Bloch vs. Dschungelcamp

Worin besteht die Erbschaft einer Zeit, in der sadistische Demütigungsshows ein begeistertes Millionenpublikum finden?

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Müsste das Dschungelcamp allein aufgrund seiner Einschaltquoten beurteilt werden, so würde es als eine Sternstunde deutscher Fernsehkunst in die Annalen der Medienbranche eingehen. Mit rund 7,77 Millionen Zuschauern beim Start der neuen Staffel konnte die Ekelsendung einen neuen Rekordwert aufstellen, der RTL eine fette Quote von 36,5 Prozent bei der werberelevanten Altersgruppe zwischen 14 und 49 Jahren bescherte. Und es geht weiter aufwärts: Am 14. Januar konnte das Dschungelcamp sogar einen neuen Rekordwert von bis zu 8,1 Millionen Zuschauern verbuchen.

Somit ist ein Fernsehformat, bei dem die öffentliche Demütigung von Menschen zur vollendeten Perfidie gebracht wurde, Teil der bundesrepublikanischen Medien- und Alltagskultur geworden. Die neuesten Ekelprüfungen und die korrespondierenden Zusammenbrüche der Campteilnehmer bilden einen beliebten Gesprächsstoff beim Small Talk zwischen Arbeitskollegen. In den Kommentarspalten zu den Zeitungsartikeln, die in einer regelrechten Textschwemme die Bösartigkeiten der Dschungelhölle nochmals Revue passieren lassen, finden sich reihenweise regelrechte Leistungsbeurteilungen der armen Teufel, für die das Camp die letzte Station bei ihrem Abstieg ins Prekariat oder Hartz IV darstellt. Ulf Poschardt konstatierte in der Welt gar ein Ankommen des Dschungelcamps im Mainstream der Bundesrepublik:

Der Weg in die Mitte der Gesellschaft für das einst als "Ekelfernsehen" marginalisierte Dschungelcamp war lang. 2010 wurde es noch abgesagt, weil es zu wenige Anzeigenkunden gab. In der nun aktuellen siebten Staffel verdient RTL damit nicht nur überragende Aufmerksamkeitswerte, sondern auch viel Geld mit Werbung.

Der Ekel ist somit zum massenmedialen Allgemeingut geworden, doch trügt die Aufstiegsgeschichte der anfangs "marginalisierten" Show über deren Funktion im Medienbetrieb. Das Dschungelcamp ist deshalb so erfolgreich, weil es bestimmte Bedürfnisse bei einem immer breiter werdenden Publikum befriedigt, die zuvor in solch einer Intensität nicht präsent waren. Es ist gewissermaßen ein Produkt der "Mitte", in der sich immer stärker die Wünsche regen, andere Menschen erniedrigt, gequält, unterworfen und ausgebeutet zu sehen. Der Erfolg des Dschungelcamps verweist somit auf ein sich immer stärker aufstauendes autoritäres Potenzial in der Bevölkerung. Ohne das krisenbedingt anschwellende Bedürfnis, Menschen im Dreck kriechen zu sehen, wäre das Dschungelcamp eine Marginalie der Fernsehgeschichte geblieben.

Dabei stellt dieses Fernsehformat keine vollständige Innovation dar. Die historischen Vorläufer der heutigen Demütigungs-Shows finden sich in den 20er und 30er Jahren, als sogenannte "Tanzmarathons" in Mode kamen, bei denen die Teilnehmer mitunter wochenlang bis zur totalen Erschöpfung um ein Preisgeld gegeneinander tanzen mussten. Und es sind gerade solche Manifestationen eines kaum gezügelten Sadismus, die einen zuverlässigen Indikator für die Zunahme autoritärer und reaktionärer Einstellungen in der Gesellschaft, wie etwa der späten Weimarer Republik, liefern.

