Sachbücher des Monats: Februar 2013

Die Top Ten unter den Sachbüchern nebst einer persönlichen Empfehlung

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Jeden Monat neu präsentiert von der Süddeutschen Zeitung, dem Norddeutschen Rundfunk, Buchjournal, Börsenblatt und Telepolis. (Die Jury )

Kurt Bayertz

Der aufrechte Gang

Eine Geschichte des anthropologischen Denkens

Was macht den Menschen zum Menschen? Was erhebt ihn - im wahrsten Sinne des Wortes - über alle anderen Lebewesen? Was beschert ihm seine Sonderstellung, Hochmut und Rückenprobleme inklusive? Bayertz hat das Denkmotiv des "aufrechten Ganges" durch zweieinhalbtausend Jahre Geistesgeschichte verfolgt, von Ovid, in dessen Schöpfungsgeschichte der "rohe, ausdruckslose Erdenkloß" durch seine Aufrichtung erst menschlich wird, über die "aufrecht kriechenden Maschinen" bei La Mettrie, die trotz all ihrer Bemühungen stets "nur Tiere" bleiben, bis hin zum Appell an den "aufrechten Gang" im November 1989 in der DDR. Die Körperhaltung bestimmt stark das menschliche Selbstbild und findet in der Politik bis heute ihren Ausdruck im "aufrechten" Menschen als Metapher und Symbol für ein würdiges Leben.

C. H. Beck Verlag, 415 Seiten, € 26,95

Roland Reuß

Ende der Hypnose

Vom Netz zum Buch

Dreißig Jahre nach dem Vordringen digitaler Technik ins Wohnzimmer leiden wir immer noch unter der kollektiven Hypnose, die Marshall McLuhan als erste Konsequenz der Heraufkunft eines neuen Mediums diagnostiziert hat. Wer sich ihr zu entwinden versucht und Kritik am fallout der Digitalisierung übt, wird schnell als konservativ denunziert - obwohl allein Kritik so etwas leisten könnte wie eine Überschreitung des Rahmens, der von den zunehmend monopolistischer agierenden Großkonzernen wie Google, Apple, Microsoft et al. vorgegeben wird. Deren Interessen spiegeln sich im manipulierten Bewußtsein einer zutiefst verunsicherten Öffentlichkeit, die sich mehr oder weniger bereitwillig über das Medium ausbeuten läßt. Das Einverständnis mit der immer mehr alle Kreativität erstickenden Entwicklung wird als "alternativlos" verstanden. Die Analysen von "Ende der Hypnose" wenden sich gegen die weitverbreitete Komplizenschaft mit den technokratischen Grundzügen des Zeitalters. Sie versuchen, einen nach vorne gewandten Begriff von Kritik zu gewinnen, der die Gegenwart an ihren eigenen Ansprüchen auf Freiheit, individuelle Entfaltung und Authentizität mißt.

Stroemfeld Verlag, 128 Seiten, € 12,80

Karl-Wilhelm Weeber

Hellas sei Dank!

Was Europa den Griechen schuldet - eine historische Abrechnung

In seinem neuen Buch rechnet Karl-Wilhelm Weeber ab - und zwar ganz im Sinne der Griechen. Denn sie waren es, die uns die Demokratie brachten, Philosophie lehrten und die Dichtkunst schenkten. Was ist schon der Euro gegen Sokrates, Alexander und Olympia? Gewohnt unterhaltsam und lehrreich zugleich erkundet Weeber die Antike und hält uns vor Augen, warum wir auch heute nicht ohne sie leben können. "Die Griechen wollen nur unser Geld", so könnte man die derzeitige Stimmung gegenüber den Nachkommen von Hellas auf den Punkt bringen. Dabei sind wir Europäer es, die in der Schuld Griechenlands stehen. Unsere Staatsform, die Art und Weise, wie wir denken, Medizin und Wissenschaft, jedes Theaterstück, die Kunst der Rede, wie wir Sport treiben, unsere Sprache, ja sogar unser Wissen von Liebe und Erotik - in allem steckt das Erbe von Sokrates & Co.

