus der Politik diskutiert. Die Prognosen des Endes der "Bolivarianischen Revolution" ähneln in erstaunlicher Weise ähnlichen Voraussagen vor dem Rückzug des kubanischen Revolutionsführers Fidel Castro im Jahr 2009. Und sie werden sich wahrscheinlich als ebenso falsch erweisen.

Eines der Hauptprobleme im Umgang mit den Reformprozessen in Lateinamerika im Allgemeinen und in Venezuela im Speziellen ist der Tunnelblick des Westens. Hugo Chávez wird als Synonym für die politischen und sozialen Umbrüche gesehen. Zum einen, weil das Wissen über die Prozesse fehlt. Zum anderen, weil es die venezolanische Opposition kraft ihrer geballten Medienmacht verhindert, dass der gesellschaftliche Umbruch zuungunsten der Oligarchie als authentischer Prozess erkannt und anerkannt wird. Neben der starken Fokussierung auf die politische Führungsfigur Chávez ist das ein Grund für die hohe Medienaufmerksamkeit, die dem erkrankten Staatschef derzeit zukommt.

Hugo Chávez (2008). Bild: Valter Campanato/ABr. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Dabei machte Hugo Chávez selbst die Ernsthaftigkeit seiner Situation deutlich, als er am 11. Dezember, nur wenige Wochen nach seinem deutlichen Wahlsieg (Venezuela wird noch roter), zu einer erneuten Operation nach Kuba aufbrach. Sollte er dereinst zur Ausübung des höchsten Staatsamtes unfähig sein, "dann ist es meine Meinung, dass ihr Nicolás Maduro zum neuen Präsidenten wählen sollt", sagte er in einer Ansprache an seine Anhänger.

Diese Option - eine Nachfolge von Chávez als Revolutionsführer durch den Vizepräsidenten Maduro - wird nun erstmals ernsthaft diskutiert. Nach dem neuen Eingriff in Kuba war es schließlich zu ernsthaften Komplikationen, konkret einer gravierenden Lungenentzündung, gekommen. Das chavistische Lager und die Opposition müssen sich also mit der Frage befassen, was ein Abtritt von Chávez bedeuten würde.

Muss Chávez am 10. Januar 2012 vereidigt werden?

Henrique Capriles Radonski, der bekannteste Oppositionspolitiker, ist sich sicher. "Ich habe meine Zweifel an der Existenz des Chavismus ohne Chávez", sagte er in einem Interview mit der spanischen Tageszeitung La Razón: "Mir scheint jede Führung ohne seine Figur tief verletzbar."

Zwar fordern einige Chávez-Gegner halbherzig Neuwahlen und hoffen auf eine Schwächung des Regierungslagers. Ramón Guillermo Aveledo, der Generalsekretär des Oppositionsbündnisses "Tisch der demokratischen Einheit" (MUD), etwa drängt auf eine Absetzung des Präsidenten wegen dessen Krankheit. Doch die Opposition ist sich nach den Niederlagen bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober und den Regionalwahlen im Dezember durchaus bewusst, dass ihre Chancen schlecht stünden. Zumal zwischen den traditionellen Parteien COPEI und AD und den neuen Kräften im Anti-Chávez-Lager eine tiefe Kluft besteht. "Sollte es tatsächlich zu Neuwahlen kommen, würde der Konflikt zwischen den Oppositionsparteien wieder entflammen", sagte der spanisch-französische Publizist und Venezuela-Kenner Ignacio Ramonet gegenüber Telepolis. Ob der ehemalige Präsidentschaftskandidat der Rechten, Henrique Capriles, noch einmal aufgestellt würde, sei derzeit unklar, so Ramonet.

