Wie man Gewerkschaften in den Griff bekommt

Ägypten: Mursi setzt die Hebel an

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Die Aufstände des Jahres 2011 in Nordafrika wurden von der Jugend initiiert und zur großen Bewegung gemacht. Nachdem die Autokraten wichen, übernahmen andere die Macht. Islamistische Vereinigungen, die sich auf einen bereits etablierten politischen Apparat stützen, oder wie in Tunesien ihn rasch aufbauen konnten, während die Jüngeren Zeit brauchen, um im politischen Machtgeschäft an den Schalthebeln mitwirken zu können.

"Mittlerweile verschlechtert sich die soziale und ökonomische Situation in Tunesien weiter, die Leute erwarten eine Veränderung, die noch immer nicht stattgefunden hat." Das Zwischenresumé eines jungen Tunesiers dürfte mit großer Wahrscheinlichkeit stellvertretend für viele andere Jungen in den nordafrikanischen Staaten stehen, zwei Jahre nach Beginn der Aufstände, die zum Machtwechsel in Tunesien, Ägypten und Libyen geführt haben. Für sie haben sich viele Hoffnungen nicht erfüllt.

Dagegen bot der Sturz der Staatsspitzen den Islamisten eine historische Gelegenheit zur Machtübernahme. Der Ennahda in Tunesien und den Muslimbrüdern in Ägypten. Doch nicht nur dort. Auch in Libyen sind die Muslimbrüder im starken Aufwind. Bei der Wahl des Premierministers fungierten sie als Königsmacher und die Organisation wächst zu einer bedeutenden politischen Kraft heran, berichtet der Economist.

Die Führung der Partei, die sich im März letzten Jahres gründete, unter dem Namen "Gerechtigkeit und Aufbau" (im Englischen "Justice and Construction"), setzt sich aus Geschäftsleuten und Akademikern zusammen. Betont wird, dass man moderat sei und demokratischen Werten verpflichtet.

Mit ähnlich beschwichtigenden Tönen präsentiert sich auch die ägyptische Muslimbrüderpartei "Freiheit und Gerechtigkeit". Middle East-Experten sind längst dabei zu untersuchen, inwiefern die Einbindung in einen politischen Prozess, der an demokratische und rechtsstaatliche Vorgaben gebunden ist, auf die Islamisten zurückwirkt. Manche sind der Auffassung, dass die Regierungsverantwortlichkeit zu einer Rücknahme radikaler Forderungen führt und zu mehr Konzessionsbereitschaft - weswegen die Salafisten sich nun als die eigentlichen Vertreter des richtigen Islam darstellen und Anhängerschaft und damit auch politische Hebelwirkung hinzugewinnen können.

Vor diesem Hintergrund ist es interessant, den Muslimbrüdern in Ägypten dabei zuzuschauen, wie sie ihre Macht nun, nachdem sie ihren Verfassungsentwurf durchgesetzt haben, politisch konsolidieren (Das Dorf entert die Stadt). Während sich die Aufmerksamkeit der größeren Öffentlichkeit im Westen weitgehend darauf konzentrierte, wie bedrohlich der Islamismus der Muslimbrüder ist, wie sie es etwa mit der Scharia halten und mit den Menschenrechten und wie sehr sie dabei von der radikaleren Seite, von den Salafisten beeinflusst werden, lenkt der amerikanische Historiker Joel Beinin den Blick weniger auf "Symbolpolitik", sondern auf Machtpolitik.

Posten auswechseln

So rückt er eine Präsidenten-Direktive Mursis in den Blick, die in der Erregung über seinen "Ermächtigungs-Coup" im November (Mursi und die Augen der Freiheit) weitgehend übersehen wurde. Das Dekret 97 vom 25. November befasst sich mit der Besetzung von Posten des staatlich finanzierten ägyptischen Gewerkschaftsbundes (im Englischen: Egyptian Federation of Trade Unions, ETUF). Es sieht vor, dass alle Posten, die von über 60-Jährigen gehalten werden, neu besetzt werden und zwar von Kandidaten, die bei den letzten landesweiten Gewerkschaftswahlen im Jahr 2006, dem Posteninhaber unterlegen waren.

Laut Beinins Recherchen war die Wahl 2006, die unter der Präsidentschaft Mubaraks abgehalten wurde, von Korruption geprägt; Mubaraks Regime sorgte dafür, dass Vertreter der Muslimbrüder ausgeschlossen wurden. Entsprechend gab es oft keinen zweiten Kandidaten. Gemäß Mursis Dekret kann der zuständige Minister für Arbeitskräfte und Einwanderung, Khalid al-Azhari, die Stellen nach seiner Wahl besetzen. Khalid al-Azhari ist Mitglied der Partei der Muslimbrüder "Freiheit und Gerechtigkeit". Die Spitzen des Gewerkschaftsbundes wurden vormals von Mubarak eingesetzt, nun hat sie Mursi mit Personen besetzt, die entweder aus den Reihen der Muslimbrüder stammen oder ihr nahestehen. Nur drei Vertreter unabhängiger Gewerkschaften sollen noch im Vorstand der ETUF sein.

Im Jahr der "Revolution", 2011, gab es 1.400 Streiks. Für das vergangene Jahr nennt der amerikanische Historiker 3.150 Aktionen von gewerkschaftlich organisierten Arbeitern. Das sei eine soziale Bewegung, stark genug, um etwa das Abkommen zu blockieren, das zwischen der ägyptischen Regierung, Technokraten und dem IMF geschlossen wurde, um Ägypten einen Kredit von 4,8 Milliarden Dollar zu verschaffen.

Als Folge dieses Abkommens würden höhere Preise erwartet, weniger staatliche Subventionen und eine Kürzung der Zahl von öffentlich Angestellten - mögliche Anlässe für neue Proteste und Streiks. Mursi scheint ein gefühl für die richtigen Schalthebel zu besitzen.