Syrien stirbt

Gedanken zum syrischen "Aufstand der Würde"

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Alles ist schief gelaufen. Wie schief, scheint Nicht-Syrern oft gar nicht bewusst zu sein. Oder aber sie können die Entwicklungen besser bewältigen, weil sie sie nicht so belasten. Syrer indes schütteln immer noch fassungslos den Kopf.

Es begann doch alles so gut, so friedlich, und hätte doch so laufen müssen wie in Ägypten. Tat es aber nicht. Statt wie Hosni Mubarak rasch zu verpuffen, setzte Assad die Armee ein. Zirka drei Monate lang stieß er auf keine Gegenwehr. Dann aber militarisierte sich der Widerstand. Genau das war wohl der größte Fehler der Aufständischen (obwohl dies furchtbar leicht gesagt ist, wenn den eigenen Kindern so etwas nicht widerfahren kann).

Trotzdem: Gewaltfreiheit ist die stärkste Waffe gegen ein Gewaltregime. Die internationale Gemeinschaft hätte kaum zusehen können, wenn Zehntausende beim Schwenken von Ölzweigen umgekommen wären. Das Regime wusste dies.

Bereits im Frühsommer 2011 warnte daher Burhan Ghalioun (der spätere Vorsitzende des unsäglichen Syrischen Nationalrates) vor jenen Kleinlastern, die, mit (billigen) Waffen beladen, unbemannt am Straßenrand stehen gelassen worden waren. Als Einladung zur Selbstbedienung. Wenn der Widerstand militant wird, schrieb er auf Facebook, gibt die Zivilbevölkerung ihren "Aufstand der Würde" aus der Hand und in die Hände der Bewaffneten. Mit der Würde wäre es dann wohl aus.

Die stärkste Waffe ging früh verloren

Seit Monaten sind es nicht einmal nur noch syrische, sondern auch ausländische Bewaffnete. Wie viele, weiß keiner. Angeblich machen sie zirka zehn Prozent aller Bewaffneten aus und sind demnach in der Minderheit. Doch was heißt das schon? Immerhin ist diese Minderheit die kampferprobteste und daher erfolgreichste. Das imponiert. Wie sehr, sieht man allein diesem Jungen an (bei Minute 0:41:06 des Videos auf dieser Seite ). Da steht er nun - vor Stolz versteinert; mit Waffe, Koranbüchlein und einem Stirnband, auf dem in weißer Schrift auf schwarzem Fond steht: "Es gibt keinen Gott außer Gott" - dem Kennzeichen des Terrornetzwerks al-Qaida.

Vermutlich kannte er vor einem Jahr nicht einmal den Unterschied zwischen Salafismus und Sufismus, und möglicherweise kennt er ihn immer noch nicht. Vielleicht hat er vor einem Jahr sogar noch von einer NATO-Intervention à la Libyen geträumt. Inzwischen aber weiß er, wo sein Platz ist: Bei den Männern der Brigade "Ahrar al-Sham", die Osama bin Laden als ihren Scheich preisen und ohne jeden Zweifel wissen, wie man Syrien von seinem Diktator und allen übrigen Ketzern befreit.

Denn natürlich weiß der Junge auch das: Schiiten sind "Hunde" (das Wort fällt mehrfach in dem Video). Die Bezeichnung liegt auch manchem Alawiten auf der Zunge - vice versa. So zischten letzten Sommer, am Flughafen in Damaskus, alawitische Zollbeamte bekopftuchten Damen bei der Ausreise "sunnitische Hündinnen" hinterher.

Divide and Rule

Der Plan des Regimes - nicht nur Krieg, sondern Bürgerkrieg - hat funktioniert. In einer Mosaikgesellschaft wie der syrischen, in der jahrzehntelang zwar kein Hass, aber tiefes gegenseitiges Misstrauen brodelte, war das wohl auch nicht so schwer.