Der Konflikt dreht sich derzeit vor allem um das Datum des 10. Januars. Nach dem ursprünglichen politischen Fahrplan sollte Chávez dann vor der Nationalversammlung in Caracas seinen Amtseid ablegen. Doch das ist inzwischen unwahrscheinlich. Während die Opposition darauf drängt, Chávez als amtsunfähig zu erklären und Neuwahlen anzusetzen, beharrt die Regierung unter Vizepräsident Nicolás Maduro auf eine Verschiebung des Datums. Chávez könnte auch später seinen Amtseid ablegen, so Maduro, eine Forderung nach seinem Abtritt komme einem Putschversuch gleich.

Die Debatte wird wie besessen um die Person Chávez geführt und ist mit rationalen politischen Überlegungen kaum noch zu erklären. Denn rasche Neuwahlen würden keine der beiden Seiten begünstigen. Die Regionalwahlen am vergangenen 16. Dezember haben mit einem überwältigenden Sieg des Chavismus in 20 der 23 Bundesstaaten gezeigt, dass das Regierungslager auch ohne den Präsidenten einig ist. Dass eine Kandidatur Maduros zu einem Machtwechsel führen kann, ist so wohl eher dem Wunschdenken der Opposition geschuldet. Entscheidend wird alleine sein, wie gut die Basis der politischen Lager aufgestellt ist. Und dabei ist der Chavismus deutlich im Vorteil.

Politische Gegner hoffen auf den Tod von Chávez

Die Opposition in Venezuela erkennt die Organisation der chavistischen Basis nicht an, weil dies bedeuten würde, die "Bolivarianische Revolution" als eigenständigen Prozess zu akzeptieren. Stattdessen kursieren seit Beginn der Erkrankung von Chávez stetig Gerüchte über dessen Ableben.

Die Kampagnen tragen einen geradezu obsessiven Charakter, die der argentinische Journalist Juan Manuel Karg als eine Art politische Nekrophilie bezeichnete, ein Obsession, Chávez um jeden Preis loszuwerden. Karg erinnerte an den evangelikalen US-Hassprediger Pat Robertson, der schon 2005 zum Mord an Chávez aufrief, ebenso wie dies im Jahr zuvor der venezolanische Schauspieler Orlando Urdaneta in Miami getan hatte. Auch in sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter sind die Meldungen über das Ableben von Chávez Legion. So legten User sogar ein Fake-Account der CNN-Reporterin Carmen Aristegui an, um den vermeintlichen Tod des Präsidenten zu vermelden. "Der rote Faden in diesen Überlegungen ist, dass die 'Bolivarianische Revolution' nach dem Tod von Chávez aufgrund von dessen politischen Gewicht zerfällt", schreibt Karg, der dieser These entgegentritt. Die Transformation in Venezuela sei längst ein kollektiver Prozess, der sich auf Basisaktivisten in den Kommunalen Räten und Sozialprogrammen stütze.

Man gewinnt dieser Tage den Eindruck, dass die privaten Medien in Venezuela dieser Erkenntnis mit aller Kraft entgegenzutreten versuchen. So berichteten regierungskritische Tageszeitungen unter Berufung auf fragwürdige spanische Nachrichtenquellen über einen Telefonkontakt zwischen Vizepräsident Maduro und der Lateinamerika-Beauftragten des US-Außenministeriums, Roberta S. Jacobson, in der die Rückkehr der US-Drogenbehörde DEA vereinbart worden sei. So wurde der Eindruck erweckt, dass die Differenzen mit den USA alleine an Chávez liegen. Wenig später dementierte Maduro. Es habe zwar ein Telefonat gegeben, weil der Präsident eine Annäherung an Washington angestrebt habe. Eine Rückkehr der DEA in das südamerikanische Land werde es jedoch nicht geben.

Prozess von Führungsfigur unabhängig

So befindet sich Venezuela dieser Tage zwischen zwei politischen Kulturen. Auf der einen Seite steht die starke Rolle des Präsidenten als Integrationsfigur der zahlreichen Bewegungen und Gruppierungen, von denen die "Bolivarianische Revolution" getragen wird. Auf der anderen Seite steht eben diese heterogene Basis, die lange vor Beginn des Transformationsprozesses bestand und die sich nach wie vor eine kritische Unabhängigkeit gegenüber der Funktionärsriege in der sichtbaren Parteipolitik bewahrt hat. Chávez starke Position begründet sich auch in dem Umstand, dass er von der breiten Basis des Prozesses als Garant für die Interessen der Menschen in den Barrios, den Armenvierteln, und gegen eine Sozialdemokratisierung der Revolution gesehen wird. Ein möglicher Nachfolger Maduro müsste sich dieses Vertrauen erst noch erarbeiten.

