China: Die Konflikte sollen kanalisiert werden

Yuet May Wong über die Veränderungen, die höhere Löhne und Arbeitskräftemangel auf dem Arbeitsmarkt in China mit sich bringen

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China wird in der europäischen Öffentlichkeit meist immer noch als ein Land wahrgenommen, dessen Wirtschaft von niedrigsten Löhnen und Massenfertigung einfacher, arbeitsintensiver Konsumgüter geprägt ist, die oft auch aus der Montage importierter Halbprodukte besteht. Doch die Entwicklung ist längst weiter gegangen. Arbeitskräftemangel und eine Industriepolitik, die auf raschen technischen Fortschritt setzt, führen dazu, dass das Land einen immer größeren Teil der Wertschöpfungskette beherrscht.

Wolfgang Pomrehn fragte für Telepolis die Hongkonger Langzeit-Aktivistin Yuet May Wong, was diese Veränderungen für die chinesische Arbeiterklasse bedeuten. Wong arbeitet für die in Hongkong ansässige Nichtregierungsorganisation Globalization Monitor, die sich unter anderem für mehr Rechte für die chinesischen Arbeiter und einen besseren Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz engagiert. In den letzten Jahren hat sie zum Beispiel gefährliche Arbeitsbedingungen in der Batterieproduktion international bekannt gemacht.

Hongkong gehört seit 1997 zur Volksrepublik China hat aber eine autonom agierende Stadtregierung, eine eigene Währung, eine ultraliberale selbständige Wirtschaftspolitik, und seine Bürgerinnen und Bürger genießen im Vergleich zum großen Rest des Landes größere demokratische Freiheiten.

Yuet May Wong

Arbeitsintensive Textilfabriken waren in den 1980er und 1990er Jahren eine der Säulen der chinesischen Industrialisierung, und in Hongkongs Nachbarprovinz Guangdong waren sie besonders zahlreich vertreten. Nicht selten kamen ihre Besitzer aus der inzwischen autonomen Stadt, angelockt von Löhnen, die erheblich niedriger waren als in der Metropole an der Mündung des Perlflusses. Nun ist seit einigen Jahren die Rede davon, dass Chinas Küstenregionen zu teuer geworden sind und die Karawane in billigere Länder weiterzieht. Stimmt das?

Yuet May Wong: Ich bin mir nicht so sicher, ob wirklich so viele Fabriken aus China abgewandert sind. Es ist nicht so leicht, aussagefähige Daten zu bekommen. Aber es stimmt, dass in den letzten Jahren in China die Produktionskosten erheblich gestiegen sind. Das liegt nicht zuletzt an den Preisen für Rohmaterialien. Viele Fabrikbesitzer, nicht nur in der Textilbranche, sprechen daher davon, dass die Kosten in China zu hoch sind. Einige sind daher mit ihren Anlagen tatsächlich bereits in Länder wie Kambodscha oder Vietnam umgezogen, wo die Produktionskosten wesentlich niedriger sind.

Soweit wir wissen, bleiben jedoch die meisten Fabriken in China und werden nur ins Landesinnere oder in den chinesischen Westen verlagert. Dort sind die Bedingungen für sie wesentlich besser als an der Küste. Oft bekommen sie Steuerrabatte, außerdem helfen die lokalen Behörden bei der Suche nach Arbeitskräften. Im Perlfluss-Delta, das heißt, in der Region um Hongkong, und im Jangtse-Delta um Shanghai ist es seit 2003 für alle Industrien sehr schwer geworden Arbeiter für schlecht bezahlte Stellen anzuwerben.

Die Fluktuation ist in diesen Betrieben, verglichen mit den Verhältnissen, die wir aus Deutschland kennen, ziemlich hoch. Besonders nach dem Jahresurlaub zum chinesischen Neujahrsfest suchen sich viele Arbeiter eine neue Anstellung. Bedeutet die Verknappung der Ware Arbeitskraft in den Küstenprovinzen dass sich die Verhandlungsposition der Beschäftigten verbessert hat?

