Mindestens 80 Menschen wurden getötet

Die algerische Regierung versucht, die "Befreiung" des BP-Gasfelds als Erfolg darzustellen, eben das machen die Islamisten auch

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Ähnlich undurchsichtig wie die Massengeiselnahmen tschetschenischer Terroristen vor neun Jahren in einem Theater oder in einer Schule seitens der russischen Sicherheitskräfte ohne Rücksicht auf die Geiseln "gelöst" wurden, ist die algerische Regierung beim Sturm auf die von islamistischen Terroristen am letzten Mittwoch besetzte Gasanlage Tiguentourine (In Amenas) vorgegangen. Während die Russen aber nur das Leben von Geiseln gefährdeten, die russische Bürger waren, scherten sich die algerischen Spezialeinheiten auch nicht darum, dass es die al-Qaida-Terroristen nur auf Geiseln abgesehen hatten, die nicht aus Algerien stammen. Die mörderische Entschlossenheit der Terroristen passt zu der der staatlichen Spezialeinheiten.

Da die Terroristen nur über Umwege, beispielsweise mittels der mauretanischen Nachrichtenagentur ANI, mit der Außenwelt kommunizieren konnten und die algerischen Sicherheitskräfte die weit abgelegene, nahe der libyschen Grenze gelegene und weitläufige Gasanlage abgesperrt hatten, hat die algerische Regierung bislang weitgehend den Nachrichtenfluss bestimmen können. So ist etwa völlig unklar, ob gestern die Terroristen, die den ersten Angriff überlebt hatten, tatsächlich ihre letzten sieben Geiseln exekutiert und damit begonnen hatten, die Anlage in Brand zu setzen, weil die algerische Regierung nicht in Verhandlungen eintreten wollte. Die algerische Regierung hatte erklärt, man habe den zweiten und finalen Angriff am Samstag ausführen müssen, um Schlimmeres zu verhindern oder eine Flucht der Geiselnehmer zu unterbinden, zudem sei die Niederschlagung aus wirtschaftlichen Gründen erforderlich gewesen. In der Tat haben Islamisten bereits mit weiteren Angriffen auf algerische Öl- oder Gasanlagen gedroht.

Zunächst wurde offiziell über die algerische Nachrichtenagentur API gemeldet, dass insgesamt 32 Terroristen und 23 Geiseln getötet worden seien. Während für den Tod der letzten 7 Geiseln die Terroristen verantwortlich gemacht wurden, hat man offenbar auch nach russischem Vorbild darauf geachtet, keinen Terroristen am Leben zu lassen. Zudem schrieb man den algerischen Spezialeinheiten als Erfolg der beiden Angriffe zu, 685 algerische Arbeiter und 107 Ausländer befreit oder gerettet zu haben. Allerdings scheinen die meisten im Zuge der Kämpfe entkommen zu sein. Aufgelistet wurden zudem das Waffenarsenal, mit dem die aus zahlreichen Ländern, auch aus Algerien stammenden Terroristen ausgerüstet waren. Neben Munition und Sprengstoff um die 30 Gewehre, Granaten und Granatwerfer. Es soll Tote und Verletzte auch bei den algerischen Spezialeinheiten gegeben haben, auch darüber schweigt sich bislang die algerische Regierung weitgehend aus.

Die algerische Regierung hatte eine Rück- und Absprache mit den Ländern, deren Bürger Geiseln waren, abgelehnt und wollte im Alleingang - und wahrscheinlich auch zur Abschreckung von erwartbaren weiteren Anschlägen - demonstrieren, dass sie in der Lage ist, mit solchen Situationen fertig zu werden. Die Schäden an der Anlage seien relativ gering, sagte am Sonntag der algerische Energieminister Youcef Yousfi. Er fügte hinzu, Algerien habe die Mittel, die Energieanlagen zu sichern. Gleichzeitig [http://www.aps.dz/L-Algerie-a-les-moyens-de.html erklärte] er, dass die Schutzmaßnahmen verstärkt würden. Die Sorge besteht natürlich, dass sich ausländische Konzerne nach der Massengeiselnahme zurückziehen könnten - dabei könnte aber auch das Vorgehen der algerischen Sicherheitskräfte eine Rolle spielen. Die Brutalität des Vorgehens erinnert an die Niederschlagung der Islamisten in den 1990er Jahren durch das Militär, nachdem absehbar gewesen war, dass die Islamische Heilsfront (FIS) die Wahlen gewinnen würde. Nachdem die Putschregierung 1992 die Auflösung der FIS durchsetzte, ging diese zum bewaffneten Kampf über. Aus dieser Perspektive steht hinter der in Nordafrika operierenden Islamistenbewegung weniger der Arabische Frühling bzw. der Sturz Gaddafis, die Gründe reichen schon viel weiter zurück.

