Die Aufmerksamkeitsstörung wird immer häufiger diagnostiziert

Entsprechend wächst die medikamentöse Behandlung, obgleich ADHS gerne auch mal falsch diagnostiziert wird oder Kinder, die Ritalin erhalten, keine ADHS-Symptome zeigen

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Die Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörungstörung (ADHS) wird vor allem bei Kindern und Jugendlichen mittlerweile inflationär diagnostiziert. In den 1990er Jahren setzte sich die Diagnose durch, die so gut zur Mediengesellschaft zu passen scheint, da steigender Medienkonsum und Multitasking die menschliche Aufmerksamkeit schwächen soll. Als dann die psychische Störung, deren Ursache umstritten ist, mit Ritalin (Methylphenidat) als angeblich viel versprechender medikamentöser Behandlung verbunden wurde, haben sich die Tore für die wachsende Bereitschaft, ADHS zu diagnostizieren, und die Verschreibung von Ritalin an Kinder, Jugendliche und Erwachsene geöffnet.

Dass ADHS zu oft und schlampig diagnostiziert wird, ist naheliegend und wird auch durch eine Studie von deutschen und schweizerischen Wissenschaftlern bestätigt. Entsprechend der Biologisierung von psychischen Störungen und der damit einhergehenden Medikalisierung explodierten in den westlichen Ländern die Verschreibung und der Konsum von Ritalin: Zwischen 1989 und 2001 stieg die Zahl der mit ADHS Diagnostizierten um 381 Prozent, die Ausgaben für die Medikamente haben sich von 1993 bis 2003 verneunfacht, schreiben die Wissenschaftler. Dabei geht es aber auch darum, wie die Gesellschaft Normen für das setzt, was sie an Bewegungsdrang und Konzentrationsfähigkeit durch Normierung pathologisiert bzw. für inakzeptabel hält oder an Anpassungsleistungen für das Verhalten erfordert. Als Hauptsymptome gelten Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität.

Nach dem Robert-Koch-Institut sollen in Deutschland um die 600.000 Kinder und Jugendliche in Deutschland an ADHS "leiden". Bei 4,9 Prozent der Kinder im Alter zwischen 3 und 17 Jahren von fast 15.000 Mädchen und Jungen der KiGGS-Studie wurde die Aufmerksamkeitsstörung diagnostiziert, weitere 4,8 Prozent standen unter Verdacht. Jungen wird mit 7,9 Prozent viermal häufiger die Störung zugeschrieben als Mädchen (1,8 Prozent). Am häufigsten werden 11-13-Jährige diagnostiziert, eher auch Kinder mit einem niedrigeren Sozialstatus. Nach Angaben der Techniker Krankenkasse werden allerdings nur 12 Prozent der mit ADHS verbundenen Kosten für Medikamente ausgegeben, 44 Prozent werden für Verhaltenstherapie und Heilmittel wie zum Beispiel Ergotherapie, für ambulante Behandlung 22 Prozent und stationäre Versorgung 21 Prozent ausgegeben.

Insgesamt belaufen sich die Ausgaben pro ADHS-Patient und Jahr auf 3.888 Euro. Der Vergleich zu einer alters- und geschlechtsgleichen Kontrollgruppe zeigt: Die Kassen geben für einen Patienten mit ADHS pro Jahr 2.902 Euro mehr aus als für ein Kind ohne die Diagnose.

In den USA ist die Bereitschaft noch größer, ADHS zu diagnostizieren. Sie gilt als die häufigste neurologisch bedingte Verhaltensstörung bei Kindern und Jugendlichen. Die Centers for Disease Control and Prevention (CDC) gehen davon aus, dass zwischen 4 und 12 Prozent der Kinder im schulfähigen Alter ADHS haben. In einer Studie aus dem letzten Jahr wurde festgestellt, dass die Mehrzahl der Kinder in South Carolina und Oklahoma, die ADHS-Medikamente erhalten, keine Symptome zeigen. Nur 39,5 bzw. 28,3 Prozent wurden danach richtig diagnostiziert, allerdings räumen die Wissenschaftler ein, dass einige der Kinder ohne ADHS-Symptome von diesen durch die Medikamente befreit worden sein könnten.

