Barroso erklärt die Krise für beendet

Der IWF räumt dagegen Fehler ein, Sparprogramme hätten gravierendere Auswirkungen als erwartet gehabt

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In Brüssel wird nun offiziell verkündet, die Eurokrise sei vorbei. Doch das passt nicht damit zusammen, dass die Euro-Zone in der Rezession steckt, die Arbeitslosigkeit auf immer neue Rekordwerte steigt und das Wachstum in den Schwellenländern zu lahmen beginnt. Am Abwärtstrend wird sich trotz neuer Psychologie zur Krisenbekämpfung nichts ändern, solange am drastischen Sparkurs festgehalten wird. Diese Meinung setzt sich offenbar auch im Internationalen Währungsfonds (IWF) durch. In Washington wurde eingeräumt, falsch gerechnet zu haben, womit die Krise über den drastischen Sparkurs verschärft wurde. So ist nicht verwunderlich, dass IWF-Chefin Christine Lagarde sogar vor der Gefahr einer neuen großen Weltwirtschaftskrise warnt.

Es waren sonderbare Töne, die in den letzten Tagen aus Brüssel zu vernehmen waren. Es war der Präsident der Europäischen Kommission, der die Eurokrise zwar nicht aus Brüssel, aber beim Besuch in seiner portugiesischen Heimat für beendet erklärte. Er sagte in Lissabon, die "existenzielle Bedrohung für den Euro ist grundsätzlich überwunden". Im laufenden Jahr werde die Frage nicht mehr lauten, ob der Euro auseinanderbricht oder nicht. Die Investoren hätten verstanden, dass die europäischen Führer es ernst damit meinen, alles zum Schutz des Euro tun zu wollen, erklärte er auf einer Konferenz in der portugiesischen Hauptstadt.

Barroso schließt sich damit der Einschätzung des Präsidenten des Europäischen Rats an. Herman Van Rompuy hatte sich vor Weihnachten ähnlich geäußert und auch Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hatte zum Jahreswechsel eingestimmt. "In der Euro-Krise haben wir das Schlimmste hinter uns", sagte er im Interview.

Dass Barroso die Aussage in Portugal machte, ist vielleicht kein Zufall, obwohl die Lage dort als fatal bezeichnet werden kann. Doch dort setzen die Konservativen gern auf schöne Worte und Kosmetik. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte die Lage des Landes während ihres Besuchs im November schöngebetet. Tatsächlich steigt aber auch in Portugal die Arbeitslosigkeit auf immer neue Rekordwerte, viele Menschen können sich keine Gesundheitsversorgung mehr leisten. Über Weihnachten mussten sogar Schulkantinen geöffnet bleiben, weil viele Kinder sonst nichts oder zu wenig zu essen bekommen hätten.

Beim IWF spricht man nicht von begangenen Irrtümern, sondern lieber von Rechenfehlern

Barroso meint aber: "Die Risikowahrnehmung in der Eurozone ist verschwunden." Dass allgemein ein immer größerer Reichtum einer sich immer dramatischer ausbreitenden Armut gegenüber steht (Unendlicher Reichtum und bittere Armut), will er offenbar nicht sehen. Dabei gelangt man sogar beim IWF zur Einschätzung, sich in der Krise massiv geirrt zu haben. Allerdings sprechen Chefvolkswirt Olivier Blanchard und sein Kollege Daniel Leigh beschönigend von einem "Rechenfehler". Dass sie sich fatal geirrt haben, sagen sie in dem Arbeitspapier nicht klar und deutlich. Dabei waren es diese "Rechenfehler", die den IWF dazu gebracht hatten, die drakonischen Sparprogramme zu entwerfen.

Im Rahmen der Rettungsprogramme wurden sie Ländern wie Portugal und Griechenland aufgezwungen. Spaniens Konservative haben schon vorbeugend auf diesen Kurs eingeschwenkt, weil nach dem begrenzten Antrag zur Bankenrettung ein umfassender Rettungsantrag absehbar ist. In Spanien haben die Programme besonders heftig gewirkt. Von den knapp 19 Millionen Arbeitslosen im Euroraum findet sich mit gut 6,1 Millionen fast ein Drittel allein in Spanien. Dort sind schon 26,6 Prozent der aktiven Bevölkerung ohne Job, so die europäische Statistikbehörde Eurostat am Dienstag.

Die IWF-Experten geben unterschwellig sogar zu, dafür mitverantwortlich zu sein: "Die Prognosen haben das Anwachsen der Arbeitslosigkeit und das Sinken der Binnennachfrage signifikant unterschätzt." Die in der Finanzkrise geforderten "größeren fiskalischen Kürzungen" hätten zu einem deutlich schwächeren Wachstum geführt als ursprünglich erwartet worden sei. "Der Anstieg der Arbeitslosigkeit und der Konsum- und Investitionsrückgang, der mit einer fiskalischen Konsolidierung einhergeht, wurde deutlich unterschätzt", heißt es in dem Papier.