Siedler Verlag, 400 Seiten, € 22,99

Joseph Stiglitz

Der Preis der Ungleichheit

Wie die Spaltung der Gesellschaft unsere Zukunft bedroht

Die Ungleichheit in der Welt nimmt zu: Immer weniger Menschen häufen immer größeren Reichtum an, während die Zahl der Armen wächst und die Mittelschicht vom Abstieg bedroht ist. Doch diese Entwicklung, so zeigt Stiglitz, ist keine zwangsläufige Folge einer freien Marktwirtschaft, sondern Ergebnis einer globalisierten Ökonomie, die zunehmend vom reichsten einen Prozent der Bevölkerung beherrscht wird. Die Schere zwischen Arm und Reich wird größer, daran konnte auch die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise nichts ändern - im Gegenteil. Politik und Wirtschaft scheinen selbst in der Krise immer einseitiger den Interessen der Superreichen zu folgen, während es vielen Menschen zunehmend schlechter geht. Besonders drastisch lässt sich diese Entwicklung in den USA erkennen. Doch die wachsende Ungleichheit hat ihren Preis, wie Joseph Stiglitz in seinem neuen Buch zeigt. Sie behindert Wirtschaft und Wachstum, führt zu weniger Chancengerechtigkeit und korrumpiert Justiz und Politik. Deswegen ruft Stiglitz dazu auf, die zunehmende Ungleichheit in unseren Gesellschaften nicht einfach hinzunehmen, sondern Wirtschaft und Politik so zu reformieren, dass der Wohlstand wieder gerechter verteilt ist.

Übersetzt von Thorsten Schmidt, Siedler Verlag, 512 Seiten, € 24,99

Manfred Clauss

Mithras

Kult und Mysterium

Der Kult des Sonnengottes Mithras verbreitete sich seit der frühen Kaiserzeit im gesamten Imperium Romanum. Er versprach den Menschen Hilfe im Alltag und Erlösung nach dem Tod. Vor allem unter römischen Soldaten war die Religion sehr verbreitet die Zeugnisse dafür finden sich im gesamten Mittelmeerraum bis nach Gallien und Germanien hinein. Die Mithras-Verehrung stand lange Zeit in unmittelbarer Konkurrenz zum Christentum und wurde erst seit dem 4. Jahrhundert n. Chr. allmählich vom christlichen Glauben verdrängt. Im Mittelpunkt des Kultes stand die rituelle Tötung eines Stiers durch Mithras, die wir von zahlreichen Reliefs aus den Mithräen im gesamten Imperium kennen.

Verlag Philipp von Zabern, 224 Seiten, € 29,99

Harro Zimmermann

Friedrich Gentz

Die Erfindung der Realpolitik

Harro Zimmermann begibt sich auf die Spur einer schillernden Persönlichkeit des 19. Jahrhunderts. Er stellt Gentz in allen seinen Facetten vor: den staatsphilosophischen Theoretiker des moderaten Konservatismus, den antifranzösischen Publizisten, den Glücksspieler und Verführer von Theaterschönheiten, den altersmild gewordenen Sekretär Metternichs. Die lange überfällige neue Biographie einer zentralen Gestalt im Zeitalter des Wiener Kongresses! Zimmermann lässt die Epoche der Französischen Revolution und des Wiener Kongresses lebendig werden, wenn er seinen Helden an dessen Wirkungsstätten begleitet, die heißen Debatten für und wider Revolution und Napoleon erneut aufleben lässt oder nachspürt, mit wessen Hilfe Gentz seine immensen Spielschulden in letzter Minute begleichen konnte.

Ferdinand Schöningh Verlag, 344 Seiten, € 39,90

Robert Menasse

Der europäische Landbote

Die Wut der Bürger und der Friede Europas

Robert Menasse reist nach Brüssel und erlebt eine Überraschung nach der anderen: offene Türen und kompetente Informationen, eine schlanke Bürokratie, hochqualifizierte Beamte und funktionale Hierarchien. Kaum eines der verbreiteten Klischees vom verknöcherten Eurokraten trifft zu. Ganz im Gegenteil, es sind die nationalen Regierungen, die die Idee eines gemeinsamen Europa kurzsichtigen populistischen Winkelzügen unterordnen. Damit werden sie zu Auslösern schwerer politischer und wirtschaftlicher Krisen in der EU. Menasses Essay fordert nichts weniger als "die Erfindung einer neuen, einer nachnationalen Demokratie".