Yuet May Wong: Ja. Oft können Arbeitsplätze nicht besetzt werden. Von ein bis zwei Millionen offenen Stellen ist meist die Rede. Das hat dazu geführt, dass in den letzten Jahren die Löhne jährlich um zehn bis zwanzig Prozent gewachsen sind. Außer in den problematischen Jahren wie 2008, als die US-Finanzkrise auch in China spürbar wurde. 2011 sind zum Beispiel die gesetzlichen Mindestlöhne in den Provinzen und Metropolen um 15 bis 20 Prozent angehoben worden. 2012 wurden sie erneut um 13 bis 17 Prozent erhöht. In Hongkongs Nachbarstadt Shenzhen liegt der Mindestlohn nun bei 1500 Yuan (180,7 Euro) im Monat. Das reicht natürlich nicht zum Leben. Die meisten Fabrikarbeiter verdienen mehr. Aber der Mindestlohn ist so eine Art Maßstab für den Grundlohn. Zusätzlich werden in den Fabriken noch viele Überstunden geleistet. Dadurch kommen die Arbeiter dann auf deutlich höhere Löhne.

Die Arbeitsbedingungen sind besser geworden

Was bedeutet die verbesserte Verhandlungsposition in Bezug auf die Arbeitsbedingungen. Sie haben die vielen Überstunden erwähnt. Ist da eine Besserung in Sicht?

Yuet May Wong: Im Allgemeinen kann man sagen, dass die Arbeitsbedingungen besser werden. Das hat weniger damit zu tun, dass die Unternehmer ein Interesse hätten, die Situation zu verbessern. Vielmehr ist es der Druck der Arbeiter in zahlreichen kleineren und größeren Auseinandersetzungen, der zu Verbesserungen geführt hat.

Wie muss man sich das vorstellen? Gibt es regelrechte Tarifverhandlungen oder kommt es eher zu spontanen unorganisierten Protesten?

Yuet May Wong: In China gibt es noch immer kein Gesetz, das Tarifverhandlungen regeln würde, obwohl derzeit über einen Gesetzentwurf gesprochen wird. Was der regeln soll, würde ich aber noch nicht Tarifverhandlungen sondern eher kollektive Konsultationen nennen. Es werden Anhörungsrechte definiert, nichts, was mit dem europäischen Tarifrecht vergleichbar wäre.

Aber man kann sagen, dass in den letzten Jahren die Arbeiter faktisch mehr Macht bekommen haben. Wann immer es einen Konflikt mit einem Unternehmer gibt, wenn Löhne zurückgehalten werden oder ähnliches, tun sich die Arbeiter zusammen und gehen gemeinsam zum Chef, um ihm einen Streik anzudrohen. In vielen Fällen lenken die Unternehmer ein oder die lokalen Behörden vermitteln einen Kompromiss.

Der Gesetzentwurf reagiert auf diese Situation, aber zur Zeit ist er in der Schwebe. Unternehmerverbände, darunter auch ein Verband aus Hongkong, haben lautstark gegen die Stärkung der Arbeiterrechte protestiert.

Gab es nicht auch Einwände von der US-amerikanischen Handelskammer?

Yuet May Wong: Das war ein anderer Fall in 2008. Damals ging es um das Gesetz über Arbeitsverträge. Bis dahin hatten viele Arbeiter keinen schriftlichen Vertrag. Wenn es dann zu Problemen im Betrieb kam, hatten sie große Schwierigkeiten nachzuweisen, dass sie dort überhaupt angestellt sind. Das hat sich inzwischen geändert. Nun muss ein Fabrikbesitzer den doppelten Lohn zahlen, wenn er keinen Vertrag ausstellt. Also haben die meisten Arbeiter inzwischen einen.

Wie sieht es mit der Rechtspraxis aus? In früheren Jahren konnte man oft hören, dass die Gesetze in China für die Arbeiter gar nicht so schlecht aussehen. Das Problem sei aber, dass sie selten durchgesetzt werden, dass es schwierig ist, einen Richter zu finden, der im Sinne der Arbeiter entscheiden würde.

Yuet May Wong: Im Vergleich zu früher ist es heute besser. Aber in Falle von ökonomischen Konflikten kommt es immer noch sehr oft vor, dass sich lokale Behörden in die Gerichtsverhandlungen einmischen und Urteile beeinflussen. Doch es ist besser geworden. Das hat mit der Strategie der Zentralregierung zu tun. Die Gesetze sind als Reaktion auf die vielen Streiks und anderen Proteste geschaffen worden. Die Regierung will diese Auseinandersetzungen juristisch kanalisieren. Statt durch Streiks sollen die Konflikte vor Gericht ausgetragen werden. Deshalb gibt es heute mehr Arbeitsgerichtsprozesse, und Arbeiter haben heute eher eine Chance zu gewinnen.

