"Es läuft etwas fundamental schief"

US-Bürger haben im Vergleich zu Menschen in anderen Industrieländern eine kürzere Lebenserwartung und einen schlechteren Gesundheitszustand, ein Expertengremium spricht von einer "gesundheitlichen Benachteiligung" der Amerikaner

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Die Lebenserwartung in den Vereinigten Staaten ist höchst unterschiedlich verteilt. Aber sie ist deutlich niedriger als in anderen westlichen Ländern und gleicht eher der eines Entwicklungslandes, obgleich die Pro-Kopf-Ausgaben für das Gesundheitssystem die höchsten sind. Und es sind die jüngeren Amerikaner, die früher sterben als ihre Altersgenossen in anderen Ländern. In den letzten 30 Jahren hat sich die Situation noch weiter verschlechtert, besonders bei Frauen. Neben der höheren Zahl der Todesfälle durch Drogen oder Verkehrsunfällen sterben weitaus mehr jüngere Menschen als in den anderen Ländern durch Schusswaffen.

Eine vom Gesundheitsministerium beim Institute of Medicine und dem National Research Council in Auftrag gegebene Studie macht nun erstmals systematisch die Kehrseite des "amerikanischen Traums" deutlich. Im Vergleich zur Lebenserwartung in 16 vergleichbaren Industrieländern wie Kanada, Japan, Australien, Frankreich, Deutschland oder Spanien wird deutlich, dass zwei Drittel der verminderten Lebenserwartung der US-Männer und ein Drittel der von US-Frauen nicht erst in höherem Alter eintreten, sondern schon unter 50 Jahren. In den 17 Ländern ist die Lebenserwartung der Männer in den USA am schlechtesten, bei den Frauen am zweischlechteste.

Das Expertengremium äußert angesichts der schlechten Ergebnisse für die US-Bürger Bestürzung und spricht von einer "gesundheitlichen Benachteiligung". Für Steven Wolf, den Leiter des Department of Family Medicine at Virginia Commonwealth University und der Leiter des Expertengremiums, "läuft etwas fundamental schief". Das sei kein Ergebnis einer bestimmten Regierung oder einer Partei, so Wolf zurückhaltend, sondern es sei etwas im Kern der Gesellschaft, "das dafür verantwortlich ist, dass die USA hinter diese Hocheinkommensländer zurückfällt. Und es wird schlimmer."

Die vor allem von den Republikanern vorgenommenen Kürzungen im Bereich der sozialen Sicherung, der Kampf um eine Krankenversicherung für alle oder die ebenfalls von Republikanern unterstützte Waffenlobby wären allerdings einige der Gründe, für die politische Kräfte durchaus verantwortlich sind. Und da es vor allem seit den 1980er Jahren abwärts geht, wird man nicht weit fehlgehen, die damals eingeführte Reagonomics mit verantwortlich zu machen, durch die die Ungleichheit in der Gesellschaft deutlich angestiegen ist. Noch in den 1950er Jahren lag die Lebenserwartung in den USA über der in den meisten Industrieländern. Man sollte meinen, Wissenschaftler sollten Ursachen durchaus benennen können, wenn sie nicht Teil des Problems sein oder bleiben wollen.

Zwar ist seit langem bekannt, dass die laschen Waffengesetze und die vielen im Land vorhandenen Schusswaffen dafür verantwortlich sind, dass in den USA im Vergleich zu anderen Industrieländern am meisten Menschen durch Schusswaffen getötet werden, nämlich zwanzigmal mehr. Aber erst nach dem Schulmassaker werden strengere Waffengesetze diskutiert, die freilich die Zahl der in Privathaushalten vorhandenen Schusswaffen nicht verringern werden. Schon die Möglichkeit einer Verschärfung des Waffenrechts hat dazu geführt, dass es zu einen Verkaufsboom für Schusswaffen und Munition gegeben hat.

In mindestens neun gesundheitlichen Aspekten schneiden die Amerikaner teils deutlich schlechter ab:

  • Kindersterblichkeit und geringes Geburtsgewicht
  • Verletzungen und Mord
  • Jugendschwangerschaften und übertragbare Sexualkrankheiten
  • HIV und AIDS
  • Todesfälle durch Drogen
  • Fettleibigkeit und Diabetes
  • Herzerkrankungen
  • chronische Lungenerkrankungen
  • Behinderungen

Viele dieser Bedingungen haben nach dem Bericht einen starken Einfluss auf junge Menschen und senken die Wahrscheinlichkeit, dass sie älter als 50 Jahre werden. Die Amerikaner haben die geringste Wahrscheinlichkeit, älter zu werden. Und wer älter wird, leidet stärker unter Krankheiten. Allerdings schneiden die Amerikaner auch in manchen Bereichen besser ab. So erkranken sie weniger oft an Krebs, Blutdruck und der Cholesterinspiegel werden besser überprüft. Und wer es bis zum 75. Lebensjahr schafft, kann damit rechnen, älter als die Menschen in den anderen Industrieländern zu werden. Aber das sind schon die einzigen Ausnahmen.

Zwar wird auf den Gesundheitszustand derjenigen verwiesen, die arm oder unterversichert sind, die Mängel könne man damit aber nicht alleine erklären, weil auch bessergestellte Amerikaner mit einem höheren, Gehalt, mit Krankenversicherung und guter Ausbildung gesundheitlich schlechter dastehen wie Menschen in den Vergleichsländern. Gleichwohl spielt es eine erhebliche Rolle, wenn viele Menschen keine Krankenversicherung haben. Die USA haben im Vergleich mit den anderen Ländern auch die größte Armutsrate. Auch geringe Schulausbildung schlägt sich in den USA am stärksten nieder, weil die sozialen Sicherheitsnetze fehlen.

Als mögliche Gründe für die desolate Lage wird neben dem Gesundheitssystem, der Einkommensungleichheit, der hohen Armutsrate und fehlenden sozialstaatlichen Maßnahmen auch darauf verwiesen, dass die Amerikaner zwar neuerdings weniger trinken und rauchen als die Menschen in den anderen Länder, dass sie aber die meisten Kalorien konsumieren, mehr Drogen zu sich nehmen, weniger oft Sitzgurte anlegen, öfter unter Alkoholeinfluss an Verkehrsunfällen beteiligt sind - und eben eher Schusswaffen benutzen.