Von der nach unten sinkenden Mitte

Angefacht von der Weltwirtschaftskrise der frühen 30er Jahre machten sich in der Weimarer Zeit lange vor der Machtergreifung der Nazis autoritäre und reaktionäre Anschauungen breit, die oftmals gänzlich "unpolitisch" wirkten, aber beim genaueren Hinsehen einen Ausblick in den Abgrund erlaubten, auf den das Land zusteuerte. Der Faschismus kam somit nicht aus heiterem Himmel über Deutschland. Eine scharfsinnige und immer noch beeindruckende Auseinandersetzung mit dem deutschen Präfaschismus, der genau dieses Kunststück gelang, ist die 1932 von Ernst Bloch verfasste, 1935 in Zürich publizierte Schrift "Erbschaft dieser Zeit", in der an ein Tabu der damaligen linken Faschismusdebatte gerührt wurde: Der Verfasser benennt nicht nur die Finanziers und Unterstützer der NSDAP in Kapitalkreisen, Militär und Staatsapparat, er legt auch die autoritären Dispositionen bei großen Teilen der Bevölkerung offen, die in der Linken immer noch allzu oft als einfaches "Volk" idealisiert wird.

Bloch identifizierte - hierbei Siegfried Kracauer folgend - als einer der ersten Beobachter eine damals "neue Art Mitte", die in der Krise um sich zu schlagen beginne, "besonders nach unten, wohin sie zu sinken" drohe. Neben dem klassischen Kleinbürgertum, den in den Krisenwirren irrlichternden Krämerseelen und der niederen Beamtenschaft, zählte er zu dieser "Mitte" vor allem das rasch anwachsende Heer der Angestellten, das sich in der gleichen Zeit verfünffacht habe, "in der sich die Arbeiter nur verdoppelt haben". Trotz krisenbedingter faktischer Proletarisierung fühlten sich diese Angestellten "noch als bürgerliche Mitte". Auf diese sich damals in der Weltwirtschaftskrise konstituierende, hasstriefende und angstschwitzende "Mitte" war Blochs Allegorie von den Kälbern gemünzt, "die ihren eigenen Metzger wählen, wäre der Geruch vieler dieser Kälber nicht gerade der von Metzgern".

Der Metzgergeruch der "Kälber" stieg besonders intensiv überall dort auf, wo die gerade im Entstehen begriffene Kulturindustrie in ersten zaghaften Schritten die aufgestaute Wut der desperaten Massen zu ihrer Geschäftsgrundlage machte. In dem Abschnitt "Wut und Lachlust" beschreibt Bloch einen 1929 abgehaltenen Marathon-Tanzwettbewerb, bei dem die teilnehmenden Paare über Wochen nach dem KO-Prinzip buchstäblich gegeneinander antanzten. Dem Siegerpaar, das die wochenlange Tortur überstand, winkte ein Preisgeld von 6.000 Reichsmark. Dabei waren die Regeln dieses Tanzmarathons auf langsamen, qualvollen Verschleiß der Teilnehmer ausgelegt. Diese Veranstaltung hätte "kein anderes Ziel als den am längsten hinausgeschobenen Zusammenbruch", so Bloch. Jede Stunde erhielten die Tanzpaare eine absichtlich viel zu kurz bemessene Ruhepause von 15 Minuten, die es ihnen erlaubte, auch nach 300 Stunden "mit blutigen Füßen, Folteraugen und einem Leib aus Blei" zurück auf die Tanzfläche zu taumeln, "die Hand des einen Partners auf dem blutigen Fleisch des anderen".

Bloch beobachtete aber auch das dort versammelte Publikum, das mit Pfiffen und Gejohle die geschundenen Marathonteilnehmer in den Kollaps trieb. Versammelt seien dort zu Tausenden nicht nur Kleinbürger, sondern auch "Proleten" und Arbeitslose, die schon damals ermuntert wurden, ihre "Favoriten" zu unterstützen und sich an dem sadistischen Spektakel zu beteiligen - 1.000 Reichsmark erhielt jeder, der nachweisen konnte, dass die Tanzpaare ihre vorgeschriebene Ruhezeit von 15 Minuten überschritten haben. Damals habe bereits ein Drittel der Wähler den Nazis die Stimme gegeben, so Bloch, "hier im Saal dürfte ihrer mehr als die Hälfte tonangebend sein". All das, was die "Volksseele" bei diesem Spektakel auskoche, "wird man in Kürze nicht schlecht anrichten".