Das hört sich alles ein bisschen danach an, dass sich die Arbeitsbeziehungen langsam den Verhältnissen in Europa angleichen, insbesondere in Deutschland, wo diese sehr reguliert und damit in gewisser Weise gezähmt sind.

Yuet May Wong: Es gibt ein ökonomisches Interesse, die Beziehungen zu kanalisieren und Streiks zu vermeiden. Deshalb überrascht die Entwicklung nicht besonders. In dem erwähnten Gesetzentwurf sollen den offiziellen Gewerkschaften, dem Allchinesischen Gewerkschaftsbund ACFTU, mehr Möglichkeiten eingeräumt werden, im Namen der Arbeiter zu agieren. Allerdings stoßen diese Pläne der Regierung auf viel Widerstand bei den Unternehmerverbänden, die nicht wollen, dass der ACFTU im Namen der Arbeiter verhandeln darf.

In diesem Zusammenhang war der große Streik in den chinesischen Honda-Werken 2010 sehr wichtig. Die Arbeiter hatten zwei Forderungen. Zum einen wollten sie eine kräftige Lohnerhöhung, zum anderen verlangten sie Neuwahlen ihrer Gewerkschaftsvertreter, also der örtlichen ACFTU-Funktionäre. Das hat die Regierung alarmiert, denn sie ist zwar bereit, ökonomische Zugeständnisse zu machen, aber politische Rechte für die Arbeiter, demokratische Gewerkschaftswahlen zum Beispiel, gefallen ihr gar nicht. Dennoch konnten die Honda-Arbeiter ihre Forderungen durchsetzen.

Gibt es eine Tendenz in der chinesischen Arbeiterklasse, um den ACFTU-Apparat zu kämpfen? Könnte sie ihn nicht für die eigenen Kämpfe zu nutzen?

Yuet May Wong: Nein, ich denke nicht. Die Mehrheit der Fabrikarbeiter sind Wanderarbeiter, und ich denke nicht, dass die stark genug sind, das durchzusetzen. Der ACFTU ist Teil des Regimes, insofern ist es logisch, dass die Regierung ihm eine größere Rolle in den Arbeitskonflikten einräumen will. Dabei spielt aber auch Kontrolle eine wichtige Rolle. Die Auseinandersetzungen sollen kanalisiert werden, damit sie nicht aus dem Ruder laufen.

Aber liegt es unter den gegebenen Bedingungen, in denen keine unabhängigen Gewerkschaften gegründet werden können, nicht nahe, seine Ziele im ACFTU zu verfolgen?

Yuet May Wong: Das Problem ist, dass der ACFTU keinerlei Glaubwürdigkeit besitzt. Es ist nicht mehr wie in den alten Tagen, als in den großen staatseigenen Betrieben die Arbeiter oft mit dem ACFTU ihre Rechte verteidigt haben. Heute, in der kapitalistischen Ära, mit der offenen Wirtschaft in China, sind die Erfahrungen der Wanderarbeiter ganz andere. Sie nehmen den ACFTU vor allem als eine Institution war, die dem Unternehmen dabei hilft, sie auszubeuten. Manchmal ist ihr Chef oder sein Stellvertreter zugleich auch der Leiter der ACFTU im Betrieb. Deshalb gehen die Arbeiter auch niemals zur Gewerkschaft, wenn sie ein Problem haben. Auch dann nicht, wenn es ACFTU-Strukturen im Betrieb gibt, was in der Privatwirtschaft längst nicht überall der Fall ist. Während des Honda-Streiks ist es sogar vorgekommen, dass Gewerkschaftsfunktionäre gewalttätig gegen die Arbeiter vorgingen. Das war der Grund dafür, dass die Arbeiter Neuwahlen forderten. Herausgekommen ist dabei allerdings nur, dass dieselben konservativen Funktionäre weiter im Amt sind.

Die neue Arbeiterklasse, die Wanderarbeiter, agieren spontan und haben kaum ein Klassenbewusstsein ausgebildet

Weil die Opposition zu schwach war?

