Die Achillesferse Algeriens getroffen

Pipelines von Nordafrika nach Europa. Bild: Sémhur/CC-BY-SA-3.0

Die Gasförderung ist so bedeutsam, dass Algerien die Entscheidung überdenkt, Frankreich Überflugrechte zu gewähren

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Noch immer ist nicht völlig geklärt, wie viele Geiseln von radikalen Islamisten bei der Besetzung der Gas-Förderanlage in Algerien ermordet wurden (Mindestens 80 Menschen wurden getötet). Bestätigt hat der algerische Premierminister nun, dass 38 Geiseln und 29 Geiselnehmer getötet und drei verhaftet wurden, doch noch immer werden einige Personen vermisst. Klar ist, dass Algerien zwar weiter kompromisslos erklärt, man werde gegenüber den Dschihadisten nicht nachgeben, dabei überdenkt man aus eigenen Interessen in Algier längst die Entscheidung, Frankreich die Überflugrechte für das militärische Eingreifen in Mali zu gewähren. Das ist "eine Frage, die noch zu klären sein wird", sagte der Kommunikationsminister.

Vor allem im wirtschaftlich gebeutelten Spanien wurden mit Schrecken die Vorgänge in der algerischen Wüste verfolgt, obwohl keine Spanier unter den Geiseln waren. Doch das Land mit seiner großen Energieabhängigkeit bezieht fast 40% aller Gasimporte aus Algerien. Ein Ausfall hätte enorme Auswirkungen gehabt, da Spanien schon den Wegfall iranischer Ölexporte verkraften musste.

Seit langem wird dem Sonnen- und Windland deshalb empfohlen, in insgesamt billigere erneuerbare Energien zu investieren. Schließlich musste das schwer angeschlagene Land schon iranische Lieferungen durch teurere Lieferanten ersetzen. Ähnlich ist die Lage im schwer angeschlagenen Portugal, das große Gasmengen aus Algerien bezieht, und auch im gestressten Italien. Italien hing ebenfalls am iranischen Öl und bezieht gut 33% seines Gases aus Algerien. Auch Frankreich ist stark von Lieferungen aus dem Land im Maghreb abhängig. Algerien ist nach Russland und Norwegen der drittgrößte Gaslieferant Europas. 90% der algerischen Exporte fließen in den europäischen Markt, vor allem nach Südeuropa.

Die Reaktion der Internationalen Energie-Agentur (IEA) auf die Besetzung der bedeutsamen Gas-Förderanlage in Tiguentourine nahe In Amenas fiel entsprechend aus. "Die Entführung und Ermordung von Ausländern im Energiesektor in In Amenas wirft einen schwarzen Schatten auf den Energiesektor des Landes", erklärte die IEA am Freitag, nachdem die erste gewaltsame Befreiungsaktion am Vortag durch das algerische Militär tödlich scheiterte. Dass die Anlage seither kein Gas mehr fördert, soll den Betreibern täglich einen Verlust von 11 Millionen Dollar bescheren. Betrieben wird sie von Britisch Petrol (BP), der norwegischen Statoil und der staatlichen algerischen Sonatrach, die insgesamt 1,5 Milliarden Euro in die Anlage investiert haben.

Die Gruppe mit dem Namen "Unterzeichner mit Blut", die zu Al‑Qaida im Maghreb (AQMI) gehören soll, hat einen gezielten Angriff auf die Achillesferse Algeriens geführt. Fast 97 aller Exporte aus Algerien beruhen auf Gas und Öl und sie bilden die Hälfte der Wirtschaftsleistung des Landes. Tiguentourine ist dabei von herausragender Bedeutung für die algerischen Gas-Exporte. Denn die 2006 eingeweihte Anlage liefert normalerweise zwischen 70 bis 75 Millionen Kubikmetern Erdgas am Tag, die auf vier Gasfeldern gefördert werden. Hier werden 12% des algerischen Gases gefördert und die Anlage ist zu 18% an den gesamten algerischen Gasexporten beteiligt.

Das Gas wird über eine Pipeline nach Europa geleitet und die Lieferung fiel seit der Besetzung auf 60 bis 65 Millionen Kubikmeter. Die Pipeline trennt sich in Hassi R'Mel auf. Ein Strang führt in den algerischen Hafen Arzew und eine zweiter in den tunesischen Hafen El Haouaria. Von dort wird das Gas weiter nach Spanien und Italien transportiert. Die Anlage im Südosten des Landes liegt abgelegen in der Sahara etwa 1.300 Kilometer entfernt von der Hauptstadt Algier, 40 Kilometer entfernt von In Amenas und nur 60 Kilometer entfernt von Libyen. Über die Grenze sollen die Terroristen gekommen sein, hatte die algerische Regierung behauptet. Dort ist die Lage seit dem Sturz von Muammar al-Gaddafi 2011 instabil.

Der Angriff war ein klares Zeichen an Algerien

Die Islamisten haben klar gemacht, dass es sich um eine Vergeltungsaktion handelt. Das Land hatte der französischen Luftwaffe für das militärische Eingreifen im angrenzenden Mali Überflugrechte gewährt. Gedroht wurde mit der Ausweitung des Konflikts auf alle Länder, die die militärische Intervention Frankreichs unterstützten. Von Paris wird gefordert, den Militäreinsatz in Mali zu beenden.

