Kollateralschaden

Die Welt, wie wir sie heute kennen, ist ein Auslaufmodell, meint Daniel Domscheit-Berg. Der ehemalige Sprecher von WikiLeaks über die Ethik des Geheimnisverrats, die Abgründe des Julian Assange und die Gefahren des Dilettantismus.

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Daniel Domscheit-Berg wurde 1978 geboren. Er studierte von 2002 bis 2006 Angewandte Informatik an der Berufsakademie Mannheim und arbeitete anschließend als Diplom-Informatiker mit Schwerpunkt IT-Sicherheit. Nach einem Treffen mit Julian Assange 2007 engagierte er sich für die Whistleblower-Plattform WikiLeaks, die mit Enthüllungen zu politischen und wirtschaftlichen Vorgängen weltweit Aufmerksamkeit erregte. Unter dem Pseudonym Daniel Schmitt vertrat er die Organisation in der Öffentlichkeit und galt als einziges offizielles Mitglied neben Assange. Nach einem Streit und dem darauffolgenden Austritt arbeitet er heute an seinem eigenen Projekt OpenLeaks, das auf der weiterentwickelten Ursprungs­idee - der Unterstützung von Whistleblowern - basiert.

Herr Domscheit-Berg, Sie erklären den Geheimnisverrat zum demokratischen Akt. Aber wäre die völlige Transparenz nicht das Ende jeder rationalen Politik? Gibt es nicht Vorgänge, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit geklärt werden müssen? Friedensverhandlungen oder Terrorabwehr beispielsweise bedürfen doch einer Kommunikation im geschützten Raum.

Daniel Domscheit-Berg: Das möchte ich auch nicht bestreiten. Aber wenn der Großteil eines Prozesses transparent abläuft, die Zuständigkeiten und die Interessen, die verfolgt werden, klar sind, dann ist es auch vollkommen akzeptabel, wenn einzelne Dinge geheim gehalten werden. Dann nämlich wissen Bürger, dass sie dem Staat und den Entscheidungsträgern vertrauen können, weil die zugrunde liegenden Strukturen offen liegen. Generell gilt jedoch, dass heute viel zu viel für "geheim" erklärt wird und damit auch demokratische Prozesse häufig intransparent bleiben.

Und so lange das Ziel noch nicht erreicht ist, gibt es Organisationen wie WikiLeaks, die auf Missstände hinweisen und Starthilfe leisten für eine transparentere Welt. Aber führt die ständige Angst vor der Enthüllung nicht viel eher zu noch drastischeren Verhüllungen durch die politischen Entscheidungsträger?

Daniel Domscheit-Berg: Ich glaube nicht, dass die Aktivitäten von WikiLeaks oder ähnlichen Plattformen dazu führen, dass mittelfristig mehr geheim gehalten wird. Institutionen werden sich dem Erwartungsdruck der Bürger beugen müssen - und auch den technischen Möglichkeiten. In einer Welt der digitalen Informationsverarbeitung und der Vernetzung von informationsverarbeitenden Systemen kann überhaupt nicht mehr alles geheim gehalten werden. Diese Tendenz ist im Übrigen auch schon erkennbar, es wird zunehmend mehr offengelegt, zum Beispiel an Verträgen.

Eine Tatsache, die WikiLeaks beeindruckend demonstriert hat. Die Plattform hat durch die Veröffentlichungen von Afghanistan- und Irak-Kriegstagebüchern und der Depeschen der US-Botschaften vor allem in den Jahren 2009 und 2010 für große Schlagzeilen gesorgt. Gemeinsam mit Julian Assange waren Sie einer der führenden Köpfe bei WikiLeaks und gaben plötzlich den großen Weltmächten allen Grund zur Sorge. Wie war die Stimmung damals im Team angesichts der immensen Popularität, die Sie plötzlich genossen?

Daniel Domscheit-Berg: Die Stimmung war absolut geprägt von Enthusiasmus und Idealismus. Wir waren noch sehr stark von dem Glauben beseelt, die Welt verändern oder zumindest positiv beeinflussen zu können. Wir waren Aktivisten, ein kleiner Kreis höchstmotivierter Freunde, die für das Gute kämpften. Und natürlich haben wir uns nach jeder Veröffentlichung gefreut, es wieder irgendjemandem gezeigt zu haben. Aber spätestens 2010, vor der Veröffentlichung der Afghanistan- und Irak-Kriegstagebücher, gerieten wir an eine Grenze und mir wurde bewusst, dass wir gerade dabei waren, unsere Macht zu missbrauchen.