Dass die Beständigkeit eines alternativen politischen Prozesses bei einer stabilen Basis und Mittelebene von der Führungsfigur unabhängig ist, hat Kuba in den vergangenen Jahren unter Beweis gestellt. Entgegen aller Vorhersagen aus Wissenschaft und Medien ist es in dem sozialistisch regierten Inselstaat zu keinem Umbruch gekommen. Stattdessen kehrte Fidel Castro nach dem Rückzug aus der aktiven Politik als "Soldat der Ideen" auf die Bühne zurück, eine Art geistiger Übervater.

Ein ähnlicher Trend ist in Venezuela auszumachen. Chávez wird in einer Kampagne mit Logo, Musik und Fernsehspots als "Corazón del Pueblo" inszeniert, als "Herz des Volkes". Das könnte als Indiz dafür gelten, dass ein Mythos aufgebaut wird, der den Politiker überlebt und weiterhin für den Zusammenhalt der Bewegung sorgt. Wozu der Staatschef selbst kräftig beigetragen hat, als er in der vergangenen Präsidentschaftskampagne seinen Anhängern zurief: "Nicht ich alleine bin mehr Chávez. Chávez ist ein Volk. Chávez sind Millionen. Auch Du bist Chávez, venezolanische Frau, venezolanischer Jugendlicher, venezolanisches Kind, venezolanischer Soldat."

Maduro müsste den Ausgleich gewährleisten

Unabhängig von Chávez' gesundheitlichem Schicksal wird über die Stabilität in Venezuela entscheiden, inwieweit dem Regierungslager der Interessenausgleich zwischen den beteiligten Strömungen sowie der Mittelschicht und den verarmten Bevölkerungskreisen gelingt. Denn auch in der Mitte des zweiten Jahrzehnts der "Bolivarianischen Revolution" herrscht in dem Erdölstaat Venezuela nach wie vor eine immense Kluft zwischen den sozialen Schichten. Die Sozialpolitik der vergangenen Jahre hat die Umverteilung zwar zugunsten der bislang politisch und sozial marginalisierten Bevölkerungsmehrheit verändert. Doch der Druck der oberen Mittelschicht und Oberschicht, diese Entwicklung zu revidieren, ist enorm - und wird von Alliierten auf der internationalen Ebene unterstützt.

Führende Funktionäre der Regierung betonen daher immer wieder den Willen, die soziale Reformpolitik fortzuführen. Es gehe nach dem Triumph bei den Kommunalwahlen Mitte Dezember darum, "das Terrain zu säubern, das zuvor von der alten, korrupten Mafia bestellt wurde, um danach die Volksmacht aufzubauen", sagte Nicolás Maduro. Gemeint sind die basisdemokratischen Strukturen auf kommunaler und regionaler Ebene. Der ehemalige Vizepräsident Elías Jaua schrieb in einem Meinungsartikel: "Chavist zu sein, bedeutet, zu wissen, dass uns die Macht als Volk gehört, und eben nicht den Reichen, es bedeutet zu wissen, dass die nationalen Einkünfte allen gehören."

Unabhängig von solchen Stellungnahmen ist zahlreichen Sozialaktivisten an der Basis jedoch klar, dass die Loyalität mancher politischer Funktionäre ihrer sozialen Klasse gegenüber stärker ist als gegenüber der politischen Mission. Dieser Konflikt innerhalb des breiten Spektrums der Strömungen, die unter dem Begriff "Chavismus" subsumiert werden, wird entscheidend für die kommenden Jahre sein. Mit oder ohne Hugo Chávez.