Yuet May Wong: Die Opposition ist nicht organisiert und natürlich gibt es jede Menge Tricks, mit der das Wahlergebnis beeinflusst werden kann. Es gibt natürlich einige Gewerkschafter, die viel von der Verteidigung von Arbeiterrechten sprechen, insbesondere, wenn sie sich mit deutschen oder US-amerikanischen Aktivisten treffen, aber in der Praxis hat das kaum Auswirkungen.

Soweit ich weiß hat die ACFTU in den ersten Jahren der Volksrepublik noch eine unabhängige Politik betrieben. In den Betrieben soll seinerzeit eine recht kämpferische Stimmung geherrscht haben. Lässt sich diese Tradition nicht wiederbeleben?

Yuet May Wong: Ich glaube, das wird überschätzt. In jener Zeit waren die Betriebe im Staatsbesitz. Die Arbeiter waren sehr weitgehend abgesichert. Von der Wiege bis zum Grab, wie man so sagt. Dafür hatten sie aber keine politischen Rechte. Es gab nicht einmal eine freie Wahl des Arbeitsplatzes. Der wurde zugeteilt und manchmal sogar vom Vater an den Sohn vererbt. Ich glaube nicht, dass die alte Arbeiterklasse besonders militant war. Entsprechend hat es in den 1990er Jahren, als viele der staatseigenen Betriebe privatisiert wurden, auch nur wenig Widerstand gegeben. Hier und da gab es Proteste und Demonstrationen, aber eher wenig und wenig ausdauernd. Außerdem haben wir heute eine neue Arbeiterklasse, die sich aus der jungen Generation der Bauernfamilien rekrutiert. Die kennen einerseits, wenn sie in die Städte kommen, ihre Rechte nicht. Andererseits sind sie wegen der besonders schlechten Bedingungen, unter denen sie leben und arbeiten müssen, der militanteste Teil der Arbeiterklasse. Unter ihnen gibt es zahlreiche Streiks und Proteste, aber nicht besonders organisiert, alles sehr spontan. 2001 hat ACFTU auf einem Kongress beschlossen, Wanderarbeiter aufzunehmen. Das ist die Politik der Regierung in Beijing. Aber die Wanderarbeiter sehen in der AFCTU nicht ihre Vertretung. Die meisten sind bis heute keine Mitglieder. Manchmal führt der Betrieb einfach Mitgliedsbeiträge an die Gewerkschaft ab, und dann beklagen sich die Arbeiter über die Abzüge von ihren Löhnen von zwei Yuan (rund 24 Cent) pro Monat.

Es gibt unter den Wanderarbeitern, immerhin rund 200 Millionen Menschen, viel Militanz, wie Sie sagen. Gleichzeitig haben sie aber nicht die Möglichkeit, sich unabhängig von staatlicher Kontrolle zu organisieren. Gibt es unter diesen Bedingungen andere Möglichkeiten, Erfahrungen zu akkumulieren und politische Strategie zu debattieren?

Yuet May Wong: Es gibt einige kleine Gruppen, die versuchen, aus den Erfahrungen zu lernen, aber unter den Wanderarbeitern gibt es, glaube ich, sehr wenige entsprechende Diskussionen. Einer der Gründe dafür ist, dass es sich immer noch um eine sehr mobile Bevölkerungsgruppe handelt. Mal arbeiten sie hier, mal dort; mal im Jangtse-Delta in Shanghai oder dessen Umgebung, mal hier in Hongkongs Nachbarschaft im Perlfluss-Delta. Immer auf der Suche nach einem besser bezahlten Job.

Was bedeutet das für das Klassenbewusstsein? Gibt es unter den Wanderarbeitern überhaupt so etwas?

Yuet May Wong: Wir hatten da neulich erst eine Diskussion drüber. Alle Leute, die in China arbeiten erzählen, dass eine Vorstellung sehr weit verbreitet ist unter den Wanderarbeitern: Sie wollen ein paar Jahre hart arbeiten und dann ein kleines Geschäft eröffnen, oft zuhause in ihrem Heimatdorf oder -städtchen. Aber natürlich haben nicht viele damit Erfolg. Ich glaube also, dass das Klassenbewusstsein ziemlich schwach ist. Es hat zwar viele ökonomische Kämpfe in den letzten Jahren gegeben, aber die sind alles sehr spontan und haben meist keinen besonders guten Plan. Und es ist sehr selten, dass sich Arbeiter aus verschiedenen Betrieben zusammen setzen und eine gemeinsame Strategie ausarbeiten.