Zsolnay Verlag, 111 Seiten, € 12,50

Joachim Kaiser

Sprechen wir über Musik

Eine kleine Klassik-Kunde

Joachim Kaiser antwortet auf naheliegende, außergewöhnliche und auch unvermutete Fragen zur Klassik. Mit diesem Buch will Joachim Kaiser vor allem eines: Andere für den Zauber der Musik gewinnen. Wie deutsch klingt eigentlich deutsche Musik? Was störte Glenn Gould an Beethoven? Welche Bedeutung haben Pausen in einem Stück? Und wozu braucht man eigentlich Musikkritiker? Auf solche und viele weitere Fragen seiner Leser antwortet Kaiser in diesem Buch. Eine kleine Klassik-Kunde, die viel Wissenswertes vermittelt und zu einer tieferen Beschäftigung mit der Musik anregt.

Siedler Verlag, 176 Seiten, € 16,99

Jan-Werner Müller

Das demokratische Zeitalter

Eine politische Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert

Diese Studie des politischen Denkens in Europa setzt 1918 ein und reicht bis zum Zusammenbruch der kommunistischen bzw. realsozialistischen Staaten Osteuropas Ende der 1980er Jahre. In einer Mischung aus Geistes- und Kulturgeschichte, angereichert durch biografische Skizzen einflussreicher, heute zum Teil vergessener Denker aller Couleur, zeichnet Jan-Werner Müller nach, welche politischen Ideen und Köpfe das Zeitalter der ideologischen Extreme bis 1945 geformt und welche das Schicksal Europas danach maßgeblich bestimmt haben. Max Weber wird ebenso behandelt wie die Vordenker des Faschismus, die Frankfurter Schule und "1968" ebenso wie neokonservative Denkfabriken, etwa die Mont Pelerin Society. Dass sich die Christdemokratie als die prägende politische Strömung in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg erweist, gehört zu den spannendsten Erträgen dieses Buches, das mehr bietet als eine Ideengeschichte Europas im Zeitalter der Ideologien: Es liefert auch die Vorgeschichte des heute vieldiskutierten postdemokratischen Status quo, ohne die sich dieser nicht verstehen lässt. Übersetzt von Michael Adrian

Suhrkamp Verlag, 519 Seiten, € 39,95

Heinz Schilling

Martin Luther

Rebell in einer Zeit des Umbruchs

Kein anderer Deutscher hat die Geschichte Europas zwischen Mittelalter und Moderne stärker geprägt als er. Der Wittenberger Mönch Martin Luther bietet Kaiser, Papst und Kirche die Stirn, will die Universalreform der Christenheit, begründet aber den Protestantismus. Damit treibt er zugleich die Entstehung der Territorialstaaten mächtig voran und verhilft auch einem Verständnis des Individuums zum Durchbruch, das den modernen Menschen wesentlich ausmachen wird. Heinz Schilling stellt diesen welthistorischen Rebell in seine Zeit und zeigt eindrucksvoll das Andere und Fremde an ihm. Er schildert ihn nicht als einsamen Heros, sondern als Akteur in einem gewaltigen Ringen um die Religion und ihre Rolle in der Welt. Seine Biographie dringt tief in Luthers Sphäre ein und portraitiert den Reformator als schwierigen, widersprüchlichen Charakter, der kraft seines immensen Willens zwar die Welt verändert - in vielem aber auch ganz anders, als er es beabsichtigte.

C.H.Beck Verlag, 714 Seiten, € 29,95

Besondere Empfehlung des Monats Februar von René Aguigah:

Cornelia Vismann

Das Schöne am Recht

Erweitert um die Trauerreden von Friedrich Kittler und von Werner Hamacher

"Wie kommt es, daß die Leute die Gesetze befolgen und nicht vielmehr auf sie pfeifen? Diese Frage, nein, eher die Verblüffung über diesen weitverbreiteten Gesetzesgehorsam verleitet zum Thesenbilden. Doch lassen wir die Soziologenmär von der Akzeptanz als Erklärung aus dem Spiel. Auch der Hinweis auf die Vernunft der Gesetze verfängt wohl kaum. Bleibt, wie so oft, Max Weber. Von allen Erklärungsversuchen scheint der Weber'sche schon deswegen bedenkenswert, weil er die Frage umstellt. Nicht: wieso folgen die Leute den Gesetzen, sondern: wie stellen es die jeweils Herrschenden an, daß es sich so verhält?" (C.V.) Die Antrittsvorlesung Cornelia Vismanns vom 13. Juni 2007 wird von einem Gespräch begleitet, das Friedrich Kittler und Alexandra Kemmerer führten, und mit einem Nachruf von Friedrich Kittler beschlossen.

Merve Verlag, 61 Seiten, € 7,00

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.