Lauter kleine Kaiser

China: Neue Generation, die sich vom Rest der Gesellschaft unterscheidet

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Die rigorose Bevölkerungspolitik des chinesischen Staates zur Geburteneindämmung war den Zahlen nach erfolgreich, hatte aber auch viele negative Effekte, die mit der Zeit immer deutlicher werden. Eine ganze Generation von Chinesen wuchs ohne Geschwister auf. Psychologen zeigen jetzt, dass diese Einzelkinder sich deutlich anders verhalten, es mangelt ihnen an Vertrauen, Zuversicht und Risikobereitschaft.

Prinz Zhu Youyuan (朱祐杬) (1476-1519), Bild: Wikipedia

China ist der bevölkerungsreichste Staat der Welt. Mit mehr als 1,3 Milliarden Menschen leben dort mehr Einwohner als in Nordamerika und Europa zusammen. Jeder fünfte Erdenbewohner ist ein Chinese oder eine Chinesin. Die Versorgung einer derartig riesigen Bevölkerung stellte den kommunistischen Staat, der nach seiner Gründung zunächst auf hohe Geburtenraten gesetzt hatte, zunehmend vor große Probleme. In den 1960er Jahren des vorigen Jahrhunderts kam es zu Hungerkrisen, die zu einem Politikwandel führten.

In den 1970er Jahren setzte die Partei auf Kampagnen, die zu einer Verringerung der Geburten führte, allerdings ging die Zahl der Kinder nur von durchschnittlich sechs auf drei pro Familie zurück. 1979 begann der Staat mit systematischen Maßnahmen zur Bevölkerungs- und Familienplanung, die im Westen als "Ein-Kind-Politik" bezeichnet werden (vgl. Wie China den Hunger besiegte).

Diese Maßnahmen reichen von der Förderung für Paare mit nur einem Kind bis zu harschen Sanktionen oder sogar Zwangsabtreibungen - was international für heftige Kritik von Menschenrechts-Institutionen führte. In China selbst war und ist diese Politik ebenfalls nicht unumstritten. In den letzten Jahren gibt es eine vorsichtige, schrittweise Lockerung der strikten Ein-Kind-Politik, es werden immer mehr Ausnahmen zugelassen.

Erfolge und Probleme

Der chinesische Staat feiert die Ein-Kind-Politik als großen Erfolg. Tatsächlich gelang es die Geburtenrate, die 1970 bei 6 Prozent gelegen hatte, bis Anfang diesen Jahrtausends auf 1,8 Prozent zu senken. Die Einschränkung des Bevölkerungswachstums gilt als wichtige Grundlage für den chinesischen Wirtschaftsboom.

Speziell die Einzelkinder profitierten zudem, weil ihnen beste Bildungschancen eröffnet wurden und werden. Allerdings gibt es eine Kehrseite, zu den negativen Folgen gehört unter anderem die Verschiebung der Alterspyramide. In China gibt es immer mehr alte Menschen, die von immer weniger jüngeren versorgt werden müssen. Das staatliche Rentensystem ist unzulänglich, Altersheime und Pflegedienste sind Mangelware, und es zeichnet sich ab, dass künftig ein junger Mensch bis zu sechs Alte unterstützen muss. Dass die Menschen auch in China immer älter werden, trägt zudem zur Vergreisung der Gesellschaft. Und bereits jetzt zeichnet sich ein Mangel an jungen Arbeitskräften ab.

Durch die rigorose Bevölkerungspolitik hat sich zudem das Verhältnis der Geschlechter verändert. Viele Chinesen wünschten sich vor allem einen Sohn, deswegen wurden weibliche Babys eher abgetrieben. Trotz des Verbots von Ultraschalluntersuchung zur Geschlechterbestimmung, kommen in China national 120 männliche Neugeborene auf 100 weibliche. Regional, wie z.B. auf der südchinesischen Insel Hainan sogar 135.

Schätzungen gehen davon aus, dass künftig 40 Millionen Männer Schwierigkeiten haben werden, eine Frau zu finden. Seit Jahren wird den Chinesen dieses Problem immer bewusster (Allein unter Männern), Peking steuert mit Mädchenförderungsprogrammen dagegen an (Menschenpark China).