Sie sprechen von einem Rechenfehler, weil sie mit einem sogenannten "fiskalische Multiplikator" den Effekt messen, den Kürzungen staatlicher Ausgaben und Steuererhöhungen auf das Wirtschaftswachstum haben sollen. Der IWF war davon ausgegangen, dass jeder Euro, den der Staat dem Wirtschaftskreislauf entzieht, das Bruttoinlandsprodukt (BIP) nur um 0,5 Euro senkt. Nun behaupten Sie aber, die Zusammenhänge besser verstanden zu haben. Der Multiplikator habe "deutlich über 1" gelegen, sagen sie dazu in den Schlussfolgerungen, wobei sie im Text sogar von 1,5 sprechen. Der "Verstärkungseffekt" auf die Krise war also etwa drei Mal so stark, als sie vorhergesehen hatten.

Und das führte dazu, wie Telepolis immer wieder aufgezeigt hat, dass Länder wie Griechenland und Portugal in die Depression gespart wurden. Dem Ziel, auf diesem Kurs die ausufernde Verschuldung zu senken, kommen die Länder nicht näher. Die Staatsverschuldung im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung wird immer größer, wie bei Eurostat nachzulesen ist. In Griechenland war trotz Schuldenschnitt, Schuldenrückkauf und Rettungsbemühungen die Verschuldung schon im zweiten Quartal 2012 auf mehr als 150% des BIP gestiegen. 2008 waren es vor der Rettung noch 113%. In Portugal waren es 118%, aber 2008 noch knapp 72%. In Irland hat sie sich von 44% Ende 2008 bis im zweiten Quartal 2012 auf fast 112% fast verdreifacht und in Spanien von 40% auf 76% fast verdoppelt. Schuldenabbau und Konsolidierung sehen anders aus.

Rezept für ein Desaster

Das war absehbar, denn mit dem drastischen Sparkurs verschlechtert sich die Wirtschaftsentwicklung deutlich. Auf der einen Seite steigen die Kosten für Arbeitslosengeld und Sozialleistungen und auf der anderen Seite brechen trotz enorm steigender Steuersätze die Steuereinnahmen ein. Man kann das Rezept für ein Desaster weiter anwenden. An der steigenden Zinslast und der Verschuldung wird sich auf diesem Weg aber nichts ändern. Massen werden in den Ländern aber zum Teil in extreme Armut gestürzt. Firmen, die ohnehin kaum an Kredite kommen, gehen pleite und immer neue Menschen verlieren ihren Job, die wiederum ihren Konsum einschränken müssen. Sie zahlen nichts mehr in die Sozialkassen ein, die defizitär werden oder deren Defizite wachsen.

Die steigende Arbeitslosigkeit reißt, weil immer neue Kredite faul werden, neue Löcher in die Bilanzen der Banken. Die werden dann wieder gerettet, wie in Spanien gerade zu sehen ist. Das lässt, wie in Irland beobachtet werden konnte, die Verschuldung aber regelrecht explodieren. Doch statt den Problemen auf den Grund zu gehen, setzt man einen neuen Flicken auf. Man will den Banken nun direkten Zugriff auf die Steuermilliarden im Rettungsfonds ESM gewähren, damit für die Bankenrettung die Staatsverschuldung nicht steigt.

Nachträglich beim IWF von "Rechenfehlern" zu sprechen, geht ohnehin am Thema vorbei. Die Experten hätten schon zuvor in Berichten aus dem eigenen Haus nachlesen können, was sie nun erneut herausgefunden haben wollen. In der Analyse von mehr als 100 sogenannten Anpassungsprogrammen, die verschiedenen Ländern zwischen 1993 und 2001 aufgezwungen wurden, hatte der IWF schon 2003 festgestellt, dass drastische Sparprogramme das Wachstum stärker als erwartet abgewürgt haben. Auch damals wurden die angepeilten Defizitziele und ein Abbau der Schuldenlast verfehlt.

An berufenen Stimmen, die angesichts dieser Erfahrungen mit drastischen Worten davor gewarnt haben, diesen gescheiterten Kurs nun in Europa anzuwenden, hat es nicht gemangelt. Ökonomie‑Nobelpreisträger Paul Krugman bezeichnete die harten Sparprogramme vor Jahren als "verrückt" und "große Dummheit". Sein Kollege Joseph Stiglitz warnte ausdrücklich vor den zu erwartenden "katastrophale Folgen".