Es ist somit tatsächlich nicht schwer, in diesem barbarischen Spektakel die primitive Vorform der Casting- und Demütigungs-Shows wie eben des Dschungelcamps zu erkennen, die heutzutage ein Millionenpublikum vor den Fernsehern fesseln. Das Grundprinzip dieses kulturindustriellen Spektakels - das nach jahrzehntelanger Vergessenheit in den letzten Jahren ein Revival erlebt - besteht sei den 1930er Jahren in der Veranstaltung eines brutalen Rattenrennens, das von beständig angefachter Konkurrenz, gnadenloser Selektion und dem Kollaps der unterlegenen Kandidaten lebt. Hierin unterscheiden sich die Marathontänze des frühen 20. Jahrhunderts nicht grundlegend von den Demütigungsakten und der Erschöpfungsfolter im "Dschungelcamp" oder den Ausscheidungskämpfen bei "Germany's Next Topmodel" und "Big Brother".

An den Demütigungs-Shows sollen sich alle Zuschauer beteiligen

Die heutigen Nachfolger der brutalen Tanzwettbewerbe scheinen zumindest die körperliche Unversehrtheit ihrer Teilnehmer zu garantieren, sodass hier auf den ersten Blick ein gewisser Zivilisierungsprozess konstatiert werden könnte. Selbst im "Dschungelcamp" ist bislang niemand tot zusammengebrochen, was bei den Tanzwettbewerben während der Weltwirtschaftskrise durchaus vorkam.

Doch gehen diese Mindeststandards mit einer womöglich noch größeren psychischen Belastung der Teilnehmer einher, die mit ausgefeilter Perfidie dazu animiert werden, vor dem Millionenpublikum ihr Innerstes zu exponieren. Und wehe, wenn die teilnehmenden Desperados sich dem erbärmlichen Seelenstriptease verweigern - dann werden sie schnell rausgewählt, denn die pseudodemokratische Massenabstimmung über das Schicksal der Teilnehmer ist fester Bestandteil nahezu jedes dieser Spektakel. An den Demütigungs-Shows sollen sich alle Zuschauer beteiligen. Jeder wird so in die Lage versetzt, auch mal den Knopf drücken zu dürfen, der über das Schicksal anderer entscheidet.

Letztendlich können die heutigen Reality-Shows auf einem reichhaltigen kulturindustriellen Erfahrungsfundus in Manipulation und Verblödung aufbauen. Das hat zu einer stärkeren Ausdifferenzierung dieser Spektakel geführt, die schon aufgrund der immer schnelleren Abstumpfungs- und Abnutzungseffekte beim sedierten Massenpublikum notwendig ist. Folglich muss die Dosis an Sadismus und Ekeleffekten permanent erhöht werden, da sich auch beim Dschungelcamp bereits erste Abnutzungserscheinungen einstellen, wie ein gelangweilter Kommentator beim Tagesspiegel konstatierte: "Die Dramaturgie ist mittlerweile so ausgelutscht wie eine Riesenmade bei einer Ekelprüfung." Wir können uns folglich sicher sein, dass die Fernsehsender bereits an entsprechend "schärferen" Nachfolgeformaten arbeiten, mit denen ein noch größeres Ausmaß an Menschenverachtung etabliert werden wird.

Was aber kochte die "Volksseele" bei den Tanzwettbewerben der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts aus? Und ist das, was da gärte, vergleichbar mit den Gefühlen der heutigen "Mitte"? Es sei eine "rohe, auch lachlustige Wut", die sich bei den Tanzwettbewerben des Publikums bemächtige, schrieb Bloch. Sie gebe "die Tritte von oben nach unten" weiter.

Dem autoritären Charakter ist eine Untertanenmentalität eigen, die in Krisenzeiten ihre Servilität gegenüber dem herrschenden System psychisch nur aufrechterhalten kann, wenn sie sich Möglichkeiten der Triebabfuhr verschafft. Die Unterordnung unter die Systemimperative geht während der Krise mit immer größerem Triebverzicht einher, während die Gratifikationen wegfallen. Da dem autoritären Charakter ein Aufbegehren gegen die Verhältnisse, die ihn in den Irrsinn treiben, unmöglich scheint, bricht sich die so angestaute Wut gegen Schwächere Bahn. Menschen, die von der kriselnden Kapitalverwertung zu Objekten gemacht und ausgepresst werden, ergötzen sich daran, andere zu Objekten degradiert zu sehen. Der angestaute Druck muss weitergeleitet werden, weswegen das Publikum es liebe, "arme Hunde so zu hetzen, wie es die Reichen mit einem selber tun" (Bloch).