Verwöhnte Prinzen und Prinzessinnen

Ein Kind, zwei Eltern, vier Großeltern - das chinesische Einzelkind steht im Mittelpunkt der Familie und wird von allen verwöhnt und verhätschelt. Viel wurde schon darüber geklagt, dass eine ganze Generation der auf Händen getragenen Söhne und Töchter vor allem um sich selbst kreist und schon an den geringsten Widerständen in der Welt außerhalb der Familie scheitert. Längst gibt es eine Bezeichnung für diese überversorgten, selbstsüchtigen Kinder, die keinerlei Kritik ertragen: Little Emperors (Xiao Huangdi = kleine Kaiser).

Allerdings tobte bisher eine Debatte darüber, ob diese Egozentriker tatsächlich eine Folge der Ein-Kind-Politik darstellen, und damit eine ganze Generation charakterisieren, oder ob sie nur auffallende Einzelfälle sind, die viel öffentliche Aufmerksamkeit bekommen. In westlichen Ländern durchgeführte psychologische Studien über Einzelkinder haben gezeigt, dass sie sozial nicht weniger kompetent sind als mit Geschwistern Aufwachsende.

Australische Wissenschaftler wollten nun genau wissen, ob sich die kleinen chinesischen Kaiser tatsächlich generell anders verhalten. Ihre Ergebnisse stellen sie in der aktuellen Online-Ausgabe des Wissenschaftsmagazins Science vor. Das Team um Lisa Cameron von der Monash University in Clayton suchte für ihre Studie vier Gruppen aus den Jahrgängen 1975, 1978, 1980 und 1983 aus, insgesamt 421 Personen beider Geschlechter und mit vergleichbarem Background. Bei geringem Altersunterschied wurden die Studienteilnehmer also kurz vor und kurz nach der Einführung der Ein-Kind-Politik geboren. Alle stammten aus Peking.

Ziel war die Untersuchung des sozialen und des Wettbewerbs-Verhalten, speziell bezüglich Vertrauen, Altruismus und Risikobereitschaft. Dazu bedienten sich die Forscher experimenteller ökonomischer Spielszenarien. Im Diktatorspiel zum Beispiel bestimmt einer der beiden Spieler (der Diktator), wie ein bestimmter Geldbetrag aufgeteilt wird, also wie viel er von sich aus dem anderen abgibt. Beim Risiko-Spiel kann ein Betrag zwischen 0 und hundert gesetzt werden, wobei durch den Wurf einer Münze entscheidet, ob der Betrag am Ende vervielfacht oder schlicht verloren ist.

Der Einfluss der Eltern gibt den entscheidenden Ausschlag

Die verschiedenen Spiele und schriftlichen Befragungen ergaben am Ende ein klares Bild: Die als Resultat der Ein-Kind-Politik geborenen kleinen Kaiser vertrauten anderen Menschen signifikant weniger, und erwiesen sich zudem auch als weniger vertrauenswürdig und wettbewerbsfähig, sie sind pessimistischer, rücksichtsloser und deutlich risikoscheuer als die früher Geborenen.

Die Wissenschaftler berücksichtigten andere mögliche Faktoren wie Alter oder die fortschreitende wirtschaftliche Öffnung Chinas und die damit einhergehende Vertrautheit mit kapitalistischen Spielregeln. Doch selbst ein Herausrechnen dieser Elemente änderte die Ergebnisse nicht. Selbst häufiger Kontakt mit anderen Kindern wie z.B. Cousins und Cousinen während der Kindheit hatte keine signifikante Wirkung - es sieht danach aus, dass der Einfluss der Eltern den entscheidenden Ausschlag gibt.

Die Zwangspolitik hat eine Generation hervor gebracht, die sich in ihrem sozialen Verhalten ganz klar vom Rest der Gesellschaft unterscheidet. Das ist das deutliche Ergebnis der neuen empirischen Studie. Die Forschergruppe um Lisa Cameron legt Wert auf die Feststellung, dass die Resultate nur für Einzelkinder aus Peking und wahrscheinlich aus anderen chinesischen Großstädten gelten, jedoch nicht auf Einzelkinder übertragen werden können, die in anderen Teilen der Welt oder zu anderen Zeiten geboren wurden oder werden. Für China sind die Folgen gravierend. Lisa Cameron stellt fest:

Unsere Daten verdeutlichen, dass Personen, die unter der Ein-Kind-Politik geboren wurden, sich deutlich seltener dafür entscheiden werden, risikoreiche Berufswege wie den in die Selbstständigkeit einzuschlagen. Das könnte für China zur Folge haben, dass sich das unternehmerische Potenzial verringert.