Was löste diese Erkenntnis aus?

Daniel Domscheit-Berg: Da spielte vieles zusammen. Am Anfang war da diese Lust an der Provokation, wenn wir beispielsweise den Briefverkehr mit Anwälten veröffentlichten, die uns eigentlich dazu bringen wollten, Inhalte wieder aus dem Netz zu nehmen. Provokation ist wahrscheinlich eines der effizientesten Mittel, Leute vorzuführen - und kann sehr schnell missbraucht werden. Wir waren uns lange nicht bewusst, welche Konsequenzen unser Handeln haben könnte. Durch die Veröffentlichung der Mitgliederliste der rechtsgerichteten British National Party hätte zum Beispiel einiges schief gehen können. Was wäre gewesen, wenn nun das Kind eines der Mitglieder auf dem Weg zur Schule zusammengeschlagen oder ein Haus in Brand gesteckt worden wäre?

Wir hatten schon eine sehr naive Herangehensweise. Mit den Afghanistan-Dokumenten kam dann das Bewusstsein dafür, wie schnell etwas aus dem Ruder laufen und wie hoch die Gefahr ist, auf einmal selbst Schaden anzurichten, wo wir doch eigentlich nur etwas Gutes tun wollten. Plötzlich stieg auch der Druck ins Unermessliche. Wir waren gezwungen, Verantwortung zu übernehmen. Und haben auf weiten Strecken versagt.

Dieses Interview ist ein Vorabdruck aus dem Buch von Bernhard Pörksen und Wolfgang Krischke (Hrsg.): Die gehetzte Politik. Die neue Macht der Medien und Märkte. Es erscheint im Februar 2013 im Herbert von Halem Verlag (Köln) und kostet 19,80 Euro.

Gemeinsam mit Prof. Bernhard Pörksen (Medienwissenschaft, Universität Tübingen) und Dr. Wolfgang Krischke (Journalist, Sprachwissenschaftler) haben Tübinger Studierende das Gesprächsbuch "Die gehetzte Politik. Die neue Macht der Medien und Märkte" verfasst. Sie haben prominente Politiker interviewt, einflussreiche Journalisten und desillusionierte Skandalopfer befragt, mit PR-Beratern, Netzaktivisten und Kulturkritikern gesprochen. Zu Wort kommen: Finanzminister Wolfgang Schäuble, der Bestsellerautor Thilo Sarrazin, der Europa-Abgeordnete Daniel Cohn-Bendit, der Empört-Euch-Aktivist Stéphane Hessel, die Merkel-Kritikerin Gertrud Höhler, die Linke Sahra Wagenknecht, der Alt-Kommunarde Rainer Langhans, die Piraten-Politikerin Marina Weisband, der Philosoph Richard David Precht, der Ministerpräsident Winfried Kretschmann, die Fernsehjournalisten Marietta Slomka und Ulrich Deppendorf, der Unternehmer Carsten Maschmeyer und viele mehr.

Bei den Afghanistan-Dokumenten handelt es sich um über 90.000 geheime US-Militärdokumente zum Krieg in diesem Land. Dabei hatten Sie sich für diese Publikation die Unterstützung von drei der wichtigsten Zeitungen der Welt geholt. Sie arbeiteten mit Journalisten der New York Times, des britischen Guardian und des deutschen Nachrichtenmagazins Der Spiegel zusammen.

Daniel Domscheit-Berg: Wir mussten uns bis zu dem Zeitpunkt bereits häufiger mit der schwierigen Frage beschäftigen, wem gegenüber wir eigentlich verantwortlich sind. Besteht unsere Hauptverantwortung darin, die Öffentlichkeit rückhaltlos zu informieren? Oder liegt unsere Verantwortung vor allem im Schutz unserer Informanten, der gegebenenfalls durch Geheimhaltung bestimmter Informationen gewährleistet werden muss? Bis dahin fanden wir es immer wichtiger zu veröffentlichen. Aber bei der Brisanz dieser Papiere fühlten wir uns sicherer mit professioneller Unterstützung. Natürlich wollten wir durch die Medien auch mehr Publikum erreichen und wussten, dass diese Medien auf viele Ressourcen zugreifen können, wenn es darum geht, diese Dokumente auszuwerten und in einem verständlichen Kontext für die Öffentlichkeit aufzubereiten

Aber die Zusammenarbeit verlief nicht problemlos.

