Über zwei Drittel Leihstimmenanteil

Das Wahlergebnis in Niedersachsen zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie sehr die Fünf-Prozent-Hürde mittlerweile den Wählerwillen verfälscht

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Bei der Landtagswahl in Niedersachsen kam die FDP am Sonntag auf 9,9 Prozent. Das war für Beobachter deshalb überraschend, weil sie das letzte Jahr über in Umfragen stets bei Werten zwischen drei und fünf Prozent lag. Durch Wählerbefragungen weiß man mittlerweile auch recht genau, woher diese plötzliche Verdoppelung bis Verdreifachung kam: Über zwei Drittel der FDP-Wähler wollten eigentlich die CDU wählen und vergaben ihre Stimme taktisch. Für eine Koalition aus CDU und FDP reichte es trotzdem knapp nicht.

Die Stimmen der CDU-Wähler sorgen nun dafür, dass 14 FDP-Abgeordnete im niedersächsischen Landtag dafür bezahlt werden, FDP-Politik zu machen – möglicherweise auch gegen die Interessen und den Willen der CDU-Anhänger, die sie wählten. Ursache dafür ist die Fünf-Prozent-Hürde. Sie brachte CDU-Anhänger dazu, ihre Stimme einer anderen als der eigentlich präferierten Partei zu geben. Eine Partei, die sich eigentlich in einem historischen Tief befindet, erzielte dadurch ein Rekordergebnis: 1,1 Prozent mehr als die 8,8 Prozent von 1947, die bislang an der Spitze standen. Diese Umkehrung ist allerdings nicht der einzige Effekt, den die Sperrklausel hatte: Grünen und SPD spielte sie in beträchtlichem Ausmaß Wähler zu, die eigentlich Linke, Piraten oder eine der kleinen Parteien bevorzugten, aber fürchteten, dass ihre Stimme im Falle einer ehrlichen Entscheidung parlamentarisch nichts wert sein würde.

Die Fünf-Prozent-Hürde wurde 1949 eingeführt. Damals reichte es für einen Einzug in den Bundestag, wenn sie von einer Partei in einem einzigen Bundesland übersprungen wurde. Zur Begründung führte man an, dass die "Zersplitterung" des Reichstages in der Weimarer Republik dazu beigetragen hätte, dass Hitler an die Macht kam. Das kann man so sehen – oder auch nicht:

1933, im achten Reichstag, der Weimarer Republik, hatte die NSDAP 288 von 647 Sitzen. Die für eine absolute Mehrheit nötigen weiteren 36 konnte sie sich aus den 52 von Alfred Hugenbergs Kampffront Schwarz-Weiß-Rot besorgen – also durch eine Zweierkoalition, wie sie auch in der Geschichte der Bundesrepublik mit ihrer Fünf-Prozent-Hürde vorherrschte. In der Wahl davor waren die Nationalsozialisten auf 196 von insgesamt 584 Sitzen gekommen und alle Parteien unterhalb der Fünf-Prozent-Hürde brachten es zusammengerechnet auf insgesamt 45 Abgeordnete. Diese hätten weder der SPD mit 121 noch dem Zentrum mit 70 Abgeordneten annähernd zu einer Mehrheit verholfen. Im sechsten Reichstag, demjenigen davor, sah es nicht grundlegend anders aus: 133 Sitze für die SPD, 75 für das Zentrum und 44 für die Unter-Fünf-Prozent-Parteien.

Dafür bewiesen die großen Volksparteien in der Bundesrepublik seit 1966, dass sie im Bedarfsfall problemlos miteinander koalieren können, weshalb Joseph Fischers Drohung aus den 1980er Jahren, er werde "dieses Land unregierbar machen", wenn man ihn nicht an die Macht lässt, nur die Geschichtsvergessenen beeindrucken konnte.

Die Fünf-Prozent-Hürde war jedoch ein effektives Mittel zur kartellmäßigen Verteilung politischer Macht, weshalb sie auch in Bereichen eingeführt wurde, in denen die Erklärung mit der Weimarer Republik beim besten Willen nicht passte: Zum Beispiel bei der Wahl von Stadt- und Gemeinderäten, wo der Bürgermeister vom Volk gewählt wird, oder zum Europaparlament, das auch mit deutscher Fünf-Prozent-Hürde völlig zersplittert ist. Für diese grob unpassenden Bereiche untersagte das Bundesverfassungsgericht in den letzten Jahren die Ausgrenzung von Parteien mittels der Fünf-Prozent-Hürde. Seitdem wird versucht, dort neue Drei-Prozent-Sperrklauseln einzuführen – mit bislang bedingtem Erfolg.

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