Zumal noch anderes hinzukommt: Noch vor Ausbruch des Aufstandes gestand eine Aktivistin einmal ihre Sorge um Syrien. Durch Sykes-Picot und das spätere Auseinanderklaffen der Einheit mit Ägypten (in der das stolze Kairo stets die Nummer eins war), sowie durch vier quälende Diktatur-Jahrzehnte hätten die Syrer nie zu sich gefunden. Sie könnten ihr Land nicht lieben, weil sie nie herausgefunden hätten, was es darstellen soll.

Totalversagen der Opposition

Die Gegner des Regimes leben dies paradeartig vor. Jeder für sich und alle gegen jeden. Etwa die Muslimbrüder. Sicher, sie haben syrische Geschichte geschrieben und mussten einen hohen Preis bezahlen. Aber das ist 30 Jahre her. Seither leben sie im Exil und kaum ein syrischer Junge, der heute "Verflucht sei dein Geist, Hafez al-Assad" brüllt, weiß, was in Hama 1982 geschah. Die traumatisierte Elterngeneration hat es selten weitererzählt. Und in den Geschichtsbüchern steht es ja wohl kaum.

"Al-Assad au ni7roq al-Balad" ( "Assad oder wir brennen das Land nieder"). Das ist ein Spruch, den Regimeanhänger auf viele Mauern geschrieben haben.

Dennoch sahen die von Katar und der Türkei angefeuerten Muslimbrüder sich selbst als die künftigen Landesherren und alle anderen als ihr Fußvolk. Diejenigen Kurden, Alawiten oder Christen, die dem von den Brüdern dominierten Syrischen Nationalrat beigetreten waren, wollten sich das verständlicherweise nicht gefallen lassen. Man zankte vor aller Welt und vorzugsweise in Fünf-Sterne-Hotels zwischen Doha und Istanbul. Die jungen Syrer starben derweil in Idlib, Daraa, Douma, Harasta oder Homs wie die Fliegen. Ihre Verzweiflung wurde immer größer und der anfängliche Stoßseufzer "Oh Gott, wir haben niemanden außer Dich" zur manischen Beschwörungsformel.

Praktisch kein Oppositionsforum hat heute noch einen Stand bei den Revoltierenden. Und tatsächlich: Wenn der in Paris lebende (respektable) Michel Kilo beklagt, dass das Elysée nie das "Syrische Demokratische Forum" kontaktiert habe, das er mit anderen syrischen Intellektuellen gegründet hat, dann muss sich Kilo die Frage gefallen lassen, weshalb das Elysée dies hätte tun sollen: Kilos elitäre Gruppierung verfügt über weit weniger Mitglieder als der Nationalrat und interessiert die Syrer noch weniger.

Kilo würde hier freilich kontern, dass die Nichtbeachtung mit seiner Ablehnung einer ausländischen Militärintervention zusammenhängt. Nach 22 Monaten wirkt diese Pointe aber doch recht schal. Die Unschlüssigkeit, ja letztlich der Unwille der internationalen Gemeinschaft, Assad wirklich zu stürzen, wurde doch von Monat zu Monat ersichtlicher - bis zu dem Punkt, dass der Politikanalyst Joshua Landis in der ihm eigenen Unverblümtheit konstatiert: Syrien interessiere Washington schlicht nicht. Warum sollte es auch? Das Land hat kein Öl, bildet aber einen strategischen Knotenpunkt, an dem keiner wirklich rütteln will - Assad ist immerhin ein genehmer Freund Russlands und der beste Feind Israels.

Eine militärische Intervention wäre auch tatsächlich fatal für die Syrer. Sie müssen es alleine schaffen. Nur wie? Ohne politische Leitbilder...

Auch kann "alleine" doch nicht heißen, dass man eine junge, miserabel ausgebildete rurale Bevölkerung monatelang ihrem Schicksal überlässt und letztlich den Dschihadisten in die Arme treibt. Besteht die politische Palette denn entweder aus Cruise Missiles oder Abwarten - bis Syrien ein gescheiterter Staat ist?

Baschar al-Assad ist Anfang 2013 noch im Amt. Viele fragen, ob er es auch 2014 noch sein wird. Joshua Landis geht davon aus. Allerdings verweist er darauf, dass Assads Armee endlich ist - der Nachschub an Jihadisten aber wohl nicht.