Obwohl die Folgen schon sichtbar sind, schlagen Blanchard und Leigh nun aber nur alternative Berechnungsverfahren für die Zukunft vor. Ihre Ergebnisse dürften nicht als Argument für eine neue Fiskalpolitik benutzt werden dürften, meinen sie. Grundsätzlich wollen sie am Sparkurs festhalten. Und dieses Lied wird auch in der Bundesregierung weiter gesungen, auch wenn es sich um einen sehr teuren Kurs handelt.

Schon deshalb kann kaum vom Ende der Krise oder der Euro-Krise gesprochen werden, ein neuer Funke kann ausreichen, um auch die gesunkenen Zinsen für Länder wie Italien und Spanien wieder in die Höhe schießen zu lassen, die trotz allem für sie immer unbezahlbarer werden. Auch deshalb sprach die IWF-Chefin statt vom Ende der Krise sogar davon, dass eine "schwerere Weltwirtschaftskrise" drohen könne. Sie begründete ihren pessimistischen Ausblick mit der Schuldenkrise in den USA und dazu sieht sie das schwache Wachstum hochverschuldeter europäischer Staaten.

Die haushaltspolitische US-Dauerkrise könnte jederzeit den Funken schlagen, der die Schuldenkrise und Euro-Krise erneut auf die Tagesordnung setzen kann. Denn auch in der Frage der Fiskalklippe wurde nur Zeit geschunden, wie man es Europa mit den Rettungsprogrammen seit Jahren macht. Statt eines schwachen Wachstums stecken die großen europäischen Länder praktisch alle außer Deutschland in der Stagnation oder wieder in der Rezession. Lagarde zeichnet sogar noch ein zu positives Bild.

Dazu kommt, dass das Wachstum in den wichtigen Schwellenländern Brasilien, Russland, Indien und China weiter an Schwung verliert. Der Wachstumsmotor BRIC-Staaten stottert. In China wird geschätzt, dass das Wachstum 2012 auf 7,6% zurückgegangen ist, das wäre der schlechteste Wert in den vergangenen zehn Jahren. 2011 lag es noch bei 9,3%. In Indien soll es von 6,5% auf 5,3% gesunken sein, in Russland von 4,3% auf 3,6%. In Brasilien ist es von 2,7% auf 1% eingebrochen. Experten erwarten nicht, dass sich an der Tendenz 2013 etwas ändert.

Basel III Abkommen wurde gelockert

Dass am Sonntag nun die Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht beschlossen hat, die Anforderungen an die Geldinstitute nach dem Basel III Abkommen zu lockern, noch bevor sie in Kraft getreten sind, ist ebenfalls kein gutes Zeichen. Einst hatten die Bankenaufseher den Druck der Banken mit der Begründung zurückgewiesen, sie wollten schnell wieder zu ihrer Casino-Mentalität zurückzukehren, die man in Spanien schon wieder beobachten kann. Doch die Banken haben sich weitgehendend durchgesetzt. Sie müssen nun die geplante Mindest‑Liquiditätsquote (LCR) erst bis 2019 aufbauen, 2015 sollen es nur 60% sein. Eigentlich war geplant, dass sie 2015 weitgehend Barreserven und Staatsanleihen vorhalten müssen, um eine drastische Liquiditätskrise über 30 Tage, ähnlich der im Herbst 2008, aushalten zu können. Wurde zunächst davon ausgegangen, dass Privatkunden in der Zeit 5% ihres Geldes abzögen, wurde der Wert nun auf 3% fast halbiert. Auch andere Kriterien sind deutlich verwässert worden. Die Banken können nun dauerhaft weiter schlecht gewertete Papiere bei den Zentralbanken als Sicherheiten hinterlegen. Sogar besonders umstrittene Papiere aus dem Derivate-Bereich können langfristig weiter verwendet werden, um an frisches Zentralbankgeld zu kommen. Die Kapitalvorgabe darf nun mit bis zu 15 Prozent mit Anlagen erfüllt werden, zu denen auch mit Wohnhypotheken gedeckte Wertpapiere zählen.

So wurde nun also auch das Abkommen ausgehöhlt, das als bahnbrechende Antwort auf die globale Finanzkrise nach der Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers gehandelt wurde. Dabei war es ohnehin zu soft und unzureichend. Das kann man schon daran sehen, dass die Schweiz bei den Anforderungen deutlich über die Anforderungen in Basel III hinausgegangen ist, die nun weiter aufgeweicht wurden. Es ist damit klar, in welche Richtung die Risiken wieder verschoben werden. Denn im Zweifel haftet der Steuerzahler.