Aufschrei, Sexismus und die Krise der Männlichkeit

In den letzten Tagen ging ein #Aufschrei über Twitter in die Massenmedien, gegen Sexismus von Politikern und anderen Männern. Und was machen wir jetzt?

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Der weithin als unangenehm empfundene "Sexismus" zählt im Moment zu den meistgehörten Stichworten im Medien-Bingo, keine Talkshow ohne Vertreter "beider Seiten", selbst brave Provinzzeitungen füllen ganze Artikelstrecken kommentarlos mit Tweets fremder Leute (ach, doch kein Leistungsschutzrecht?), die Situation ist unübersichtlich.

Was soll man jetzt denken, tun, sagen, ohne sich in das Minenfeld feministischer, post-feministischer, maskulinistischer oder egalistischer Grabenkampfkommandos zu begeben? Glücklicherweise ist nicht alle Hoffnung verloren. Wir können ja auf eine jahrtausendelange Tradition des geistigen Einen-Fuß-vor-den-anderen-Setzens zurückgreifen, was schon früher zu schlüssigen Ergebnissen geführt hat. Einen Versuch ist es wert, nicht wahr?

Wahlkampfinstrument Sexismus

Eigentlich begann die Diskussion schon in der Wahlkampfzielgeraden zur Landtagswahl Niedersachsen. Annett Meiritz schrieb auf Spiegel Online: "Wie ich die Frauenfeindlichkeit der Piratenpartei kennenlernte".

Sie hatte erlebt, dass auf der blauen Alternative zur X-Box-Live-Plattform Mitglieder der Piratenpartei Mutmaßungen angestellt hätten, sie "hätte was" mit einem Abgeordneten der erwähnten Politkongregation. Zudem wäre in abwertendem Ton über sie gesprochen worden. Damals war sich der Mob auf der Straße schnell mit den Chefredaktionsetagen einig: Piraten sind Sexisten, Nerds auch. Ein Glück! Es waren wieder "die Anderen" und man selber konnte weitermachen wie bisher.

Weiße ältere Männer

Bis dann, nach der Schicksalswahl im Norden mit hauchdünnen Erdrutsch und anschließendem Personalrestrukturierungsbedarf beim Topmanagement der abgewählten Freien Leihstimmen Partei ein Vertreter des pragmatischen Wirtschaftsflügels in eine hervorgehobene Position verabredet wurde: Rainer Brüderle. Dieser allerdings hatte - mutmaßlich nicht zum ersten und einzigen Mal - vor einem Jahr gegenüber einer jungen Journalistin ein Verhalten an den Tag (oder besser: Abend) gelegt, das man in einfachen Worten wohl als unangemessen oder schmierig bezeichnen möchte. Plumpe Anmache in Wort und Handkuss (in Süddeutschland würde man pittoresker von "abschluzen" sprechen).

Unterschied zum ersten Beispiel: Es wurde der Journalistin nicht etwa von Dritten ein Verhältnis mit erwähntem Altpolitiker unterstellt, sondern von ebendiesem schmierige Anbagger-Andeutungen unterbreitet. Erstreaktion hier übrigens nicht: "Ach ja, die Gelben sind doch alle Sexisten", sondern: "Die will sich doch nur wichtig machen."

Das Tweetometer

Dass die heiße Story dem Stern erst nach dem Aufstieg des alternden Möchtegern-Charmeurs in die erste Riege der Leihstimmendemokraten publikationswert erschien, wirft allerdings ein hartes, grelles, wenig schmeichelhaftes Licht auf die Leitmedieneignung der Illustrierten.

Dennoch genügte dieser Tropfen im Angesicht eines längst übergelaufenen Fasses voller Sexismus, Misogynie, Benachteiligung und Gewalterfahrungen, dass es im empfindlichsten Seismometer der aktuellen Medienlandschaft (auch hier: Twitter) zu nach oben offenen Empörungs-Ausschlägen unter dem hashtag #aufschrei kam. Tausende von Situationsbeschreibungen von Frauen, die sexueller Nötigung, Gewalt oder Diskriminierung ausgesetzt waren, dazu ein paar männliche Tweets, zu gleichen Teilen unterstützend und verständnislos.

Die unnötige Metadebatte

Die Massenmedien tun, was Massenmedien tun müssen: Sie berichten und relativieren. Dass die Chefriege der Liberalen in familiärer Geschlossenheit hinter ihrem Brüderle stünde, dass die lebendige Sexismusdiskussion doch eine "ins Kraut wachsende Tugendwächterei" darstelle, dass Männer nun mal so seien.

Interessanterweise wird diskutiert, ob die Diskussion denn sinnvoll sei, nicht aber, was es mit ihren Ursachen auf sich habe. Was man gegen Diskriminierung unternehmen könne. Ob unsere Gesellschaft nicht etwa einem Weiterentwicklungsgebot unterläge.