Die jungen "Wanderarbeiter" wollen in den Städten bleiben

Die Struktur der chinesischen Industrie verändert sich offensichtlich. Arbeitsintensive Betriebe, die nur eine geringe Qualifikation benötigen werden in die ländlicheren Regionen im Landesinneren verlegt oder verlassen ganz das Land, dafür gibt es mehr höher qualifizierte Arbeitsplätze zum Beispiel in der Elektronik- und Autoindustrie. Wie ist dort die Situation? Bestehen die Belegschaften auch dort noch aus Wanderarbeitern? Vielleicht aus Wanderarbeitern, die sich niederlassen?

Yuet May Wong: Ja, und das weist auf einen der Schlüsselkonflikte zwischen den Wanderarbeitern und der Regierung. In China gibt es seit den 1950er Jahren das sogenannte Haushaltssystem oder Houkou-System, das jedem seinen Wohnort zuweist, den er nicht dauerhaft ohne Genehmigung ändern darf. Für die Wanderarbeiter bedeutet das, dass sie sich nicht in den Städten richtig niederlassen können.

Aber es ist in letzter Zeit abgeschwächt worden.

Yuet May Wong: Ja, aber es existiert noch. Und es ist sehr nützlich für die Regierung. So kann sie nämlich jeden, von dem sie nicht will, dass er in der Stadt bleibt, zu jeder Zeit nach Hause schicken. Deshalb wollen sie das System nicht aufgeben. Nur diejenigen, die genug Geld haben, sich eine Wohnung in der Stadt zu kaufen, können ein Niederlassungsrecht beantragen. Aber wie kann sich ein Fabrikarbeiter so etwas leisten?

Die Hoffnung der Wanderarbeiter ist, dass dieses System endlich abgeschafft wird, sodass sie wie die Bürger in anderen Ländern sich überall niederlassen und eine Arbeit suchen können. Es gibt in diesem Zusammenhang eine interessante neue Entwicklung im Bewusstsein. Vor zehn oder fünfzehn Jahren war die Einstellung der meist jungen Wanderarbeiter, dass sie einige Jahre hart arbeiten, ihre Familie zuhause unterstützen und dann ins Heimatdorf zurückgehen. Die Ansprüche und Erwartungen der jungen Generation der Wanderarbeiter heute ist anders. Sie wollen in den Städten bleiben. Viele von ihnen haben nie auf dem Land, auf dem Hof der Eltern oder Großeltern gearbeitet.

Das ist ein enormer Widerspruch, denn das Gesetz sagt immer noch, dass sie auf dem Land leben müssen. Wenn sie also auffallen, als Unruhestifter gelten oder ähnliches, dann können die Behörden sie einfach aus der Stadt ausweisen. Das passiert nicht mehr so oft wie in der Vergangenheit, aber es kommt vor. Ein Beispiel: Im August 2011 gab es in Hongkongs Nachbarstadt Shenzhen eine große Sportveranstaltung, die World University Games. Im Vorfeld hat die Stadtverwaltung acht Kategorien von Leuten definiert, die aus der Stadt geworfen werden sollten und auch wurden, um diese zu "säubern", darunter Wanderarbeiter, die für ihre Rechte kämpften, Bettler, Dissidenten, Arbeitslose. Unter anderem wurde eine Gruppe von Arbeitern aus der Stadt geworfen, die sich um Entschädigungen im Falle von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten kümmerten.

Das ist übrigens auch einer der Gründe, weshalb Wanderarbeiter kein Interesse haben, sich an sozialen Sicherungssystemen zu beteiligen. Diese sind eher lokal organisiert und in ihren Heimatdörfern haben sie keine Möglichkeit, Ansprüche geltend zu machen. Deshalb nutzen sie jede Chance, sich auszahlen zu lassen, weil sie Angst haben müssen, dass sie ihr Geld nicht wieder bekommen.

Das hört sich danach an, als würden sich die Widersprüche zuspitzen.

Yuet May Wong: Ja. Das ist der Grund, weshalb die Regierung etwas tun muss. Der ACFTU soll mehr Macht bekommen, um zum einen einige der Probleme zu lösen und zum anderen die Konflikte zu kontrollieren und zu überwachen. Ob das auf Dauer gelingt, muss sich zeigen.