Es ist gerade diese scheinbare Umkehrung des ohnmächtigen Objektstatus der Lohnabhängigen im heteronomen Prozess der Kapitalverwertung, die zur Einführung der besagten pseudodemokratischen Elemente in den neuen Reality-Shows führte. Wenn die ganze Fernsehnation scheindemokratisch über den Rausschmiss eines Kandidaten abstimmt, dann darf sich jeder mal kurz als ein allmächtiges Subjekt fühlen, ein bisschen Chef oder gar Schicksal spielen - darin erschöpft sich diese Fernsehdemokratie. Vor einem Millionenpublikum wird in der Reality-Show ein ins Extrem getriebenes Untertanentum durchexerziert, das absurdesten Regeln folgt, die dem alltäglichen Irrsinn der kapitalistischen Dauerkrise in nichts nachstehen - und an dem die Zuschauer nach Möglichkeit beteiligt werden sollen.

Das Prinzip der Casting-Shows greift auf die Arbeitswelt über

Je stärker die Krise wütet, desto krasser und brutaler fällt dieses Spektakel aus. So kommt gerade bei der heutigen Reality-Show eine zentrale Diagnose der Kritischen Theorie zur vollen Entfaltung: "Amüsement ist die Verlängerung der Arbeit unterm Spätkapitalismus. Es wird von dem gesucht, der dem mechanisierten Arbeitsprozess ausweichen will, um ihm von neuem gewachsen zu sein." Fun wird in der Krise vollends zu einem "Stahlbad" (Adorno), weil auch das Mobbing, der Druck und die Hetze in der Arbeitswelt zunehmen. Nach der Triebabfuhr an den zu Objekten degradierten Spektakelteilnehmern am Wochenende lassen sich die beständig zunehmenden Nackenschläge in der Arbeitswoche etwas leichter ertragen. Die grundlegende Konfiguration der Reality-Show spiegelt den Zuschauern ihren Arbeitsalltag wider: Der Angestellte, der sich etwa "Germany's Next Topmodel" anschaut, sieht freiwillig de facto das gleiche brutale Rattenrennen, dem er in der Arbeitswoche ausgesetzt ist.

Inzwischen greift das Prinzip der Casting-Shows übrigens auch auf die Arbeitswelt über: Immer mehr Unternehmen lassen ihre Arbeitsplatzbewerber in mehreren Runden nach dem KO-Prinzip vorsprechen, wobei der Umfang der Prüfungen von Runde zu Runde zunimmt, und die Bewerber immer intimere Fragen über sich ergehen lassen müssen. Längst ist es üblich, in die Arbeitsplatzbewerbung möglichst viel von einer in "Selbstoptimierung" kreierten Persönlichkeit einfließen zu lassen. Die Arbeit wird so zur Verlängerung des Amüsements unterm Spätkapitalismus ideologisiert.

Der größte Unterschied zwischen dem autoritären Potenzial, das in den Tanzveranstaltungen der 30er Jahre zum Ausdruck kam, und der blinden Wut, die die heutigen Spektakel so erfolgreich macht, wurde von Bloch mit dem Begriff der "Ungleichzeitigkeit" erfasst. Hierunter verstand er die Existenz - trotz moderner Technik, Industrie und Rationalität - nicht überwundener "Reste älteren ökonomischen Seins und Bewusstseins", die in Deutschland aufgrund der ausgebliebenen Revolution stärker nachwirkten. Im Zusammenspiel mit der Weltwirtschaftskrise habe diese "Ungleichzeitigkeit" den Faschismus gefördert. Heute kann davon angesichts der jahrzehntelangen Prozesse der Globalisierung auch in Deutschland kaum noch die Rede sein. Deswegen bringt die neue deutsche Wut keine explizit faschistische Ästhetisierung mit sich, die inzwischen nur noch absurd wirkt und die auf die damalige "Ungleichzeitigkeit" - die nicht nur in Deutschland wirkte - zurückzuführen war.

Der heutige Faschist bezeichnet sich nicht selten als moderner Demokrat, der unbequeme Wahrheiten mutig ausspreche. Aus reinen Kostenerwägungen heraus wolle er gegen "Kostenfaktoren" der deutschen Leistungsgemeinschaft vorgehen, die erst wieder am Stammtisch als "Schmarotzer" und "Parasiten" bezeichnet werden (Die extremistische Gesellschaft).

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