Wissenschaftliche Flaggschiffe für Wachstum

EU entscheidet über zukunftsweisende wissenschaftliche Großprojekte: eine Milliarde für Simulation des Gehirns und Entwicklung von Graphen

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Offiziell ist es noch nicht, aber die EU hat wohl entschieden, welche Großprojekte sie als FET-Flagships (Future & Emerging Technologies) mit rund einer Milliarde Euro fördern will: Das Human Brain Project und das Graphene Flagship.

Das hier vor kurzem vorgestellte Projekt FuturICT (Simulation der Zukunft) ist ausgeschieden, ebenso Robot Companions, Future of Medicine und Guardian Angels. Von den Siegern erhofft sich die EU Impulse für das erlahmende Wirtschaftswachstum.

Die FET-Flagship-Fördergelder klingen nach mehr, als sie sind. Die 1.000.000.000 Euro, mit der die EU zwei Forschungsprojekte unterstützt, verteilen sich auf jeweils zehn Jahre und werden gießkannenartig auf unzählige Institute überall in Europa verteilt. Nach einer etwa anderthalbjährigen Pilotphase, in der sechs Projekte gefördert wurden, hat die EU nun zwei davon ausgewählt. Die Entscheidung soll am Montag offiziell verkündet werden, doch die Info ist schon früher nach außen geflossen: Zu Flagships werden das Human Brain Project und Graphene Flagship ernannt.

Aus dem Projektvideo von Human Brain Project

Das Human Brain Project will das gesamte menschliche Gehirn, Neuron für Neuron, auf Supercomputern simulieren. Darüber hat bereits Prof. Diesmann vom Forschungszentrum Jülich - wo das digitale Gehirn gebaut werden soll - ausführlich in einem Telepolis-Interview berichtet ("Das Gehirn ist ein Objekt endlicher Größe, man kann alles darüber rauskriegen").

Das Human Brain Project fuhr vielfache Kritik ein. Beispielsweise wurde gesagt, eine Simulation könne so wenig erklären, was Bewusstsein ist und wie dieses zustande kommt, wie man aus der Hardware eines Computers erkennen könne, was auf dem Bildschirm passiert. Der Einwand ist grundsätzlich berechtigt, schießt aber an der Sache vorbei. Denn die EU interessiert sich nicht für philosophische Erkenntnisse, sie erwartet von den FET-Flagships technologische Innovation und Wirtschaftswachstum. Eben Geld. Wenn die EU eine Milliarde Euro investiert, um Forschungsprojekte zehn Jahre lang zu unterstützen, möchte sie mehr als die Antwort auf das Bewusstseinsrätsel. Sie möchte handfeste Vorteile.

Karte des Gehirns

Vom Human Brain Project erhofft man sich Impulse für die Computer- und Pharmaindustrie. Bekanntlich ist das menschliche Gehirn ein technologisches Wunder. Je nach Aufgabe ist es viel schneller als die besten Supercomputer, verbraucht aber kaum mehr Strom als eine Glühbirne. Nichts auf dieser Erde wandelt Energie so effizient in Rechenleistung um wie das Gehirn. Wer versteht, wie es funktioniert, kann vielleicht selbst Computer bauen, die genauso effizient sind. "Der Rechner, auf dem man das Gehirn simuliert, wird dem Gehirn schon immer ähnlicher, und das ist kein Zufall. ", sagte Diesmann.

Aus dem Projektvideo von Human Brain Project

Zugleich verspricht das Human Brain Project einen Quantensprung in den Neurowissenschaften. Man weiß bisher viel darüber, wie ein Neuron funktioniert und wie das Gehirn als Ganzes organisiert ist; aber man weiß wenig darüber, was dazwischen passiert. Und das gilt manchen Hirnforschern als das Wesentliche. Wenn man die experimentell gewonnene Datenflut in einer Simulation zusammenführt, versteht man vielleicht, wie das Gehirn verkabelt ist.

Das könnte Europa an die Spitze bei der Suche nach dem Connecticum setzen, der Karte des Gehirns, die als heiliger Gral der Neurowissenschaftler gilt. Zudem ist eine Simulation eine Art Labor auf der Festplatte, und das hat ganz pragmatische Vorzüge: Mediziner können Krankheiten wie Demenz oder Schizophrenie sowie die Wirksamkeit von Psychopharmaka untersuchen, ohne zeitraubende und ethisch umstrittene Experimente durchzuführen.

Härter als Diamant, leitfähiger als Silizium, unglaublich leicht

Angesichts all der großen Projekte unter den Flagships - den Robotern, der Weltsimulation, der Gehirnsimulation - klingt der zweite Sieger geradezu banal. Graphen. Ein Projekt der Materialforschung. Aber vermutlich hat diese Bodenständigkeit den Ausschlag gegeben. Die EU will nicht, dass Science Fiction zu Wirklichkeit wird, die EU will, dass die Wirtschaft brummt. Und wenn man keine eigenen Rohstoffe hat (oder sie nicht abbauen möchte), dann schafft man neue Rohstoffe. Am besten ein Supermaterial wie Graphen: eine Kohlenstoffschicht, nur ein Atom dick. Härter als Diamant, leitfähiger als Silizium, unglaublich leicht, transparent.

Die experimentelle Herstellung von Graphen gelang erstmals Anfang des Jahrtausends, 2010 erhielten zwei Graphen-Forscher den Physiknobelpreis, für 2014 veranschlagt Samsung die Markteinführung der ersten auf Graphen beruhenden Produkte. Superschnelle Prozessoren, Biosensoren, Superkondensatoren als Stromspeicher, transparente Elektrobauteile, superleichte Teile für Autos und Flugzeuge - Graphen bietet viel, ohne einen Paradigmenwechsel herbeizubeschwören.

Unter Wissenschaftlern gilt die Graphen-Revolution als sicher, vielleicht vergleichbar mit der Stahl- Plastik- oder Siliziumrevolution. "Graphen ist die überraschendste und vielfältigste Substanz, die der Menschheit zur Verfügung steht", schreiben die Wissenschaftler von Graphene Flagship. Das Projekt "stellt sicher, dass Europa eine Hauptrolle in diesem radikalen technologischen Wandel der kommenden zehn Jahre spielt".

Das Flagship-Programm bündelt Universitäten, Forschungszentren und Unternehmen, das Ziel ist es, die vielen Forschungsergebnisse und Patente in die Industrie zu bringen. Das will sich die EU nicht entgehen lassen.