Obgleich nach dem ersten Angriff, als von einem Blutbad die Rede war, eher leise, in Japan auch lautere Kritik aufkam, stellten sich die Amerikaner, Franzosen und Briten trotz Kritik vor allem am Informationsfluss letztlich hinter den finalen Angriff, der von der algerischen Regierung als erfolgreich verkauft wurde. Der britische Regierungschef Cameron sieht ein neues Afghanistan und Pakistan in Nordafrika. Global müsse man über Jahre und Jahrzehnte nun die "nichtregierten Räume" schließen, in denen die Terroristen gedeihen. Die algerische Regierung bemüht sich mit allen Kräften, das Vorgehen zu legitimieren.

Der algerische Außenminister Mourad Medelci versicherte, die Spezialeinheiten des algerischen Militärs hätten "verantwortlich" und "sehr zufriedenstellend" gehandelt. Aufgrund der Erfahrung der algerischen Armee habe die Operation nur geringe Schäden verursacht und sei ein Drama vermieden worden. Das Drama bestand offensichtlich weniger im Verlust von Menschenleben, sondern im Verlust des Geschäfts mit Öl und Gas. Man habe ein "klares Signal" gegeben, dass die "neue Taktik" der Terroristen nicht greife. Das lässt sich bezweifeln, auch wenn die Islamisten nicht ihre Ziele mit der Geiselnahme durchsetzen konnten, sofern diese wirklich angestrebt wurden, so haben die Islamisten doch wieder einmal ihre Entschlossenheit demonstriert, viele Menschen mit ihren Aktionen und mit relativ primitiven Waffen mit in den Tod zu reißen, und für Aufmerksamkeit und Imagegewinn gesorgt, mit denen sich neue Rekruten und Geld finden lassen.

Allerdings musste eingeräumt werden, dass die bislang so genau angegebenen Opferzahlen wohl nicht stimmen. Bei der Sicherung der Anlage, die mit Minen versehen worden sei, sei man noch auf weitere 25 Leichen gestoßen, die man aber noch nicht identifizieren konnte. Damit wäre man schon bei mindestens 80 Getöteten, darunter 50 Geiseln. Später war die Rede von mehr als 30 zusätzlichen Leichen, es könnten noch mehr auf den großen Anlage werden. Man habe fünf mutmaßliche Terroristen festgenommen, drei seien noch auf der Flucht.

Der Algerier Mokhtar Belmokhtar, der hinter der Geiselnahme stehen soll, hat erneut erklärt, dass der Anschlag schon länger als Auftakt zu weiteren Anschlägen geplant gewesen sei. Man habe die Algerier freigelassen, sie seien nicht von der algerischen Armee befreit worden, sagte er. Algerier werden aufgefordert, sich von Anlagen fernzuhalten, die von ausländischen Konzernen betrieben werden. Die Tribune de Genève hatte noch am Freitag mit dem Sprecher der Gruppe "Unterzeichner mit Blut" telefoniert, die für die Geiselnahme verantwortlich sind. Der sagte ebenfalls, die Aktion sei lange vorbereitet gewesen, aber auch, dass man mit AQIM, der al-Qaida im Islamischen Maghreb, gebrochen habe. Die Aktion selbst bezeichnete er als großen Erfolg, alle Mitglieder der Gruppe seien als Märtyrer in den Kampf gezogen. Auch er kündigte neue Anschläge an, Hunderte von Märtyrern stünden dafür bereit.