Daniel Domscheit-Berg: Genau. Bei der Veröffentlichung der Afghanistan-Dokumente war die einzige Bedingung von Seiten der Presse, dass wir die Dokumente redigieren sollten, bevor sie veröffentlicht wurden, um dort genannte Informanten nicht zu gefährden. Julian Assange hatte dem damals in London zugestimmt - allerdings ohne mich oder einen anderen aus dem WikiLeaks-Projekt darüber zu informieren. Wir haben davon dann durch Zufall fünf Tage vor der Publikation erfahren. Da war aber noch kein einziges der Dokumente redigiert, es gab auch kein Konzept bezüglich der Umsetzung. Dafür war Julian tagelang abgetaucht, unterwegs mit einem australischen Dokumentarfilmer, wie wir später erfuhren. Und wir standen da, wohlwissend, dass wir die Veröffentlichung auf keinen Fall mehr stoppen können. Innerhalb von fünf Tagen 90.000 Dokumente zu redigieren, war aber genauso unmöglich.

Mit einem Schlag kamen so die Schwächen von WikiLeaks ans Licht. Es fehlte an einer internen Struktur, an einer gerechten Verteilung von Verantwortung, an organisatorischer Transparenz und entsprechenden Kontrollmechanismen. Unsere Kommunikation war nicht effektiv. So demonstrierten wir nur, wie schnell durch einen individuellen Fehler eine Situation eskalieren kann.

WikiLeaks wurde zur Gefahr.

Daniel Domscheit-Berg: Indem Julian sich zum Alleinentscheider gemacht hat, ja. Die inneren Strukturen von WikiLeaks waren zu undurchsichtig, es gab keinen Notfallplan für solche Szenarien. Im Endeffekt war das Projekt genauso intransparent wie all die Systeme, die wir versucht hatten, zu mehr Transparenz zu zwingen. Eine Organisation wie WikiLeaks muss demokratisch, also dezentral, organisiert sein und muss den eigenen Ansprüchen an Transparenz auch selbst genügen

WikiLeaks wurde zur One-Man-Show

Julian Assange und Sie arbeiteten bei WikiLeaks mit vielen Pseudonymen, um die Organisation größer erscheinen zu lassen und die internen Strukturen zu vertuschen. Irgendwann wussten Sie selbst nicht mehr, wer hinter all den Namen steckte. Wie viele Menschen waren tatsächlich bei internen Entscheidungen beteiligt?

Daniel Domscheit-Berg: Zu unseren besten Zeiten vielleicht drei bis fünf Leute. Wobei es auch schwer ist, tatsächlich von Entscheidungsfindung zu sprechen. Wir waren uns meist ohne lange Diskussion einig. Zumindest in der Zeit, als der Druck noch nicht allzu groß war, funktionierte das prächtig. Später wurde Julian immer egozentrischer, traf Entscheidungen, ohne mit jemandem von uns darüber zu sprechen. Aus dem Team war eine One-Man-Show geworden.

Julian Assange sagte einst, WikiLeaks könne der mächtigste Geheimdienst der Welt werden, ein Geheimdienst des Volkes. Das sind nicht gerade demokratische Visionen.

Daniel Domscheit-Berg: Das ist ja auch der Grund, warum ein paar andere aus dem Team und ich uns letztendlich von WikiLeaks getrennt haben. Julian geht es vor allem um von ihm erzielte Erfolge. Sein größtes Problem ist aus meiner Sicht, dass er die Konsequenzen seines Handelns nicht einschätzen kann. Julian ist einerseits sehr klug, ein hochintelligenter Mensch, ein extrem scharfer und präziser Denker, der Dinge beeindruckend genau analysieren kann. Andererseits ist da diese Unfähigkeit, aus Fehlern zu lernen, verbunden mit der Überzeugung, einfach nie selbst Fehler zu machen - Fehler machen immer nur die anderen. Oder aber er bemüht eine seiner beliebten Verschwörungstheorien, wenn etwas schiefläuft. Und das macht den Umgang mit ihm so schwierig.

Julian Assange hat durch seine Egozentrik also selbst dafür gesorgt, dass sein Projekt gestorben ist?

Daniel Domscheit-Berg: Die Frage ist: Was ist WikiLeaks heute? Meine Idee von WikiLeaks ist schon lange tot. Aber für Julian scheint sein Projekt noch zu funktionieren. Er verfolgt zwischenzeitlich nur ein komplett anderes Ziel, es geht vor allem um taktische Schachzüge. WikiLeaks ist hauptsächlich noch eine Kampagnenplattform, die gegen verschiedenste Formen der Geheimhaltung wettert, alle möglichen Gerichtsprozesse anstrengt und auf allen verfügbaren Plattformen massiv um Spenden wirbt. Sie widmet sich aber nicht mehr der Grundidee und dem Schutz des Whistleblowings.

Sie meinen, Assange macht sich seine Regeln selbst?

Daniel Domscheit-Berg: Ja, und er findet auch immer eine Erklärung, warum die Schuld für Probleme bei jemand anderem liegt. Zur Not wird diese Person dann abgesägt. So war es ja auch bei mir. Plötzlich warf er mir vor, ich würde für die CIA oder andere Geheimdienste arbeiten, sei nur darauf aus, ihn vom Thron zu stürzen und selbst Kopf von WikiLeaks zu werden. Alles Lügen. Für mich war Julian ein Freund, ich habe noch nie so viel Zeit und Kraft in eine Idee investiert wie in WikiLeaks und die Freundschaft zu Julian. Aber ich bin davon überzeugt, würde man ihn heute nach dieser Freundschaft fragen, würde er sagen, dass sei alles meine Illusion und er hätte eigentlich nie wirklich was mit mir zu tun gehabt - im Nachhinein biegt er sich alles immer genau so zurecht, dass es ihn im besten Licht erscheinen lässt.

Auf dem Höhepunkt ihres Streits hat Julian Assange Ihnen im Chat mit dem Tode gedroht. Wie fühlt es sich an, vom besten Freund derart behandelt zu werden?

Daniel Domscheit-Berg: Ich habe gelacht. Diese Situation war so surreal, dass ich es gar nicht glauben konnte. Aber nach ein paar Minuten kam dann natürlich die Verletzung. Dann sitzt man da und steht vor den Trümmern der vergangenen Jahre.

Wie ernst schätzten Sie die Drohung ein - fürchteten Sie um ihr Leben?

Daniel Domscheit-Berg: Da ich bis heute nicht beurteilen kann, inwiefern sein Verhalten pathologisch ist, fällt mir eine Einschätzung dieses Vorfalls schwer. Ich glaube, es war weder eine ernst gemeinte Drohung noch eine Aussage im Affekt. Julian sammelt bewusst kompromittierendes Material - ‚Kompromat‘ hieß das einst beim KGB -, Informationen, die er gegen jemanden verwenden kann, und er achtet darauf, den größtmöglichen Einfluss zu behalten. Ich denke, bei mir ging er davon aus, dass er mir durch ein scharfes Regiment, durch die direkte Bedrohung meines Lebens genügend Angst einjagen kann, damit ich mich nicht weiter gegen ihn stelle.

Das klingt nach totaler Manipulation.

Daniel Domscheit-Berg: Manchmal hatten wir tatsächlich Angst, dass um Julian so ein Kult entsteht, eine Art Sekte. Weil es ihm durch seine extrem intelligente und charismatische Art dauernd gelingt, Menschen um sich zu versammeln, die zwar alle an das Gute glauben und dafür kämpfen wollen, letztendlich aber nichts hinterfragen. Und in dem Moment, in dem sie verstehen, in wessen Fänge sie gelangt sind, kommen sie nicht mehr raus aus der Situation.

"Irgendwann war das Maß einfach voll"

Nachdem Sie sich von Julian Assange und WikiLeaks getrennt hatten, kam es bei WikiLeaks selbst zu einem Leck. Große Teile der Depeschen aus den US-Botschaften waren frei und unredigiert im Netz zugänglich. Und das brachte Informanten, zum Beispiel im Irak oder in Afghanistan, deren Namen jetzt öffentlich waren, in Lebensgefahr. Zwar waren die Daten durch ein Passwort geschützt. Aber Sie informierten Journalisten des Freitag darüber, dass dieses Passwort veröffentlicht und für Kenner der Materie leicht zu finden sei. Ein Akt der Rache an Assange?

Daniel Domscheit-Berg: Das war keine Racheaktion, ganz im Gegenteil. Wir haben monatelang versucht, Julian davon zu überzeugen, die Öffentlichkeit über das Leck zu informieren - um die Menschen zu schützen, denen eine Enthüllung der Daten hätte gefährlich werden können. Das Problem war, dass eben dieses Datenpaket, ursprünglich als Sicherheitskopie gedacht und durch eine Verschlüsselung geschützt, plötzlich auf einem öffentlich zugänglichen Server im Netz auftauchte. Gleichzeitig veröffentlichte ein Journalist des Guardian in seinem Buch über WikiLeaks den dazugehörigen Schlüssel - Julian hatte in seinem Leichtsinn keine personalisierten Schlüssel angefertigt, wie es eigentlich der Fall hätte sein müssen, sondern gab sozusagen den Generalschlüssel weiter. Und somit schwirrten die für den Zugang zu den Daten benötigten Schlüssel frei in der Welt herum. Und es war ohnehin nur eine Frage der Zeit, bis kluge Köpfe den Zusammenhang von Schlüssel und Dokumenten herausgefunden hätten.

Das mag sein. Aber letztendlich haben Sie durch Ihr Interview mit dem Freitag eine Spur gelegt und dafür gesorgt, dass die entsprechenden Puzzleteile zusammengesetzt wurden.

Daniel Domscheit-Berg: Aber nicht ich habe die Puzzleteile zusammengesetzt. Es stimmt, ich habe dem Freitag ein Interview mit der Information gegeben, dass der Schlüssel im Internet veröffentlicht ist. Ich hatte lange versucht, Julian zur Vernunft zu bringen, wurde gleichzeitig in einer öffentlichen Debatte aber immer als Lügner dargestellt und der Sabotage beschuldigt, weil ich ein weiteres Datenpaket nicht über jenen Vermittler an WikiLeaks zurückgeben wollte, der für das Datenleck verantwortlich war. Ich wollte durch das Interview einfach einmal unabhängig klarstellen, dass ich mir meine Bedenken nicht ausdenke.

Das Motiv war also die Rettung der eigenen Reputation.

Daniel Domscheit-Berg: Irgendwann war das Maß einfach voll. Vielleicht ging es tatsächlich auch um Selbstschutz. Durchweg als Lügner bezeichnet zu werden, macht wütend. Sicherlich bin ich kein Gewinner in der Sache. Ein Verräter aber auch nicht. Letztendlich hat Julian sich selbst verraten, indem er, nachdem das Interview publiziert wurde, über den Twitter-Account viele Andeutungen gemacht hat, die Leuten, die sich etwas auskannten, Hinweise auf das Passwort gaben. Er hat die Puzzleteile selbst öffentlichkeitswirksam zusammengefügt.

Warum hätte er das tun sollen?

Daniel Domscheit-Berg: Weil er den Ehrgeiz hat, alles für seinen eigenen Lebenslauf zu verbuchen. Wenn schon jemand das Geheimnis um die Dokumente verrät, dann hat er es zu sein, der diese Rolle übernimmt. Das ist eine seltsame Form des Ehrgeizes, spiegelt aber seine skurrile Wahrnehmung der Welt wider. Als aufgebrachte Menschenmengen vor US-Botschaften gegen ein anti-islamische Video demonstrierten, sah Julian darin eine Reaktion darauf, dass die britische Regierung damit gedroht hatte, die ecuadorianische Botschaft zu stürmen, in die er aus Angst vor einer Auslieferung nach Schweden geflüchtet war. Erklären Sie mir mal bitte diesen Zusammenhang - ich sehe ihn nicht. Besonders unverhältnismäßig und absurd auch, dass er sich nun, in dieser Botschaft festsitzend, mit Bradley Manning gleichsetzte, einem der Leidtragenden der WikiLeaks-Veröffentlichungen.

"Im Fall Bradley Manning haben wir stark versagt"

Bradley Manning wurde im Mai 2010 unter dem Verdacht des Geheimnisverrats festgenommen. In dem Datenpaket, welches er laut Anklage WikiLeaks hatte zukommen lassen, waren nicht nur die Afghanistan-Dokumente und Depeschen aus US-Botschaften enthalten. Auch die Videoaufnahmen, die WikiLeaks später unter dem Titel "Collateral Murder" veröffentlichen sollte, stammen aus dieser Quelle. Sie zeigen den Beschuss und Tod von irakischen Zivilisten und Journalisten der Nachrichtenagentur Reuters durch einen amerikanischen Kampfhubschrauber im Juli 2007. Während WikiLeaks seinen größten Erfolg feiern konnte, muss dieser Mann den Rest seines Leben vermutlich im Gefängnis verbringen. Einzelne Politiker haben sogar die Todesstrafe gefordert.

Daniel Domscheit-Berg: Das ist, ohne Frage, das dramatischste Kapitel dieser Geschichte.

Haben Sie Mitleid?

Daniel Domscheit-Berg: Natürlich. Ich glaube, in diesem Fall haben wir stark versagt. Die wichtigste Lektion, die wir daraus ziehen müssen, ist wohl, dass man sich immer wieder die menschliche Schwäche als Fehlerquelle bewusst machen muss. Menschen treffen irrationale, emotional gesteuerte Entscheidungen, wir haben es nicht mit Maschinen zu tun, die man rational programmieren kann. Das verkannt zu haben, rechne ich uns als großen Fehler an.

Sie spielen darauf an, dass sich Bradley Manning wahrscheinlich letztendlich selbst verraten hat. Er nahm - nach allem, was man weiß - Kontakt mit dem prominenten, aber ihm persönlich völlig fremden Hacker Adrian Lamo auf und erzählte ihm im Chat ausführlich von seiner Zusammenarbeit mit WikiLeaks - und wurde von diesem dann an die US-Regierung verraten.

Daniel Domscheit-Berg: Und das bereitet mir ein schlechtes Gewissen. Wir haben keinen direkten Fehler gemacht, der unmittelbar zu Mannings schicksalhafter Verhaftung geführt hat. Aber wir haben ihn die Daten einfach so weitergeben lassen, ohne ihm ausreichend Ratschläge mitzugeben, ihm zu erklären, auf was er sich da einlässt und wie er damit umgehen kann. Schuldfrei sind wir also keinesfalls.

Das Problem ist: Wenn ein Mensch etwas getan hat, was - in diesem Fall sogar weltpolitische - Bedeutung besitzt, dann hat er natürlich das Bedürfnis, darüber zu reden, sich mitzuteilen. Gerade bei einer so breit geführten Diskussion, wie sie durch diese Daten entfacht wurde - es wurde das Ende des Journalismus, das Ende der Welt, wie wir sie kannten, ausgerufen - steigt das Bedürfnis nach Anerkennung. Da schweigen zu müssen, treibt einen in den Wahnsinn. Wir hätten vielleicht einen Feedback-Kanal einrichten sollen. Damit eine Quelle, ein Bradley Manning jemanden hat, an den er sich mal wenden kann, wenn er eben einen Menschen zum Reden braucht.

Aber Manning hätte doch die Möglichkeit gehabt, WikiLeaks per Chat direkt zu kontaktieren, um sich dort die gewünschte Anerkennung zu holen?

Daniel Domscheit-Berg: Ja, im Chat wäre das möglich gewesen.

Wenn man liest, wie Bradley Manning über den weißhaarigen "Aussie" - gemeint ist der Australier Julian Assange - mit Adrian Lamo chattet, gewinnt man den Eindruck einer gewissen Vertrautheit, einer fast persönlichen Nähe. Daher liegt der Gedanke nahe, dass es auch direkten Kontakt zwischen ihm und Assange gegeben haben könnte.

Daniel Domscheit-Berg: Dazu kann ich nichts sagen.

Wer wie Sie oder Assange für eine Enthüllungsplattform arbeitet, hat viel mit Journalisten gemeinsam: Beide wollen aus ihren Quellen so viele Informationen wie möglich herausholen. Von Assange weiß man allerdings, dass er von der Zusammenarbeit mit Journalisten enttäuscht war. Die Veröffentlichungen waren ihm zu oberflächlich, zu populistisch. Stehen Sie dem Journalismus positiver gegenüber?

Daniel Domscheit-Berg: Auch ich war sehr enttäuscht davon, wie wenig aus unseren Geschichten gemacht wurde. Im Endeffekt ist viel Wichtiges einfach so verpufft. Ich dachte am Anfang, man will erst langsam an die Thematik heranführen, durch boulevardesk anmutende Enthüllungen wie die Beurteilung unserer Politiker durch den US-Botschafter Philip Murphy. Aber dass das Bekanntgeben interner Namensgebungen wie "Teflon-Merkel" oder die Beschreibung Westerwelles als Politiker mit "überschäumender Persönlichkeit" bereits der Höhepunkt der Berichterstattung war, ist traurig. Dabei glaube ich, in einem solchen Jahr, in dem der Begriff "Wutbürger" zum Wort des Jahres, in dem überall auf den Straßen dem Zorn gegen das System Luft gemacht wurde, hätte es viel Spannenderes gegeben, mit dem man hätte aufmachen können. Zum Beispiel mit der Bespitzelung der UNO durch US-Diplomaten - ein Thema mit Schlagkraft.

