Transzendenz und Staunen über "wirklich coole wissenschaftliche Beiträge"

Valerie Tarico propagiert das langfristige Verschwinden der Religion durch das Internet

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Stirbt die Religion aus? Werden wir dank Internet so aufgeklärt, dass wir keine Religion mehr suchen? Schenkt uns das WWW so viele Kontakte zu anderen Menschen, dass wir keine religiösen Gemeinschaften mehr brauchen? Oder entsteht vielleicht ein neuer Glaube, ein anderes Gottesbild? Vielleicht stimmt alles. Vielleicht überlebt die traditionelle Religion das Internet nicht – dies stellt Valerie Tarico in einem Essay zu Diskussion, den sie auf Alternet und auf Salon.com veröffentlicht hat.

Tarico ist Psychologin und Autorin, sie hat an der evangelikalen Kaderschmiede Wheaton College studiert und eine Kinderklinik geleitet. Sie war eine christliche Fundamentalistin und verließ diese Art des Glaubens. Sie schrieb darüber ein Buch und gründete Wisdom Commons, eine „interaktive Bibliothek von Zitaten, Geschichten, Sprichwörtern und Gedichten, die den gemeinsamen moralischen Kern der Menschheit aufblättern“.

Traditionelle Religionen verlieren Mitglieder. Das sagen nicht nur Autoren und Wissenschaftler wie Tarico – sie bezieht sich auf eine Befragung des Meinungsforschungsinstituts Pew Research Center - oder auch Franz Winter. Auch Künstler spüren diese Entwicklung: „Die Religionen werden immer unwichtiger“, zitiert Antonia Baum Tom Wolfe in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.1 Religiöse Diskussionen scheinen weniger zu werden. In den Medien geht es darum, ob Priester Kinder missbrauchen und wie die Kirche damit umgeht - aber wer diskutiert heutzutage noch Dogmen oder Glaubensinhalte?

Tarico beobachtet die Wächter der traditionellen Religionen dabei, wie diese, salopp gesagt, um ihre Marktanteile kämpfen. Dies geschieht auch mithilfe aufwendiger Internet-Kampagnen – aber gerade das Internet, so Tarico, sei „die größte Bedrohung, welcher die organisierte Religion jemals gegenüberstand.“

Warum? Eine traditionelle Religion, die auf Glaubenssätzen aufgebaut ist, verlange ein geschlossenes Informationssystem. Informationen von außen würden von den Adepten ferngehalten; Tarico gebraucht dafür ein Bild von zwei Mauern, welche die Gläubigen einschließen: Eine innere Mauer aus Überzeugungen, Angst, Ekel und Empörung blockieren Neugier und Wissbegier. Und eine äußere Mauer aus Verhaltensweisen isoliert die Gläubigen von Widersprüchen und von Ketzern, die sie auf gefährliche Ideen bringen könnten. Der freie Informationsfluss im Internet sei, so Tarico, „sehr sehr schlecht“ für das Produkt, das die Religionen verkauften.

Besonders einige Inhalte des WWW, so Tarico, ließen den Religionen ihrer Ansicht nach die Haare zu Berge stehen, Tarico nennt sie: Wirklich coole wissenschaftliche Beiträge – diese nämlich würden quasi-religiöse Gefühle wecken, wie Transzendenz oder Staunen. Sodann Aufzählungen lächerlicher Glaubensinhalte und schlechter Seiten von Religion, außerdem Unterstützergruppen für Religions-Aussteiger, ferner die zur Schau gestellte Möglichkeit, ungläubig und dennoch gut und glücklich zu sein, und schließlich die gegenseitige Akzeptanz unter verschiedenen Gemeinschaften – eine Versicherung für Gläubige, dass sie mit ihrem Glauben nicht automatisch die Moral verlieren und schlechte Menschen werden müssen.

Die Kraft des interspirituellen Dialogs, so Tarico, bewege sich insofern analog zur weiteren Kraft des Webs, weil es sich im Grunde bei beidem, bei der Religion sowie beim Web, darum drehe, dass Menschen ein gemeinsames Fundament fänden, Informationen austauschten und Mauern durchbrächen, um draußen eine größere Gemeinschaft zu finden. Für diese These führt Tarico das Beispiel von Jim Gilliam an: Der ehemalige Fundamentalist habe dank der Kraft des Internets und der Wissenschaft zwei Krebsattacken überlebt – eine Knochenmarkstransplantation und eine doppelte Lungentransplantation retteten ihm das Leben und sie seien unter anderem mithilfe der social media organisiert worden. Gilliam hat darüber einen Vortrag veröffentlicht: The Internet is My Religion. Darin beschreibt er seine Erfahrung: Hierbei habe er wahrhaft Gott gefunden. Wenn Menschen sich miteinander in Menschlichkeit verbinden würden: Das sei Gott.

Und genau deswegen, wegen solcher Erfahrungen, hätten sich orthodoxe traditionelle Religionen Sorgen zu machen, so Tarico. Im Internet findet man Transzendenz, Aufklärung, und Unterstützung durch Andere – man kann sich anderen Menschen verbünden.

Taricos Gottesbild ist nicht das einer Person, eines persönlichen Gottes, sondern das von Kraft, Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit. Sie sucht keinen gütigen oder gnädigen Allmächtigen, sondern die Werte, die den Menschen gemeinsam sind, Humanismus. Und solche Werte findet sie auch, man betrachte nur ihre eingangs genannte Website Wisdom Commons.

In der Tat: Wer Aufklärung sucht, findet sie heutzutage, im Informationszeitalter, leichter. Aber auch wer das Gegenteil sucht, findet es heutzutage leichter: Auch wer sich im Internet auf die Suche nach Filmen, Texten, Thesen und Menschen zur Unterstützung seines Fundamentalismus macht, wird fündig.

Aber wird Religion am Internet zugrunde gehen? Tritt Aufklärung und Gemeinschaft der Freien an die Stelle der Religion, genauer: der traditionellen, orthodoxen Religion mit einem festen Gefüge von Glaubenssätzen?

Mithilfe des Internets kann man sich ja auch über Drogen informieren – und dann, je nach Charakter, Risikobereitschaft und Neugier Drogen online bestellen oder einen warnenden Text vor ihnen ins Netz stellen.

Ein wichtiger Punkt ist: Die Lust zu leben und die Bereitschaft zum Denken, diese beiden Voraussetzungen für eine gelungene Aufklärung, müssen aus einem selber kommen. Man braucht auch eine Ausbildung und die Fähigkeit, mit den Medien umzugehen. Dann kann es gelingen, dann kann das Internet helfen, Käfige aus Fundamentalismus zu überwinden. Aber wenn dies nicht gegeben ist, dann wird eine digitale Zweiklassengesellschaft zementiert.

Tarico glaubt an die Fortentwicklung der Menschheit. Vielleicht hat sie recht. Hoffentlich.

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