Die Sockenlücke

In den Zeiten des Kalten Krieges folgte auf die Bomberlücke die Raketenlücke und später die Nachrüstungslücke. Nun ist das internationale Kräfteverhältnis erneut bedroht: Den russischen Streitkräften droht ein massiver Sockenmangel!

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Seit dreihundert Jahren verwenden die Soldaten der ruhmreichen Arbeiter- und Bauernarmee Russlands Fußlappen statt der moderneren Socken. Doch damit soll nun Schluss sein. Alle russischen Soldaten erhalten neue Uniformen und sollen bis zum Jahresende von Fußlappen auf Socken umrüsten. Aber es ist fraglich, ob dieses ambitionierte Ziel den militärisch-industriellen Komplex in Russland nicht überfordert.

Das Problem ist hausgemacht. Im Jahre 2007 verkündete der damalige Präsident und jetzige Regierungschef Dmitri Medwedjew die x-te Militärreform. Aber diesmal sollen nicht nur die Truppenteile umgruppiert und neue Waffensysteme beschafft werden, auch ein umfassendes "Facelifting" steht auf dem Programm: Nach Jahren der Korruption, des Schlendrians und der Schikanen soll das Image der Armee aufgeputscht werden, damit die Armee wieder attraktiv für die jungen Rekruten wird Neue Uniformen müssen her! Während bisher die komplette Dienstkleidung eines Soldaten 275 Euro kostete, werden dafür zukünftig 650 Euro veranschlagt.

Kein geringerer als der russische Modezar Valentin Judaschkin, der normalerweise seine Haute-Couture-Kreationen an die russische Hautevolee-Mafia verscherbelt, wurde beauftragt, flotte Ausgehuniformen für das flotte Erscheinungsbild der neuen Sympathiestreitkräfte zu entwerfen. Über vier Millionen Euro ließ sich das Verteidigungsministerium die Kreativität des tapferen Schneiderleins kosten.

Allerdings soll Valentin Judaschkin einen Fehler gemacht haben, der schon die deutsche Wehrmacht um den Sieg gebracht hatte: Die Uniformen waren für den kalten russischen Winter zu dünn: 129 Versuchssoldaten der 74. Schützenbrigade mussten wegen Frostbeulen und beginnender Lungenentzündung im Herbst 2010 ins Lazarett eingeliefert werden; in Orenburg soll mindestens ein Soldat wegen Unterkühlung gestorben sein. Doch der Couturier verwahrte sich gegen jede Kritik, sein Design sei von der Militärbürokratie verfälscht worden: andere Farbe, anderer Stoff, anderes Innenfutter, andere Knöpfe. "Wissen Sie, das ist, als wenn Sie die Jacke einer bekannten Marke haben wollten und man Ihnen eine vom chinesischen Markt geben würde", beschwerte sich der Designer. Nun sollen die schneidigen Ausgeh-Uniformen bis zum Sommer 2013 wintertauglich gemacht werden.

Mangelhafte Plagiatuniform

Außerdem beauftragte das Verteidigungsministerium das Unternehmen BTK Group damit, neue Kampfanzüge zu schneidern. Herausgekommen ist eine Kampfuniform (Fotos), die sich ausgerechnet an der "Army Combat Uniform" (ACU) der US-Streitkräfte orientiert. Ein Firmensprecher erklärte dazu: "Bei der Arbeit an der neuen Uniform wurden Modelle aus unterschiedlichen Ländern berücksichtigt. Besonderes Augenmerk wurde aber tatsächlich auf die US-Uniform gelegt, weil die US-Armee derzeit die einzige ist, die Kriegshandlungen unter verschiedenen Klimabedingungen führt. Eine Blindkopie kam jedoch nicht in Frage."

Allerdings hagelte es auch diesmal Kritik an den neuen Kreationen: Anatoli Matwijtschuk, ein ehemaliger Offizier der Versorgungstruppe, bemängelte das Plagiat:

Auf der russischen Jacke sind die Taschen selbst für den Pass oder ein Mobiltelefon zu klein. Auch auf der Hose sind die Oberschenkeltaschen zu klein. Wahrscheinlich wollte man dadurch Stoff sparen. (...) Bei den Amerikanern sind die Schultertaschen mit Klettbändern ausgestattet, an denen Chevrons befestigt werden. Auch über den Brusttaschen gibt es Klettbänder für Namensschilder, Rangabzeichen usw. Die russische Uniform hat das alles nicht, genauso wie Infrarotzeichen auf den Schultertaschen für Nachtsichtgeräte, Kugelschreibertaschen an den Ärmeln usw.