Obwohl die Anlage nach der Erstürmung durch das Militär am Samstag wieder unter Kontrolle ist, ist die Botschaft der Islamisten angekommen. Der algerischen Regierung weiß um die Verletzlichkeit dieser und anderer Anlagen. Algier bekräftigt zwar eine scheinbar kompromisslose Haltung gegenüber den Islamisten, stellt aber nun die Überflugrechte wieder in Frage. So wiederholte der algerische Kommunikationsminister Mohamed Said Belaid zwar das Motto, man werde mit Terroristen nicht verhandeln und lasse sich nicht erpressen, aber er fügte auch an. "Die Sache mit den Überflugrechten ist eine Frage, die noch zu klären sein wird."

"Es wird auch dabei in erster Linie immer um die Wahrung der vornehmsten Interessen Algeriens gehen", sagte er und deutete in der zentralen Frage also sehr wohl an, nachgeben zu wollen. Schließlich, so betonte er, will Algerien "verhindern, dass der Krieg in Mali sich auf sein Staatsgebiet ausweitet". Das wird im Land als klares Zeichen an internationale Partner gewertet. Ob Firmen wie BP und Statoil weiter im Land investieren, wird bezweifelt, wenn sie mit der Zerstörung der Anlagen und mit massiven Geiselnahmen auch zukünftig rechnen müssen, weil sich ein in der Länge unabsehbarer französischer Feldzug auf Algerien ausweitet.

Algerische Informationspolitik lässt weiter Einiges im Dunklen

Dass Algerien keine Rücksicht auf die Geiseln genommen und das Vorgehen nicht mit den betroffenen Ländern abgestimmt hat, erschütterte das Vertrauen zusätzlich. Dazu kommt die unklare Informationspolitik. Noch immer ist nicht vollständig geklärt, wie viele ausländische Geiseln tatsächlich getötet wurden. Der algerische Ministerpräsident Abdelmalek Sellal hat nun Details genannt. Er behauptet, 37 ausländische Geiseln, ein Algerier und 29 Geiselnehmer seien getötet worden. Insgesamt sollen es über 80 Opfer sein, aber noch immer werden etliche Menschen vermisst. Die Täter sollen aus Algerien, Tunesien, Ägypten, Mauretanien, Mali, aber auch aus Kanada stammen und alle zu AQMI gehören. Die Gruppe soll der Algerier Mohamed el Amine Benchenab angeführt haben. Er sei dem algerischen Geheimdienst seit langem bekannt und soll am Samstag beim tödlichen Sturmangriff ums Leben gekommen sein, mit der das Geiseldrama beendet wurde. Nach Angaben von Sellal wurden insgesamt drei Dschihadisten verhaftet.

Ohne eine Zahl zu nennen, sprach Sellal von "zahlreichen Ausländern, die mit einem Kopfschuss umgebracht wurden". Dabei ist klar, dass ein Teil der ausländischen Geiseln schon am Donnerstag ums Leben kam, als algerische Hubschrauber fünf Fahrzeuge mit Raketen beschossen, in denen Geiseln abtransportiert werden sollten. Vier von fünf Wagen wurden nach Angaben von Augenzeugen vollständig zerstört, niemand soll überlebt haben, sagte ein Augenzeuge Stephen McFaul aus dem nordirischen Belfast. Da Geiseln wie er auch Sprengstoffgürtel trugen, hatten sie bei dem Beschuss kaum Überlebenschancen. Der Ingenieur konnte fliehen, weil sein Fahrzeug verunglückte, als es beschossen wurde. Dass die Geiseln Sprengstoffgürtel trugen, hat auch Sellal bestätigt. Die sieben verkohlten Leichen, die bisher noch nicht identifiziert werden konnten, gehören wohl zu diesen Wageninsassen, weshalb die Zahl getöteter Ausländer deutlich über 40 steigen dürfte.

Bisher vermisst wird unter anderem Tore Bech. Der 58-Jährige war der Statoil-Verantwortliche in Tigantourine. Es ist der Stiefvater von Heikki Holmaas, dem norwegischen Entwicklungshilfeminister. Aus seiner Facebook-Seite zeigte er sich tief bestürzt darüber, dass sein Stiefvater zu den Toten gerechnet wird. Die Mehrzahl der Opfer waren Japaner (7), gefolgt von Philippinern (6), Staatsbürgern aus Großbritannien (3) und auch die USA haben drei Opfer bestätigt. Der getötete Algerier war ein Sicherheitsbeamter, der gleich zu Beginn des Angriffs zusammen mit einem Briten erschossen wurde. Er habe mit "seinem Mut" Schlimmeres verhindert, weil er noch Alarm ausgelöst habe. Damit habe er Leben gerettet, sagte Sellal, da sich ausländische Arbeiter hätten verstecken können. Damit sei auch die Abschaltung der Anlage ermöglicht worden, wodurch ihre Zerstörung erschwert worden sei.