Simulation der Zukunft

Aus einer Broschüre von FuturICT.eu

Wissenschaftler wollen auf Supercomputern berechnen, wohin sich die Gesellschaft bewegt und so eine "Ära sozialer und sozio-inspirierter Innovationen" einleiten

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Ende Januar wird sich die EU entscheiden, welches FET Flagship sie unterstützen wird. Gesucht werden wissenschaftliche Großprojekte vom Format der Mondlandung. Einer der aussichtsreichsten Kandidaten auf die immensen Fördergelder ist FuturICT. Das Projekt soll die Weltgesellschaft auf Supercomputern simulieren, die Zukunft managen und eine neue Wissenschaft gründen. Ob der von langer Hand geplante Paradigmenwechsel gelingt, ist aber ungewiss.

Aus einer Broschüre von FuturICT.eu

Während das kontrollierte, wiederholbare Experiment zum Fundament der Naturwissenschaften gehört, seit diese im 17. Jahrhundert entstanden sind, besitzen Gesellschaftswissenschaftler kein vergleichbares Erkenntnisinstrument. In den harten Disziplinen wie der Physik werden Theorien durch Versuche geprüft, verworfen und bestätigt; in Soziologie und Ökonomie bleiben sie dagegen immer auch Spekulationen, da erst die Geschichte zeigt, ob eine These richtig ist. Darum kann man voraussagen, bei welcher Belastung Brücken einstürzen oder Gaskessel explodieren, aber nicht, wann es zu Revolutionen oder Finanzkrisen kommt.

Eine Gruppe von Forschern möchte dies ändern. Das Großprojekt FuturICT hat es in die Endausscheidung für eine der höchsten Forschungsförderungen der Geschichte geschafft; es gilt als heißer Kandidat, wenn die EU Ende Januar entscheidet, welche der sechs FET Flagship-Pilotprojekte mit einer Milliarde Euro gefördert werden. FuturICT ist das wohl größte gesellschaftswissenschaftliche Projekt aller Zeiten; es soll die Soziologie zu einer neuen, der Physik vergleichbaren Wissenschaft machen und die Politik massiv verändern, indem es die globale Gesellschaft auf Supercomputern simuliert. Finanzkrisen, Massenpaniken, Gewaltausbrüche – all das soll künftig vorherzusehen und damit zu verhindern sein, so die Versprechungen der Wissenschaftler.

Die FET-Initiative FET steht für "Futur Emerging Technologies". Die EU will im Rahmen ihres 80-Milliarden-Euro-schweren Zukunftsplanes "Horizon 2020" zwei FET-Flagship-Projekte mit je einer Milliarde Euro auf zehn Jahre verteilt fordern. Gesucht werden daher ambitionierte Forschungsprojekte mit einem visionären Ziel und dem Potenzial, die technologische und ökonomische Innovationskraft zu beflügeln. Sechs Pilotprojekte werden seit Mitte 2011 gefördert, im Januar entscheidet die EU, welche zwei von diesen sie weiter unterstützt. Unter den sechs Pilotprojekten ist auch das Human Brain Projekt.

"FuturICT wird Europa in eine neue Ära führen: Auf die Zeit der physikalischen, biologischen und technischen Innovation wird eine Zeit der sozialen und sozio-inspirierten Innovationen folgen", so die Wissenschaftler in ihrer Bewerbung. Die großen Worte sind wohl einerseits dem Anspruch der EU geschuldet, ein Projekt vom Format der Mondlandung zu fördern, andererseits der eigenen Vision, "die Zukunft zu erforschen und zu managen".

Der erste Schritt: Alle digitalen Fußabdrücke auf Supercomputern speichern

Der Leiter des Projekts ist Dirk Helbing, ein Physiker, der an der ETH Zürich eine Professur für Soziologie innehat. Er hat FuturICT in so vielen Interviews erklärt, auch hier oder hier, dass die Berichte teilweise wirken, als würde er das Projekt alleine stemmen. Tatsächlich beteiligen sich aber 84 Institute aus 25 Ländern; davon rund 40 aus Deutschland.

Das Projekt, das Helbing vorstellt, geht an die Grenzen dessen, was in den kommenden zehn Jahren möglich sein wird. Die Forscher wollen alle Spuren, die die Menschen im digitalen Raum hinterlassen, zusammenführen: Wen sie anrufen, wo sie surfen, wohin sie gehen, was sie posten, kommentieren, bloggen, kaufen – eben den ganzen digitalen Smog, den die Leute Tag für Tag produzieren.

Diesen Teil von FuturICT nennen die Forscher das "Planetary Nervous System" (PNS): Ein Echtzeitmodell der globalen Gesellschaft, das rechtzeitig Alarm schlägt, wenn die Tweets, Einkäufe, Suchanfragen etc. darauf hindeuten, dass sich eine Krise zusammenbraut – sei es eine Immobilienblase, eine Grippewille oder eine Revolte.

Der zweite Schritt: ein Windkanal für die Politik

Aber das ist nur der Anfang. Den verkündeten Paradigmenwechsel versprechen sich die Forscher vom Ausbau des PNS zu einem "Living Earth Simulator" (LES) – zu einer Simulation der Gesellschaft bzw. deren digitaler Fußabdrücke. Simulationen können Experimente ersetzen, wenn die Natur diese nicht zulässt – wie bei Sternen, Wolken oder Menschenmassen. Wer ein System simuliert, der kann berechnen, wie es sich unter verschiedenen Bedingungen verhält. So wollen die Wissenschaftler mit dem LES Zukunftsszenarien durchspielen: Wenn die Brotpreise um einige Prozent sinken – bleibt dann eine Revolution aus? Wenn in Stuttgart die Grundschulen für drei Tage schließen – flaut dann eine Grippewelle ab? Etc.