Während so die Auseinandersetzungen um das neue Erscheinungsbild für den alten Kommiss andauern, bereitet ein Aspekt der Uniformreform besonderes Kopfzerbrechen: die Sockenfrage!

Fußbekleidungsreform

Seit Jahrhunderten tragen die russischen Soldaten zu ihren Kampfanzügen keine modernen Socken, sondern alte Fußlappen. In Fußlappen schlugen die Russen Kaiser Napoleon in der Schlacht von Borodino und in Fußlappen marschierten die Soldaten der Arbeiter- und Bauernarmee bis nach Berlin.

Aber am 14. Januar 2013 verkündete der neue Verteidigungsminister Sergej Schoigu, die klassischen Fußlappen seinen nicht mehr zeitgemäß. Bis zum Ende diesen Jahres sollen die gesamten Streitkräfte auf dem Gebiet der Fußbekleidung nachrüsten. "Bis Ende 2013 müssen wir das Wort 'Fußlappen' vergessen", erklärte der Minister.

Sein Ziel ist die Umrüstung auf moderne Socken. Dabei handelt es sich - nach Angaben von Wikipedia - um "ein Kleidungsstück für den Fuß: ein textiler, zum Bein hin offener, am Zehenende geschlossener Schlauch, dem Winkel zwischen Fuß und Unterschenkel entsprechend vorgeformt". Socken sind keineswegs eine neue Errungenschaft der Militärtechnik. In Italien sollen sie bereits gegen Ende des 16. Jahrhunderts eingeführt worden sein.

Während die russische Zivilgesellschaft längst Socken ganz selbstverständlich zu ihrer Bekleidung zählt, konnte sich die russische Generalität bis zuletzt nicht zu einer Einführung dieser westlichen Mode entschließen. Sie setzte lieber auf die bekannten Fußlappen. Dabei handelt es sich um ein ca. 40 x 40 cm langes Stück Stoff aus Baumwolle, Flanell oder Molton, das wie ein Verbandstuch um den Fuß gewickelt wird, bevor man in seinen Filzstiefel oder Knobelbecher hineinschlüpft. Die nahtfreien Fußlappen sind billiger als Socken und sollen mehrere Vorteile innehaben:

  • Sie sind im rauhen Klima besser geeignet als Socken,
  • sie trocknen schneller,
  • sie gleichen besser einen zu großen Schuh aus, der dann trotzdem fest anliegt,
  • sie sind insbesondere bei langen Märschen von Vorteil

Allerdings kommen diese vermeintlichen Vorteile nur dann zum Tragen, wenn der Soldat beim Anlegen der Fußlappen größte Sorgfalt walten lässt, damit keine Falten entstehen, die Druckstellen und Blasen verursachen könnten.

Auch andere Armeen verwendeten - zumindest früher - Fußlappen statt Socken. So z. B. die deutsche Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg. Da die faschistische NS-Führung für die Eroberung der Weltherrschaft und sechs Jahre Krieg nur zwei Paar Socken vorgesehen hatte, mussten sich die Soldaten im Felde selbst behelfen und mit Fußlappen improvisieren. Während die Bundeswehr nie Fußlappen einführte, gehörten diese bei der Nationalen Volksarmee der DDR noch bis 1968 zur offiziellen Ausrüstung. Allerdings stiegen die NVA-Soldaten schon bald auf ihre privaten Strümpfe um und nutzten die Fußlappen nur noch zum Schuhputzen. In den letzten Jahren haben schließlich auch die weißrussische und die ukrainische Armee die Lappen abgeschafft.

Dennoch gibt es gegen die Einführung von Socken bei den russischen Streitkräften erhebliche Bedenken. Diese richten sich nicht prinzipiell gegen dieses moderne Bekleidungsstück, sondern gegen die praktischen Umsetzungsmöglichkeiten des geplanten Vorhabens. So erklärte Alexander Salichow, Chefredakteur der russischen Soldatenzeitung "Kadetskoje Bratswo" (dt. Kadettenbrüderlichkeit):

Das System für die rückwärtige Sicherstellung der Truppen wird nicht in der Lage sein, die Armeeangehörigen mit Strümpfen zu versorgen. Insbesondere jene Soldaten, die ihre Aufgaben fern von den ständigen Stationierungsorten erfüllen.

Zur Zeit verfügen die russischen Streitkräfte über rund 800.000 Mann, so dass von einem Mindestbedarf von 1,6 Millionen, besser noch 3,2 Millionen Socken auszugehen ist. Sollten die russische Textil- und Rüstungsindustrie versagen und den erhöhten Bedarf nicht decken können, drohen den russischen Soldaten in ihren amerikanisierten Uniformen kalte Füße nach dem Kalten Krieg.

Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit.