Der Wettbewerb verschlüsselter Kommunikationen

Die neue Daten-Plattform "MEGA" spielt mit den Parametern des Datentransfers und technisiert die Moral der Märkte

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Dreistigkeit im Netz hat einen Namen. Für "Kim Dotcom" wirbt in diesen Tagen nahezu jede größere Publikation jener Medienkonzerne, als deren Erzfeind sich Dotcom (alias Schmitz aus Kiel) geriert. Die Fakten sind bekannt: Strafverfolgung, juristische Teilerfolge und ausstehende Prozesse wegen Immaterialgüterrechtsverletzungen durch die Tausch-Plattform "Megaupload", die das FBI Anfang 2012 sperrte.

Nach "Megaupload" kommt "MEGA"

Parallel zu den Ermittlungen, die ihn mit langjährigen Haftstrafen bedrohen, startete Dotcom am vergangenen Sonntag den "Megaupload"-Nachfolger "MEGA". Der technische und juristische Trick lautet: Verschlüsselung der Daten. MEGA als Betreiber riesiger Speicher, auf die Nutzer zugreifen, kann Daten nicht mehr selbst im Klartext lesen, ergo nicht auf Immaterialgüterrechtsverletzungen überprüfen. Dies kann nur derjenige, der Daten wieder herunterlädt, und diese Person benötigt dafür jenen Link, den der Uploader beim Einspeisen auf den Server erhält, sowie ein dazugehöriges Passwort.

Der Nutzer darf anonym bleiben; für einen Premium-Account mit mehr Speicherplatz muss aber eine Überweisung getätigt werden. So dürfte de facto eine Verfolgung von Copyright-Verstößen nur gegenüber zahlenden Nutzern halbwegs praktikabel sein. Diese kaufen ihren Zugang jedoch über externe Dienstleister, die in aller Welt verstreut sind - zur Klärung würden dabei recht aufwändige Nachforschungen in verschiedenen Rechtssystemen notwendig.

"Bigger" glaubt man Kim Dotcom gerne.

Der Lauf der Dinge ist also absehbar: Ähnlich wie zu "Megaupload"-Zeiten und wie im Fall nach wie vor existierender Sharehoster wie "Rapidshare", "Uploaded" oder vieler anderer werden sich in Millionen und Abermillionen von Foren-Einträgen Links mit Passwort ansammeln. Mitarbeiter der Content-Industrie werden einen Kampf mit dem Upload ihrer schwarzkopierten Inhalte aufnehmen, der jeden Tag aufs Neue beginnt und nur vorübergehend die anonyme Weitergabe solcher Daten vermeidet.

Der Widerwillen von Content-Produzenten gegenüber Privatkopien und deren illegaler anonymer Weitergabe kollidiert seit jeher mit dem Prinzip des Digitalen, der praktisch verlustfreien Kopie und ihrer möglichen Verbreitung im Netz. Die Content-Industrie nutzt also digitale Medien, um auf ihnen Daten zu verkaufen, leidet aber unter der technisch implementierten Kopierbarkeit. (Dieses Leiden wird von Netzaktivisten bestritten, da jede Verbreitung Werbung ist, ein schwarzkopierter Film z. B. vom Nutzer sonst nicht legal erworben werden würde.)

Die "MEGA"-Theorie

Und damit hätten wir die sachlichen Grundlagen für die fünf theoretisch interessantesten Punkte von MEGA beisammen.

Andere haben Rockefeller einen "Pragmatiker" genannt, was in der amerikanischen Politik soviel heißt wie: "Solange du damit durchkommst, geht alles." […] Im politischen Sinn sind auch Bankräuber erfolgreiche Pragmatiker. Im missbräuchlichen Sinn verwendet, bedeutet das Wort, dass alles, was nach Wunsch verläuft, "pragmatisch" sei.

  • Punkt 1: Das Digitale ist systeminvariant und dient den legalen Produzenten, dem legalen Kopieren wie auch bei der illegalen Verbreitung. Die erwähnte Neuerung bei MEGA ergänzt hierzu eine verwandte Logik auf einer anderen kategorialen Ebene: "Datensicherheit" und "Datenschutz", die auf Anonymisierung und Verschlüsselung basieren, springen auf potenziell öffentlich zugängliche Daten über. Während beim Online-Banking der Nutzer am Schutz seines Passwortes und der Verschlüsselung seiner Daten interessiert ist, werden Schwarzkopierer mit verschlüsselten Daten auf MEGA dasselbe tun wie mit unverschlüsselten Daten auf Megaupload oder nach wie vor verfügbaren anderen Diensten: Sie werden ihre Zugangsdaten veröffentlichen, um die dahinter liegenden Daten zu teilen.
  • Punkt 2: In seinem Umgang mit dem Prinzip der Verschlüsselung zieht sich MEGA als Anbieter auf einen scheinbar neutralen Standpunkt zurück. Auch hierbei wechselt eine Kategorie: Der Provider bleibt der Dienstleister (der Sharehoster ist dies wie ein Online-Banking-System), doch seine Position im Verfahren der Verschlüsselung ändert sich partiell: Zwar stellt er die Programmlösung zur Verschlüsselung zur Verfügung, verfügt aber selbst nicht mehr über den individuellen Schlüssel (zumindest, soweit es die Geschäftsbedingungen mitteilen). Bei der Aufnahme von Geschäftsbeziehungen werden an alle Seiten Tarnkappen verteilt.
  • Punkt 3: In seinem Umgang mit den Potenzialen des Digitalen, der Vernetzung und des Interesses an Content deutet MEGA alle fundamentalen Marktmechanismen um (und zwar noch etwas umfassender als existierende Sharehoster, wie wir gesehen haben). Statt eines Produzenten und Rechteinhabers verbreiten potenziell Schwarzkopierer dessen Inhalte (wenn sie nicht legale Privatkopien an Bekannte oder Kopien eigener Schöpfungen weitergeben). Statt eines Profitinteresses des Content-Produzenten tritt der Altruismus eines Teilenden. Statt eines immaterialgüterrechtlich gekennzeichneten Datenträgers werden die digitalen Informationen beliebig auf Partitionen im globalen Nirgendwo geschrieben und von dort abgerufen.
  • Punkt 4: Kim Dotcom bedient sich als Unternehmer all dieser technischen, sozialen und juristischen Funktionen, um selbst Gewinne mit Geldwert zu erzielen. Am Ende aller Klicks und Schreibvorgänge auf Festplatten werden Überweisungen von Premium-Usern stehen, mit denen Dotcom sein beträchtliches, aber derzeit teilweise beschlagnahmtes Vermögen zu mehren versucht. In einer Spätphase des laufenden Zyklus unseres zinsbasierten Geldsystems, das die Buchwerte notwendigerweise inflationiert, tritt MEGA mit einer Dienstleistung auf, die durch identische Reproduktion Content inflationiert, mit diesem Vorgang jedoch selbst monetären Mehrwert erwirtschaftet.
  • Punkt 5: Auch wenn Dotcom sich in Interviews gerne herzzerreißend als Opfer der Content-Mafia präsentiert, bestreitet, ein "Piratenkönig" zu sein und sich in seiner PR der letzten Monate zum Freiheitskämpfer des Internets stilisiert, vereint seine Strategie Essenzen des Raubtierkapitalismus und der deregulierten Finanzmärkte. Seine Kunden erhalten mit seiner Hilfe bei Bedarf Sachwerte zum Nulltarif; neutrale Buchwerte, Geld, erhält nur das Unternehmen MEGA von zahlenden Kunden. Das mächtigste Marketinginstrument ist die Ansprache von Millionen anonymer, nicht zahlender Nutzer, für die die größte Verlockung aller Voraussicht nach illegal verbreitete Inhalte sein werden. Auf Dotcom trifft zu, was Ferdinand Lundberg 1975 über den republikanischen Politiker Nelson Rockefeller schrieb:

Das Teilen, der Wert, die Spekulation

Für die Finanzwelt wird es täglich zahllose Male ausgesprochen und beschrieben, ohne dass sich das Kollektiv bisher effektiv die Systemfrage gestellt hätte: Die Tricksereien von Geldschöpfung und Spekulationen an Börsen und im Investment-Banking extrahieren aus realer Arbeitsleistung, realen kurz- und langlebigen Gütern abstrakte Geldwerte, die entweder verfallen oder, bei geschicktem Risikomanagement, bestehendes Kapital unproportional zur erbrachten Eigenleistung der Nutznießer erhöhen.

Auch hier wirkt eine Gesetzmäßigkeit, die MEGA für den Datentausch adaptiert: Die Zeichen, ob Geldbeträge in der digitalen Buchhaltung oder digitale Inhalte vom Text bis zum Film, lösen sich vorübergehend von einem ‚reellen Bezug‘, werden von Produzenten und Sendern kopiert, übertragen und rekonfiguriert, um dann einen Empfänger zu erreichen (der auch der Absender sein kann). Die Varianten der so resümierend benannten Vorgänge sind unüberschaubar. Doch sie haben diesen gemeinsamen Kern, zu dessen Verdeutlichung noch der ‚reelle Bezug‘ näher definiert werden muss.

Gemeint ist hier nicht die Parallele zwischen Geld und Ware sowie einem Zeichen und dem, was es bezeichnet. Gemeint ist vielmehr, als eine semiotisch-ökonomische Sonderdefinition, als Parallele zum Buchwert und der Ware als realem Gegenwert die Verbindung von Content und einem medialen Träger, der in seiner Materialität tendenziell die Inflation seines Geldwerts verhindert. Diese Sonderdefinition wird notwendig, weil MEGA Funktionen des Kapitals auf mediale Inhalte überträgt, wie wir nun noch genauer sehen - wobei dies schon in der Vermarktung reproduzierbarer Medieninhalte angelegt ist. Nur verstärkt die digitale Kopierbarkeit den betreffenden Effekt, und MEGA verstärkt die Verstärkung.

Die Einmaligkeit eines medialen Trägers von kopierbaren Inhalten beglaubigt die Stabilität seines Preises, wie der Referent und/oder das Denotat eines Symbols relativ verbindlich sein müssen, wenn nicht alles alles bedeuten soll. Inflation und Wertverlust sind in diesem Fall die strukturellen Parallelen zum Verlust von definierbarer Bedeutung und kommunikativer Anwendbarkeit eines Zeichens. Schwarzkopien, wenn sie wirtschaftlichen Schaden anrichten, stören schlicht die Kommunikation zwischen Produzent und Konsument, die in einem Austausch von medialem Träger mit Inhalt gegen Geld besteht.

Die kopiergeschützte Verkaufseinheit, deren Kopierschutz fast immer umgangen werden kann, teilt mit einem relativ stabilen Geldgeschäft eine Verbindlichkeit (auch wenn sie eben auf verschiedenen kategorialen Ebenen angesiedelt ist und ein Datenträger mit Content wiederum einen Preis zugeordnet bekommt). Für den Content-Produzenten bleibt der Verkaufswert eines Datenträgers solange stabil, wie er nicht durch Schwarzkopien inflationiert wird - wenn dies die Verkaufszahlen tatsächlich absenkt. (Und tatsächlich basiert das ganze Aufsehen um Kim Dotcom und MEGA, sein Status als Verdächtiger im größten Immaterialgüterrechtsprozess der bisherigen Geschichte, auf dieser letzteren Annahme.)

Für den Spekulanten am Finanzmarkt kommt es ebenso auf die Moderation einer solchen Stabilität von Wert an. Und während der Vertrieb einer unendlich zu steigernden Zahl identischer Kopien immaterialgüterrechtlich geschützten Contents optimalerweise unendlich steigende Einnahmen erbringt (weil der Wert des Einzelstücks halbwegs aufrechterhalten wird), sucht der Spekulant sein Kapital zu mehren, indem er für es Anlageformen findet, deren Nennwert steigt, bis die Anlage (von unverändertem Umfang, etwa eine Aktie, deren Nennwert jedoch steigt) wieder in einen erhöhten Geldwert eingetauscht werden kann.

Für den Spekulanten besteht der Anspruch also darin, den reellen Bezug eines Geldwertes zumindest aufrechtzuerhalten (ein Geldbetrag darf nicht an Wert verlieren), durch das vorübergehende ‚Teilen‘ von Zugriff auf diesen Geldwert (z. B. durch Verleihen als Kredit oder als Investment in Aktien) aber möglichst dessen Höhe zu steigern.

MEGA bedient sich nun eines weiteren Umwegs, um eine damit effektiv vergleichbare Geschäftsoperation durchzuführen: Es löst Content von seinem ursprünglichen Datenträger (neutralisiert also das Medium), steigert die Zahl der Kopien dieses Contents und erlöst im letzten Schritt aus der sozialen Praxis des Teilens und Entwertens von Content einen finanziellen Gewinn - ausschließlich für die Bereitstellung der technischen Infrastruktur dieser Kopier-, Distributions- und Tauschvorgänge, die von vielen einzelnen Nutzern durchgeführt werden. Hervorzuheben ist, dass MEGA und andere Sharehoster somit durch die Inflationierung von Content (die praktisch Immaterialgüterrechtsinhaber entrechtet oder entrechten kann) für seine eigene Dienstleistung Mehrwert generiert, der durch Premium-User monetarisiert wird.