Dass ADHS immer häufiger diagnostiziert wird, ist auch das Ergebnis einer Studie von US-Wissenschaftlern, die in der Zeitschrift JAMA Pediatrics erschienen ist. Zwischen 2001 und 2010 stieg die Zahl der Erstdiagnosen bei Kindern im Alter von 5 bis 11 Jahren von 2,5 Prozent auf 3,1 Prozent an, das ist ein Zuwachs um 24 Prozent. Der Studie zugrunde liegt eine Auswertung der Daten von 850.000 Kindern, die über die Krankenversicherung Kaiser Permanente Southern California behandelt wurden. 4,9 Prozent erhielten die Diagnose ADHS, am ehesten weiße und schwarze Kinder.

Während bei den weißen Kindern die Zahl der Diagnosen in dem Jahrzehnt um 30 Prozent gestiegen ist, ist sie bei den schwarzen Kindern - vor allem bei den Mädchen - um 70 Prozent und bei Kindern lateinamerikanischer Abstammung um 70 gestiegen. Kinder asiatischer Herkunft scheinen demnach von ADHS mit 1,2 Prozent wenig betroffen zu sein, es waren auch keine Zuwächse bei der Diagnostizierung von ADHS zu verzeichnen. In dieser Studie wurden Jungen dreimal häufiger als Mädchen mit ADHS diagnostiziert.

Für die Wissenschaftler spricht dies dafür, dass auf die Bereitschaft, ADHS zu diagnostizieren, eine Vielzahl von Faktoren einwirkt. Nicht zuletzt weisen sie auf kulturelle Faktoren hin. Bei Kindern aus Familien, die mehr als 30.000 US-Dollar verdienen, war die Wahrscheinlichkeit, die Diagnose zu erhalten, um 20 Prozent höher als bei solchen aus Familien, die weniger als 30.000 US-Dollar verdienten. Ist man arm, wird man nicht nur die Kosten einer Behandlung scheuen, die Kindern können in den USA auch nicht auf die "besseren" Schulen gehen und die Bereitschaft, die mit der ADHS verbundenen Symptome als Krankheit zu sehen, die behandelt werden muss, könnte auch nicht so hoch sein wie bei Eltern aus der Mittelschicht, die sich um die Karriere ihrer Kinder stärker kümmern. Dazu kommt, dass Eltern ebenso wie Ärzte eher auf die Symptome achten, je mehr Informationen über die Aufmerksamkeitsstörung zirkulieren. Und je stärker sich die Aufmerksamkeit auf die Symptome richtet, desto eher vermutet man eine Störung dahinter, was die Häufigkeit auch durch nicht begründete Diagnosen ansteigen lässt.

Insofern könnte ein Teil der Epidemie der Aufmerksamkeitsdefizitstörung, selbst wenn diese genetisch oder durch Umweltfaktoren wie Blei bedingt sein sollte, neben dem angeblichen Vorhandensein einer wirksamen medikamentösen Behandlung eben auch in einer Aufmerksamkeitsstörung bei Eltern und Ärzten begründet sein. Dazu dürfte kommen, dass Medienkonsum und schulische Anforderungen nicht mehr notwendig wie in den Zeiten der Gutenberg-Galaxis von Lesen, Schreiben, Rechnen und Erinnern einander nicht mehr fördern, sondern unterschiedliche kognitive Anforderungen stellen. Zudem sollen mehr Kinder eine höhere Schulbildung erhalten, was auch den Blick auf Kinder schärfen dürfte, die (zeitweise) Schwierigkeiten haben, die damit verbundenen Normen für Verhalten und Lernen einzuhalten.