Der Mann im Mann

Nun ist es doch wohl unbezweifelbar so, dass durch die industrielle und noch mehr die informationelle Revolution das Bild des Mannes sich selbst entfremdet wurde, oder? Wann kann denn ein Mann noch ein Mann sein, also... männlich und überlegen und stark und erfolgreich? Bei Frauen, und sonst auch so... Kurze Nachfrage: Was ist das genau für ein Männerbild, wo kommt das her? Oder tiefer (a.k.a. schmerzhafter) bohrend: Wann hat das allgemein bekannte und beliebte Männerbild eigentlich jemals in ein schlüssiges Begründungsszenario für das Ausüben von Gewalt und/oder Diskriminierung geführt?

Hier muss sich doch allen Freunden der Logik ein mulmiges Gefühl aufdrängen: Wo ist denn bitte der Zusammenhang zwischen männlichem Selbstwert-, ja bis hin zu subjektiv empfundenem Überlegenheitsgefühl und dessen Missbrauch Frauen, Kindern oder anderen, als "schwächer" empfundenen Männern gegenüber? Ausgehend davon, dass sowohl der Verhaltenskanon der bürgerlichen Ära als auch zurückliegenderer Zeiten klare Handlungsrichtlinien wie "Benehmen", "Ehre" oder "Tugend" aufstellen, kollidieren alle Aktivitäten oder Äußerungen, die Dritte (also in der Regel Frauen und Kinder) in unangenehme, wenn nicht gar kriminalrelevante Situationen bringen, mit dem Ideal von Männlichkeit: freie Entscheidung, Unabhängigkeit, Überlegenheit auch gegenüber den eigenen Schwächen.

Und wenn wir jetzt mit dazurechnen, dass die industrielle/post-industrielle Arbeits- und Lebenswelt so gut wie keinen Raum zur Entfaltung von epischen Männlichkeitsphantasien lässt, sondern täglich Unterordnung, Anpassung und Selbstverleugnung fordert (unter Androhung massiver Sanktionen), haben wir eine echte Lose-Lose-Situation. Schüttet man noch ein paar Gläser oder Flaschen der wichtigsten systemstabilisierenden Droge (Alkohol) mit hinein, geht die Wahrscheinlichkeit von männlichem Fehlverhalten gegen Eins.

Aus der Traum

Um aus dieser Sackgasse gesellschaftlicher Evolution wieder herauszukommen, müssen wir, auch wenn wir das nicht wollen, akzeptieren, dass das Ideal der Männlichkeit ebenso in der Vermarktungsfalle hängengeblieben ist wie das der Weiblichkeit. Ja, beides.

Ein erfolgreiches, selbstbestimmtes Leben lässt sich nicht konsumieren oder durch scheinbare, kleine Alltagssiege substituieren. Und vor allem sind weder das Ideal noch irgendein Derivat davon als Begründung für Fehlverhalten geeignet. "Ich hab das getan, weil Männer eben so sind", gilt spätestens nach dem Durchlesen dieses Artikels nicht mehr (in Wirklichkeit aber schon sehr viel länger). Die maskuline Selbstbildprojektion enthält, wie wir uns während der letzten Minuten schon gedacht haben, mehr importierte Bilder als ein durchschnittliches Katzenblog.

Die in unserer Gesellschaft allgemein akzeptierte Kompromissversion von Männlichkeit ist, um in den Worten des großen Vorsitzenden Mao-Zedong zu sprechen, ein Papiertiger (der passt hier ganz besonders gut). Weder Autos noch Boote noch "erfolgreiche" Vergewaltigungen (also solche ohne juristische Folgen) sind Zeichen von Männlichkeit, eher Zeichen ihrer Abwesenheit. Ebenso wenig wie die ikonisierten Eigenschaften der Weiblichkeit über eine technisch bedingte Nachweisgrenze hinaus auch nur das Geringste mit Weiblichkeit zu tun hätten.

Keine Burka für niemand

Ab hier fällt das gesamte Begründungsszenario der Rollenverteidiger beiderlei Geschlechts (es gibt auch Frauen, die das glauben) in sich zusammen. Deswegen werden zwar trotzdem auch morgen wieder Frauen (und Kinder, sehr selten Männer) belästigt, benachteiligt, genötigt, angegriffen, vergewaltigt und getötet. In der Regel von Männern. Der Verweis auf Männlichkeit als tolle Ausrede für soziopathisches Verhalten fällt dann allerdings weg, und es bleibt die kriminelle, oder zumindest diskriminierende Handlung übrig.

Sobald wir das trennen können, haben wir einen wahrnehmbaren Schritt der gesellschaftlichen Weiterentwicklung geschafft. Für den Weg dorthin wären aber noch ein paar #Aufschrei-Tweet-Wellen sicher nützlich.