Bipolarität der Wertsteigerung, einseitige Monetarisierung

Es besteht also eine strukturelle Parallele zwischen Shareholding und Filesharing, die für MEGA & Co. über eine bipolare Wertsteigerung realisierbar wird: Während sich durch verzinsten Geldverleih oder Aktienbesitz im günstigen Fall die Menge des eingesetzten Kapitals erhöht, müssen die Daten vervielfältigenden und teilenden Nutzer von Tausch-Plattformen zunächst das Angebot verfügbarer Daten vergrößern. Sie selbst erhalten Dividenden lediglich in Form vergleichbarer Waren (und bei Bedarf einer immensen Menge davon) - durch das crowdsourcing wechselseitig geteilter Daten, darunter immaterialgüterrechtlich geschützter Inhalte, die, legal erworben, Geld kosten würden.

Die Monetarisierung erfolgt für Sharehoster durch Abschluss von Nutzerverträgen, die schlichtweg an Obergrenzen für Speicherkapazität und Bandbreite bei Up- und Downloads ansetzen. Weil (zahlende oder nicht-zahlende) Nutzer viele Daten hochladen, entsteht bei manchen Nutzern z. B. der Bedarf, möglichst viele Daten in kurzer Zeit herunterzuladen. (Daneben gibt es rein legale Motivationen, etwa eigene umfangreiche Datensicherungen möglichst schnell durchzuführen.)

Die Wertsteigerung wird in der hier geschilderten Konstellation bipolar, da sie einerseits in der Datenvermehrung durch die Menge der Nutzer besteht (der Wert des ‚Angebots‘ etwa von MEGA steigt zunächst in Form von digitalen Sachwerten, die für Interessierte abrufbar werden). Andererseits steigt die Attraktivität von Premium-Verträgen, da u. a. von anderen hochgeladene Inhalte so große Volumina erreichen, dass ein Geldbetrag zur Erhöhung u. a. der Download-Bandbreite an den Provider bezahlt wird, um das Angebot in der gewünschten Weise überhaupt wahrnehmen zu können.

Fetischcharakter der Verschlüsselung

Der eingangs besprochene Aspekt der kryptografischen Verschlüsselung als Geschäftsmodell von MEGA trifft im (finanz)wirtschaftlichen Setting zudem auf Karl Marx’ mittlerweile allzu sprichwörtliches Prinzip des "Fetischcharakters der Ware". Auch hierbei findet durch Dotcoms Projekt eine besondere Umdeutung und Transponierung statt: Profitiert eine immer reicher werdende kleine Schicht von Geldbesitzern auf globalen Finanzmärkten von der Intransparenz der Marktentwicklungen und Transaktionen (nur bester Zugang zu Informationen und aufmerksames Management der Anlagen erbringt starken Zugewinn), schottet das MEGA-Prinzip in seiner Intention die manövrierten Inhalte durch Verschlüsselung nach außen ab.

Hierdurch werden geprellte Rechteinhaber/Produzenten und Strafverfolger (die als einzige extern ein eminentes Interesse an Einsicht haben) in eine Position versetzt, die in der kapitalistischen Finanzwirtschaft nur der ahnungslose Kunde und Besitzer kleinerer Sparguthaben einnehmen muss: Er durchschaut nicht die Produktionsumstände des Produktes, das er erwirbt, ob es ein Konsumgut oder eine Geldanlage ist, bzw. er geht ganz allgemein mit Geld um, dessen Wertentwicklung seinem Einfluss entzogen ist.

Wo Filesharing von Schwarzkopien dank MEGA ungestraft bleiben wird, werden die Rechteinhaber, Content-Produzenten und Distributoren zu betrogenen Shareholdern, deren Arbeitskraft in unergründlichen, weit verzweigten Kanälen des Datennetzes versickert, ohne Entlohnung zu erfahren. Dotcom/Schmitz versetzte in früheren Karrierephasen Investoren auch auf herkömmliche Weise in die Position des Betrogenen: Zu seinen Vorstrafen gehört "Insiderhandel", der die Opazität des Fetischs nur perfektioniert, um Kapital abzuzweigen.

Doch leider trifft diese Strafe nach bisherigen Erkenntnissen nicht unbedingt diejenigen, die den Markt beherrschen: Bestseller steigern ihre Bekanntheit und Verkaufszahlen, Nischenprodukte verlieren hingegen Käufer. Kim Dotcom als Robin Hood der Konsumenten könnte so an Ambivalenz noch gewinnen. Er führt für uns ein Theater der Subversion auf, die ihm zu märchenhaftem Reichtum verhalf. Aber im Endeffekt sind die MEGA-Projekte doch wieder eine Bestätigung des Konsumismus, seine ultimative Einübung im Geiste des Teilens wie des Stehlens - und vielleicht sogar die Erneuerung der bekannten Empfangsadressen seiner Profite.