Simulationen werden sehr oft von Physikern betrieben und sehr selten von Soziologen. Der LES wäre das ultimative Werkzeug der Sozialphysiker. Er würde die Soziologie zu einer neuen Wissenschaft machen, die, verschmolzen mit Informatik und Komplexitätswissenschaft, fast genauso robuste Ergebnisse hervorbringen würde wie die Physik. Soziologen könnten gesellschaftliche Entwicklungen ähnlich zuverlässig vorhersagen, wie Ingenieure das Zusammenspiel der Bauteile einer Maschine. FuturICT soll so ein "Windkanal für die Politik" werden.

Die Soziologie kennt keine ewigen Gesetze

Allerdings ist das vorerst Science-Fiction. Während das PNS mit dem vom Mooreschen Gesetz vorausgesagten Anstieg der Rechenleistung wohl zu realisieren ist, steht der LES vor grundsätzlichen Hindernissen. Anders als ein Modell wie das PNS, das lediglich das abbildet, was zu beobachten ist, schafft eine Simulation wie die LES die Grundlage bisher unmöglicher Beobachtungen, indem sie das Modell in Bewegung versetzt. Als Motor dienen fundamentale Gesetze über das Funktionieren des Objektes. Die Naturwissenschaften verwenden dafür die immer und überall gültigen Naturgesetze. Die Soziologie kennt dagegen keine solchen Gesetze, sie kennt allenfalls Regeln, die unter bestimmten Bedingungen mit bestimmter Wahrscheinlichkeit zutreffen.

Im kleinen Rahmen scheinen Sozialsimulationen dennoch zu funktionieren. Dirk Helbing hat sich einen Namen gemacht, indem er vorausberechnete, wie man Staus verhindert, und er konnte Wege aufzeigen, wie man die Pilgermassen in Mekka besser steuert. Auch Nordrhein-Westfälischen Forschern gelang es, im Hermes-Projekt um 15 Minuten vorauszusagen, wie sich rund 60.000 Menschen im Düsseldorfer Esprit-Stadion bewegen, und IBM beansprucht, mit "Blue Crush", Kriminalität vorherzusagen (Universität Freiburg forscht mit IBM zur Vorhersage von Straftaten).

Verglichen mit den Ambitionen von FuturICT sind dies jedoch überschaubare Szenarien, in denen sich Menschen nach relativ simplen Spielregeln verhalten. Diese Berechnungen auf eine globale Gesellschaft auszuweiten und kausale Wenn-Dann-Spiele nach Wahl zu ermöglichen, bedeutet mehr als es einen quantitativen Sprung: Es erfordert die Aufdeckung fundamentaler Gesetze der Gesellschaft. Und die gibt es wohl nicht.

Großartige oder verheerende Folgen?

Was aber, wenn es dennoch funktioniert? Die Folgen könnten so großartig wie verheerend sein. Einerseits ließe sich die Gesellschaft rationaler und effektiver organisieren, Reibungsverluste fielen weg, der Wohlstand erblühte, Wirtschaftskrisen würden ebenso wie Gewaltausbrüche im Vorfeld verhindert werden …

Andererseits: Was, wenn das gar nicht gewünscht ist? In den Händen der Reichen und Mächtigen könnte FuturICT die globale Ungleichheit weiter befördern und den Sitz von Diktatoren stabilisieren. Mit dem LES ließe sich berechnen, dass man eine Revolution verhindert, indem man die Brotpreise senkt – aber beispielsweise auch, indem man die Militärpräsenz an bestimmen Stellen erhöht. Jedes Instrument ist so gut oder schlecht wie der, der es bedient, und die von FuturICT versprochene Gesellschaft ist nicht per Definition die bessere Gesellschaft.

Auf solche Einwände hat Helbing in diversen Interviews reagiert, auch eine Fragen-und-Antworten Seite auf der Projekthomepage [http://futurict.blogspot.de/2012/03/futurict-participatory-computing-for.html]greift dieser Kritik voraus. FuturICT setze sich gerade von ähnlichen Projekten wie Mircosofts "Modelling the World" dadurch ab, dass es Offenheit, Transparenz und Partizipation zur dritten Säule erhebe: Die "Global Participatory Platform" (GPP) soll, kurz gesagt, jedem den Zugriff auf das PNS und den LES eröffnen: Bürgern, Unternehmen, Organisationen. Dies beuge Missbrauch vor und gewährleiste eine demokratische Nutzung: Bürgergruppen stützen politische Forderungen mit Berechnungen der nahen Zukunft; Banken simulieren Szenarien, bevor sie investieren, usw.

Ist das möglich? Weiter durchdacht, wird es paradox: Wenn Finanzhändler Szenarien durchspielen, bevor sie Investments tätigen, müssen diese Simulationen in die nächsten Prognosen eingehen; ein intelligenter Computer müsste in die eine Voraussage bereits die Wirkung der nächsten einspeisen. Wenn jeder Szenarien durchspielen kann, ist die Zukunft ein unendlicher Regress. Der Simulator ist vor allem damit beschäftigt, sein eigenes Wirken zu berechnen sowie die Wirkung der Berechnung seines eigenen Wirkens usw. usf.

Zudem gibt es ein anderes, technisches Problem: Es ist bereits gewagt, den Supercomputern in zehn Jahren eine Simulation globaler Zukunftsszenarien unter Berücksichtigung aller vorhandener Faktoren zuzumuten. Wenn aber jeder auf Wunsch den LES benutzen kann – und nur das wäre demokratisch und würde Missbrauch verhindern –, wird die Rechenleistung so schnell nicht reichen. Aber dies ist ein Problem, dass sich so bald nicht stellen wird.