Bei dem "Collateral Murder"-Video haben Sie und WikiLeaks aktiv in die Meinungsbildung eingegriffen. Nicht nur, dass Sie eine geschnittene Version des Videos online stellten, auch der von Ihnen stammende Titel des Videos war wertend. Gerade die US-amerikanischen Medien haben diese Arbeitsweise von WikiLeaks skandalisiert, anstatt die brisanten Enthüllungen zu Bespitzelungen und Kriegsverbrechen zu diskutieren.

Daniel Domscheit-Berg: Das Problem war, dass wir diese Angriffsfläche geboten haben. Wenn die Verpackung nicht stimmt, dann reden alle über diesen Mangel und niemand über tatsächliche Inhalte. Deswegen halte ich auch die Bearbeitung des Materials durch journalistische Experten mittlerweile für so wichtig - nur eben durch Experten, die seit Jahren intensiv im und mit dem Netz arbeiten. Denn in diesem Paradigmenwechsel hin zur Einbeziehung der Online-Kommunikation sehe ich die wahre Chance unserer Zeit.

Die technischen Veränderungen, der Wandel der Kommunikation, die globale Vernetzung, die Wirkungsweise von Plattformen wie WikiLeaks - werfen hier fundamentale gesellschaftliche Umbrüche ihre Schatten voraus?

Daniel Domscheit-Berg: Ich glaube, all diese digitalen Phänomene, die momentan in Echtzeit aufpoppen und die Gesellschaft zum Umdenken anregen, sind ganz kleine Facetten einer ganz großen Entwicklung, die im Moment vonstatten geht. Die Welt, wie wir sie heute kennen, ist ein Auslaufmodell. Ich glaube, dass wir uns zu einer viel horizontaleren Welt entwickeln werden, ohne starke Hierarchien. Das Individuum wird immer wichtiger werden - die vielen Einzelnen, die sich aber plötzlich in einer Weltgemeinschaft wiederfinden und selbstverantwortlich und am Gemeinwohl orientiert arbeiten.

Ist das nicht ein Widerspruch? Größtmögliche Individualität wird schon heute angestrebt - allzu oft führt dieses Streben aber zum Verlust eines Sinns für die Gemeinschaft.

Daniel Domscheit-Berg: Stimmt. Auf der einen Seite versucht im Moment jeder, den größtmöglichen Individualismus auszuleben - wir suchen uns extremere Hobbies, kaufen außergewöhnlichere Kleidung und grenzen uns damit scheinbar von anderen ab. Aber gleichzeitig findet diese globale Vernetzung statt, es schrumpft das Verhältnis von Zeit und Raum. Indem ich durch einen einfachen Mausklick betrachten kann, welchen Überlegungen meine Mitmenschen nachgehen, wie Lebensentwürfe gestrickt werden, wird der kleinste gemeinsame Nenner als Ziel all dieses Handelns sichtbar: der Wunsch, glücklich zu sein. Und auf dieser empathischen Ebene wird wiederum ein Gefühl für Solidarität geschaffen. Aber das sind Dimensionen, die die Politik heute erst im Ansatz versteht.

Ursprünglich verfolgte WikiLeaks das Ziel, durch das Enthüllen geheimer Dokumente mehr Licht in das politische Dunkel zu bringen. Wenn Sie eine Bilanz ziehen: Wie erfolgreich war die Plattform wirklich?

Daniel Domscheit-Berg: Für mich liegt der größte Erfolg in der Sensibilität, die wir für diese Art des kulturellen Wandels geschaffen haben. Uns ist es gelungen, die neuen Dimensionen zu versinnbildlichen und das Prinzip Whistleblowing in der öffentlichen Wahrnehmung zu verankern. Letztendlich haben wir die Diskussionen über die Relevanz von Transparenz entfacht. Kein einzelnes veröffentlichtes Dokument ist so wichtig wie diese Debatte.

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